Sie kennen sicher die berühmte Filmstelle. Der Schüler Rosen zum Deutschlehrerpapst und Schiller-Verehrer Dr. Cray („Schnauz“) in der „Feuerzangenbowle“, als dieser ihm einen mündlichen Tadel ausspricht. „Na, es ist doch wegen dem Schild!“ Und der resignierende und zugleich wütende Kollege weist ihn auf den korrekten Genitiv hin. „Na gut, dann eben wegen des Schildes!“ reagiert der noch genervtere Rosen auf die Ignoranz gegenüber der eigentlichen Botschaft, welche in spitzbübischer Weise den Schulausfall schild-erte …
Filme über und zur Schule funktionierten und „gehen“ immer in deutschen Film- und Fernsehstuben. Sagt man. Das liegt zweifellos daran, dass sie sich besonders gut als Satireobjekt eignet. Warum, werden einige fragen. Sie bewegt sich doch, sie dreht sich noch … Immer zwischen Aufklärung und Romantik, zwischen Tradition und Erziehung. Zu Kreativität und Disziplin. Mit Forderungen und Förderung. Von Mensch zu Mensch. So weit, so gut.
Klassische Werte humanistischer Pädagogik können helfen, sich vom hypertophen und übersensiblen Individualismus zu lösen, an gesellschaftliche Werte zu binden, die nicht mehr Haben- sondern mehr Seins-Wollen bevorzugen.
Dies aber nicht chauvinistisch und menschenverachtend, wie totalitäre Ideen die Goethes, Herders und Schillers missbrauchten – sondern anthropologisch, den Menschen als prototypisches Vorbild für ein gesamtes, bestehen wollendes Geschlecht zu gebrauchen.
„Eines Freundes Freund zu sein …“, ist von Schiller idealtypisch formuliert worden. Und fordert Empathie, Zuneigung entwickeln zu können, das Sich-Einlassen zuzulassen, oder noch moderner gesprochen – weder auto- noch fremdaggressiv zu agieren.
Schillers „Lied an die Freude“ (oder gar „An die Freunde“?), geschrieben 1785, ist ein Manifest für eine Leidenschaft im Menschen, aufrichtige Verwandte unter seinesgleichen zu suchen, sich Menschen anverwandeln zu können. Nicht die „Blutsverwandtschaft“ ist gemeint, denn man soll Herzen erobern, nicht im Voraus besitzen.
„Und wer’s nicht gekonnt …“ Der hat Pech gehabt und muss traurig davonziehen. „… stehle weinend sich aus diesem Bund.“ Später wurde die „Ode an die Freude“ daraus, danach 1824 Text und Musik in Beethovens 9., ja, die „Götterfunken“ schafften es sogar bis auf den ersten Platz der europäischen Hymnencharts.
Wegen des Schildes. Das Schillerhaus in Gohlis, in dem der erschöpfte Meister den so dringenden Sommerurlaub 1785 verbrachte, kündet mit seiner goldumrandeten Tafel von der hymnischen Tat des „Lieblings der Musen“. Der kam im April ´85 nach beschwerlicher Zwei-Wochen-Tour von Mannheim nach Leipzig zunächst in der Innenstadt an, entfloh nach einigen Tagen schon den neugierigen Augen der 30 000-Seelen-City in das nahe gelegene Dörfchen – frei nach dem Motto „Wem’s nicht wohl ist, der geht nach Gohlis …“
Mit Schulden aus der Vergangenheit und Enttäuschungen über ambitionierte Projekte geradezu überladen – seine geplante Printausgabe, die „Rheinische Thalia“, lief mit einem Dutzend Abonnenten zäh an, Schulden aus der Stuttgarter und Mannheimer Zeit drückten, alles schwierig für Schiller, kommerziellen Anforderungen und intellektuellem Anspruch gleichermaßen zu genügen … wie aktuell doch alles (noch) ist.
Leipzig 1785. Der Sommer in diesem Jahr war vielleicht die wichtigste Zäsur im Leben des schon zur Hälfte berühmten Dichters Schiller. Eine wirkliche Zeitenwende im Leben des getriebenen Autors. Nach Leipzig hatten ihn zu Beginn des Jahres bislang Unbekannte (und später Freunde) eingeladen, die in ihm das Besondere sahen, die Fähigkeit, aufmerksam denken, beschreiben und idealisieren zu können.
Sie, das waren der Jurist Christian Gottfried Körner, der junger Schriftsteller Ludwig Ferdinand Huber und der Verleger und spätere „WG-Gefährte“ Georg Joachim Göschen. Sie bildeten mit Schiller das sogenannte „Kleeblatt der Freunde“. Und der nahm diese Freundschaft dankbar an.
Eine Art Rettung vollzog sich, in Zeiten fehlender staatlicher Kulturförderung waren private Initiativen und damit verbundene finanzielle Unterstützung gefragt. Um den 26-Jährigen aus seiner ersten großen – und bei Schiller immer auch gesundheitlich belastenden – Lebens- und Schaffenskrise zu befreien, ihn als „deutschen Shakespeare“ (Huber an Schiller) wieder auf die Füße und festen Boden zu stellen, waren Psychohygiene, freundschaftliche Anteilnahme und natürlich Geld gefragt.
