Man hatte ja die berechtigte Hoffnung haben dรผrfen, dass Sachsens Kultusminister Christian Piwarz โ anders als seine Amtsvorgรคnger/-innen โ verstehen wรผrde, dass es im sogenannten โBildungsmonitorโ der INSM nicht um Bildung geht. Aber er hat es auch nicht verstanden und lieร keine Stunde verstreichen, um am Mittwoch, 17. August, zu erklรคren: โDie Ergebnisse zeigen, Sachsen hat das leistungsfรคhigste Bildungssystem Deutschlands.โ
Dass das, was die wirtschaftsnahe Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) seit 18 Jahren als โBildungsmonitorโ verรถffentlicht, nichts mit Bildung zu tun hat, sieht jeder auf den ersten Blick, der auch nur die Eingangssรคtze zum entsprechenden Wikipedia-Artikel liest:
โBildung (von althochdeutsch bildunga โVorstellung, Vorstellungskraftโ) ist ein vielschichtiger, unterschiedlich definierter Begriff, den man im Kern als Maร fรผr die รbereinstimmung des persรถnlichen Wissens und Weltbildes eines Menschen mit der Wirklichkeit verstehen kann. Je hรถher die Bildung ist, desto grรถรer wird die Fรคhigkeit, Verstรคndnis fรผr Zusammenhรคnge zu entwickeln und wahre Erkenntnisse zu gewinnen.โ
Und auch dieser sehr deutliche Satz ist da zu lesen: โDer moderne, dynamische und ganzheitliche Bildungsbegriff steht fรผr den lebensbegleitenden Entwicklungsprozess des Menschen zu der Persรถnlichkeit, die er sein kann, aber noch nicht ist.โ
Gering gehaltene โRisikogruppenโ?
Aber was misst denn der Monitor der INSM รผberhaupt? Und was kann er messen? Bildung jedenfalls nicht.
Im Kosmos der INSM ist โBildungโ etwas vรถllig anderes: ein auf Effizienz getrimmter Produktionsprozess von Humankapitel. Alles ohne Gรคnsefรผรchen geschrieben, weil das im Kosmos des Neoliberalismus alles ernst gemeint ist. Und das ist auch der Grund, warum CDU-Bildungsminister nicht einmal verstehen, dass dieses Ranking etwas vรถllig anderes beschreibt als Bildungserfolge.
โUns gelingt es auรerdem, die Risikogruppen gering zu haltenโ, meinte Piwarz am Mittwoch. โWir dรผrfen nicht nachlassen, die Leistungsfรคhigkeit des sรคchsischen Bildungssystems weiter voranzutreiben. Dazu mรผssen wir die Chancengerechtigkeit im Blick behalten und die digitale Bildung weiter verbessern.โ
Auch โdigitale Bildungโ ist keine Bildung, sondern eine Floskel. Und vor allem ein Marktsegment. Denn um nichts anderes geht es der INSM, die sich den โBildungsmonitorโ ja vom wirtschaftsnahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW) hat erarbeiten lassen.
Und wirtschaftsnah heiรt hier: โTrรคgervereine sind die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbรคnde und der Bundesverband der Deutschen Industrieโ. Wobei man das Wort โVereinโ hier in Gรคnsefรผรchen setzen kann, denn gewรถhnliche Menschen haben hier gar keinen Zugang. Hier sitzen Manager zusammen, die ihr Wissen รผber die Welt und das Funktionieren einer Gesellschaft in der Regel an einer Business School gelernt haben.
Sie betrachten die Welt radikal aus der Perspektive eines Betriebswirtschaftlers. Und wenn sie das Schulsystem mit dieser Perspektive betrachten, wird daraus ein groรer Konzern, der Absolventen produziert โ mรถglichst schnell und mรถglichst effizient.
Ob diese Menschen dann รผberhaupt ein umfassendes Verstรคndnis fรผr Zusammenhรคnge der Welt haben, spielt dann keine Rolle.
Wenn Kultusminister nicht parieren
Der Geschรคftsfรผhrer der INSM, Hubertus Pellengahr, merkt nicht einmal, dass es genau diese Sichtweise ist, die im deutschen Bildungssystem fรผr viele Jugendliche in die Bildungskatastrophe mรผndet โ und zwar mit System und Ansage, auch wenn er meint, es fehle nur โEhrgeiz und Entschlossenheit bei vielen Mitgliedern der Kultusministerkonferenzโ.
โIn fast der Hรคlfte der Bundeslรคnder haben sich die Bildungssysteme seit 2013 unterm Strich verschlechtert. In wohlklingenden Reden wird von Chancengerechtigkeit gesprochen, bei den viel zu hohen Schulabbrecherquoten tut sich aber seit Jahren kaum etwasโ, lรคsst er sich zitieren.
โDas trifft vor allem Kinder auslรคndischer Herkunft hart. Neue Laptops oder Tablet-Computer werden monatelang nicht ausgepackt, da sich niemand fรผr die Installation von Programmen zustรคndig fรผhlt oder Datenschutzbedenken im Weg stehen. Unser Bildungsfรถderalismus hat viele Vorteile. Sie werden nur viel zu selten genutzt.โ
Doch. Sie werden genutzt. Nรคmlich genau dazu: Bildung zu erschweren und das Bildungssystem wie eine Motorenfabrik zu steuern, in der es um Zeiteffizienz, Investition, Personal und Leistungstests geht. Leistungstests, die nicht nur die INSM fรผr Qualitรคtsnachweise fรผr Bildung hรคlt, obwohl sie genau diese Standardisierung von Wissensinduktion zeigen, die eben auch deutsche Bildungsminister mit Bildung verwechseln.
