Frühlingszeit ist gleich Abiturzeit. „Zeit der Reife“, wie es wohl übersetzt heißt. Dabei ist momentan alles noch im Wachsen begriffen, wärmt sich unter der zaghaften Sonne, der „Osterspaziergang“ liegt ja noch gar nicht so lange zurück. Als wir vom Eise befreit wurden.

„Erarbeiten Sie … Legen Sie … dar … Überprüfen Sie … Interpretieren Sie …“ So lauten die Aufgabenstellungen für die gereiften Jugendlichen, welche nach der laufenden Prüfungszeit den Schritt ins richtige Leben wagen dürfen. Abiturprüfungszeit – keine Zeit des Wachsens, sondern eher eine des Wissens. Eine Phase der wachsenden Spannung unter permanentem Stress des Abrufens von Wissensbeständen, in der Hoffnung, Erwartungen und Erwartungsbildern gerecht zu werden und diese zu erfüllen.

Zwischenbemerkung: Die Schonzeit der Pandemie ist auch hier vorbei. Fast vergessen. So als hätte es in den letzten 3 Jahren kein Lernen auf Distanz, in erhöhter Eigenverantwortung und unter verengten familiären Verhältnissen gegeben.

Als wären die erst vor kurzem überwundenen Masken- und Selbstlernzeiten selbst schon entfernter Gegenstand des Geschichtsunterrichts – thematisch unter der Überschrift „Die Welt in Krisenzeiten der ersten Jahrzehnte im 21. Jahrhundert“ zusammengefasst. Wie ein Abschlusskapitel in der neuesten Auflage eines voluminösen Geschichtsbuches.

Lernen, lernen, nochmals lernen

„Lernen, lernen, nochmals lernen – in- und auswendig, seitenlang“ hört man die Abiturientinnen und Abiturienten stöhnen. Und – was sollen sie lernen? Versöhnlich-wohlmeinend gedacht sind es geistig-kulturelle Gegenstände und Phänomene, die zur „Schatzkammer“ der meist deutschen, bestenfalls europäischen, Zivilisationsgeschichte gehören.

Natürlich ist klar: Nur wer die Vergangenheit begreift, kann die Zukunft verstehen und meistern. Wissen kann und sollte anregen, die geistige Beweglichkeit zu fördern und damit wiederum Wachstum ermöglichen.

Allerdings durch „Stoffe“ und in Feldern transportiert (Literatur, Kunst, Politik …), die in der konventionellen Prüfungsanstalt meist eine Rückschauperspektive erfordern. In den Gesellschaftswissenschaften. In den Fächern Deutsch und Geschichte.

Normal, würde man meinen, schließlich muss alles abfragbar sein, wie will man sonst überprüfen, was (auswendig) gelernt werden soll. Nicht ganz falsch gedacht, sich geistiger Kulturgüter und der neueren Geschichte zu widmen und anzuerkennen lernen, wie schwer es ist, bahnbrechende Gedanken zu entwickeln.

Altmeister Goethe wusste schon „Alles Gescheite ist schon gedacht worden, man muss nur versuchen, es noch einmal zu denken.“ Klassische Diktion heranwachsender Wissenschaftler und Geistesgrößen. Abgesehen von der Tatsache, dass jedes zweite Kind ab dem 10./11. Lebensjahr eine Eliteschule – Gymnasien heißen die – besucht und sich somit die „höhere Lehranstalt“ zur allgemeinen Volksbildungsanstalt … wie sagt man das jetzt …?

Dennoch bleiben Fragen offen, auf welche Art und Weise Reife bescheinigt wird. Was am/zum Schluss gefragt wird. Mit welchen Erinnerungen die Schulzeit verbunden wird, ist wichtig, bestätigen mir immer wieder die „Ehemaligen“, wenn sie dir mit stolzen Augen erzählen, dass und was aus ihnen später geworden ist.

Nimmt man dann die unangenehme und anstrengende Prüfungszeit als Wermutstropfen, nein, Schuss saurer Zitrone in der Club-Mate-Flasche entsprechend aus der Fotoserie „Schulzeit“ heraus? Schreibt ihr dauerhaft das Attribut „notwendig“ plus Substantiv „Übel“ zu? Kann man so machen. Die Gedanken sind frei.

Niemals mit dem Gegebenen abfinden

Vom bereits genannten Goethe stammt auch die kluge Sentenz „Das Gleiche lässt uns in Ruhe, aber der Widerspruch ist es, der uns produktiv macht.“ Darauf hinweisend, sich niemals – oder höchst selten – mit dem Gegebenen abzufinden und unreflektiert zu übernehmen. Warum? Ja, um Produktivität zu entwickeln, um kreative Arbeit verrichten zu können.

Ganz gleich, wie und wo. Damit sie wirklichen Fortschritt unterstützt, braucht sie eine moralische Umgrenzung, die schützt und nicht angreift. Ich meine nicht zuerst die Weltrettung, nein, es ist die eigene Sicherheit, welche als Existenzgrundlage allzu große Bequemlichkeit in der Komfortzone des Konsumismus verhindert.

Goethe zum dritten. Der blickt über den berühmten Tellerrand des eigenen Stehen-Bleibens, über nach Sinn fragende Prüfungsabende (-nächte) hinaus, stellt ganz zuletzt immer die eigne Person zur Disposition („Mit dem Wissen wächst der Zweifel.“), betont den uns innewohnenden Drang zum unauffällig Besonderem, auf dem schmalen Grat zwischen Selbstbehauptung und Bescheidenheit.

Vielleicht um einmal jemand zu werden, „den die Welt ungern verlieren möchte“. (Schiller) Dann ist wirkliche „Reife-Zeit“. Eigene Nachhaltigkeit gewissermaßen. Ein immerwährendes Abitur.

Also Goethe zum Schluss. „Geh, gehorche meinen Winken“ (Cophtisches Lied)

Geh, gehorche meinen Winken,
Nutze deine jungen Tage, Lerne zeitig klüger sein:
Auf des Glückes großer Waage
Steht die Zunge selten ein;
Du musst steigen oder sinken,
Du musst herrschen und gewinnen,
Oder dienen und verlieren,
Leiden oder triumphieren,
Amboss oder Hammer sein.

(1796)

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