Bologna ist gescheitert
Bildung aber braucht Zeit. Eine andere Zeit, die die INSM mit einem Begriff wie โZeiteffizienzโ meint. Was sie dem Primus Sachsen, der in so vielen Rubriken gnadenlos schlecht abgeschnitten hat, auch noch ankreidet:
โIn Sachsen wurde im Jahr 2020 nur ein relativ geringer Anteil der Studienanfรคnger in einem Bachelorstudiengang eingeschrieben (Sachsen: 51,6 Prozent; Bundesdurchschnitt: 72,8 Prozent). Darรผber hinaus fielen die Wiederholerquoten in den Grundschulen sowie in der Sekundarstufe I leicht hรถher aus als im bundesweiten Durchschnitt.โ
Dass genau dies der Hebel ist, mit dem โdie Wirtschaftโ die รkonomisierung der Schule vorantreiben will, wird im Bericht deutlicher, wo es genau so steht: โAus รถkonomischer Sicht ist eine effiziente Nutzung der knappen Ressource Zeit im Bildungssystem zu begrรผรen. Leider zeigt dieses Handlungsfeld fรผr Deutschland trotz der Bildungsreformen der letzten Jahre zur Senkung des Durchschnittalters der Absolventen wenig Fortschritt.โ
Spรคtere Einschulungen sind aus Sicht der Manager genauso des Teufels wie ein nicht aufgenommenes Studium, wenn ein Jugendlicher sein Abi gemacht hat und stattdessen lieber einen Handwerksberuf erlernt. Aus Sicht der Handwerkskammern sieht die Welt an dieser Stelle garantiert ganz anders aus.
Und dann widersprechen sich die Berichtersteller des IW selbst, wenn sie schreiben: โWรคhrend die gestiegene Studienneigung einerseits erfreulich ist, ist gleichzeitig eine hohe Studienabbruchquote zu beobachten. Auch die Einfรผhrung der Bachelorยญ und Masterstudiengรคnge durch die Bologna-ยญReform konnte die Studienabbruchquoten durch die Aussicht auf einen schnelleren Studienabschluss im Allgemeinen nicht senken.โ
Die so schรถn รถkonomisch gedachte Bologna-Reform ist gescheitert. Eben weil man zum Lernen und Sichbilden nun einmal Zeit braucht. Die wird nicht verkรผrzt, wenn man Studiengรคnge vereinheitlicht und verschult. Im Gegenteil: Genau das erhรถht die Gefahr eines Studienabbruchs, weil nun einmal verfehlte Punkte dazu fรผhren, dass man im System stecken bleibt und scheitert.
Der digitale Zugriff auf die Schulen
Usw. Wir kรถnnten die ganze Latte der Indikatoren durchgehen und finden nirgendwo auch nur ein Quรคntchen Bildung. Aber jede Menge Absicht, der Wirtschaft den Zugriff auf das Bildungssystem zu ermรถglichen. Was dann auch hinter der Einfรผhrung des Handlungsfelds โDigitalisierungโ steckt.
Aus Sicht der INSM entscheidet es โab diesem Jahr mit รผber Aufstieg oder Abstieg der Bundeslรคnder im groรen Bildungsranking der Bundeslรคnder, welches das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) im Auftrag der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) seit 2004 erstellt.โ
Natรผrlich mit der Behauptung: โDie Bedeutung digitaler Kompetenzen nimmt in den kommenden Jahren deutlich zu. Entsprechend relevant ist die Digitalisierung im Bildungssektor und die Vermittlung digitaler Fรคhigkeiten und Kenntnisse.โ
Womit ein Begriff fรคllt. Der die Sicht auf Bildung in Deutschland seit Jahren beherrscht: Kompetenzen. Die Schรผler sollen Kompetenzen erlangen. Aber das hat mit Bildung nichts zu tun, mit ganzheitlicher Bildung sowieso nicht. Aber es hat mit der Sicht auf โQualitรคtโ zu tun. Denn diese Bildungssicht bewertet Kinder nach messbaren โQualitรคtenโ und erworbenen (und messbaren) โKompetenzenโ, hat aber nicht das Ziel, allen Kindern eine umfassende Bildung mitzugeben.
Im Gegenteil.
Produzierte Bildungsarmut
Und natรผrlich fรคllt das ausgerechnet beim Primus Sachsen auf. Denn der Freistaat produziert systematisch Bildungsarmut. In mehrfachem Sinn. Aber eine Quote ist entsprechend klar: die Schulabbrecherquote. โVerbesserungspotenzial besteht jedoch noch bei der Schulabbrecherquote. Diese lag im Jahr 2020 in Sachsen bei 7,8 Prozent, wรคhrend sie im Bundesdurchschnitt 5,8 Prozent betrugโ, schreibt die INSM zum am Mittwoch verรถffentlichten Bildungsmonitor speziell zu Sachsen.
Und den Wunsch der Wirtschaft, die Kinder frรผhzeitig mit digitalen Gerรคten auch in der Schule arbeiten zu lassen, hat Christian Piwarz natรผrlich erhรถrt. Auch er glaubt felsenfest daran, dass noch mehr digitale Arbeit im Unterricht die Bildung verbessert โ die sogenannte Wettbewerbsfรคhigkeit sowieso.
โSpรคtestens bis zum Ende der Laufzeit des Digitalpaktes Schule sollen an jeder Schule die digitalen Medien selbstverstรคndlich im Unterricht eingesetzt werdenโ, kรผndigte Piwarz am Mittwoch an.
Eigentlich sollte er gewarnt sein, wenn selbst die INSM meldet: โObwohl Bremen im neu eingefรผhrten Bewertungsmaรstab โDigitalisierungโ Platz 1 belegt, ist es Schlusslicht im Gesamtranking des INSM-Bildungsmonitors.โ
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