Offenbar sahen die Unterstützer aber im Dichter Schiller zuerst den Menschen, den Humanisten, der sich selbst und anderen Vorbild sein wollte. Göschen über Schiller: „Mit hinreißender Beredsamkeit, mit Tränen in den Augen, spornte er wieder und wieder die Freunde an, ja alle Kräfte anzuwenden, ein jeder in seinem Fache, um Menschen zu werden, die die Welt einmal ungern verlieren möchte.“
Oder an anderer Stelle: „Ich kann Ihnen nicht sagen, wie nachgebend und dankbar er gegen jede Kritik ist, wie sehr er an seiner moralischen Vollkommenheit arbeitet, und wie viel Hang er zum anhaltenden Denken hat.“
Schiller, das Dichtertalent seiner Zeit, das erhalten bleiben musste. Am stärksten engagiert sich der drei Jahre ältere Christian Gottfried Körner, Vater des Befreiungskriegers Theodor, der 1813 in Leipzig fiel, für ihn.
„Ich weiß, daß Du imstande bist, sobald Du nach Brot arbeiten willst, Dir alle Deine Bedürfnisse zu verschaffen. Aber ein Jahr wenigstens laß mir die Freude, Dich aus der Notwendigkeit des Brotverdienens zu setzen.“ (8. Juli 1785).
Geradezu unvorstellbar, diese Uneigennützigkeit im Denken und Handeln. Wenn man bedenkt, dass 200 Jahre später sich die Menschen um einen Parkplatz vorm Supermarkt streiten, oder sich sonst wie wegen „des Geldes“ überwerfen – ist diese Körner-Geste, nachdem er Schiller erst wenige Wochen gekannt hatte, nicht hoch genug zu bewerten.
Darauf kann man schon einmal eine „Ode an die Freude“ schreiben. So erinnert sich Körner in seiner Einleitung zu Schillers gesammelten Werken 1822, mit Bezug auf die Leipziger Zeit – „Das Lied an die Freude wurde damals gedichtet“.
Und auch Schillers Schwägerin, vormals dessen parallele Geliebte, Caroline von Wolzogen, beschreibt in ihrer Dichterbiografie 1831 Leipzig als Entstehungsort der „Freuden-Ode“. Sich auf Körner beziehend. Nur haben sich beide wohl geirrt, was den zeitlichen Ablauf der Ereignisse vom Sommer und Herbst 1785 im Schiller-Kosmos betraf.
Gepasst hätte es ja – Lebensrettung eines Dichtergenies und der schreibt dazu gleich eine weltberühmte Hymne. Nach der Devise: Emotion gleich Produktion. So wie es der Inhalt des Schildes in Gohlis auch verkündet. Aber Göschen, der Zimmergenosse aus Leipziger Tagen, bekommt die Ode erst Anfang November 1785 von Schiller zugeschickt und zum ersten Mal zu lesen.
Und da war der Gerettete schon beinahe drei Monate aus Leipzig verschwunden. Nach Dresden, wo ihm der wohltätige Körner ein Gartenhaus in den Loschwitzer Weinbergen zur Verfügung stellte. Plus Innenstadtwohnung. Nach den Sommerferien in Leipzig, dem Ideensammeln (bspw. für den „Don Carlos“, den Schiller in Leipzig weiter durchdenkt) und den poetischen Feierstunden mit den Freunden – natürlich mit ausgiebig Wein – nach der Erholungszeit, begann für Schiller in Dresden wieder die Prosa des Alltags.
Das Schreiben als Arbeit und Einkommensquelle. Zur Selbststärkung und für den selbst erarbeiteten Erfolg, um nicht dauerhaft vom Mäzenatentum und Finanzierung Dritter abhängig zu sein. Dem Verleger Göschen legt Schiller das Material zur Ode Anfang November 1785 für die erste Ausgabe der „Thalia“ 1786 vor, in der die „Ode an die Freude“ auch erscheint.
Der sieht sie eben im November 1785 zum ersten Mal, ist hellauf begeistert und bestätigt den Empfang am 1. Dezember. Schwer vorstellbar, dass Schiller sie in den euphorischen Wochen der Lebensrettung in Leipzig den Freunden – also auch Göschen – vorenthalten hätte. Zusammengefasst: Es gibt keinen direkten Hinweis darauf, dass die „Ode an die Freude“ wirklich in Leipzig entstanden ist – gedanklich vielleicht, aufgeschrieben wohl nicht.
Zurück zum Schild. Das Leipziger Stadtmarketing geht nicht an dieser literaturhistorischen Ungenauigkeit zugrunde. Egal, ob das „Lied an die Freude“ in Leipzig geschrieben wurde oder eben nicht; die damals schon bekannte Messestadt markiert den besagten Wendepunkt in Schillers Leben hin zu Struktur und Ordnung sowie beginnenden existenziellen Sicherheit, die er nach der Flucht aus Stuttgart im September 1782 und den Jahren danach in Mannheim nie gefunden hatte.
Geradezu vorbildlich stehen Schillers Freunde in Leipzig für das Ringen um eine sensible Menschen- und Künstlerseele, für die der Humanist und wachsende Kunstklassiker mit einem Hymnus dankte. Leipzig war der Ausgangspunkt für das Bewahren eines genialen Idealisten und humanistischen Philosophen, der sein Konzept der ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts noch genauer formulieren sollte.
Vor allem in Zeiten revolutionärer Umbrüche, Gewalt und Krieg. Am 02.07.1796 schreibt er seinem geistigen Verwandten Goethe (mit dem er im Gegensatz zu Körner nie auf „Du und Du“ stand) folgende Zeilen: „Gegenüber dem Vortrefflichen gibt es keine größere Freiheit als die Liebe.“
Vielleicht ergänzt man mit so einer Sentenz die Botschaft am und im Schillerhaus. Vortrefflich war die die Freundschaft der Bundesgenossen 1785 in Leipzig allemal, um Schiller auf dem Weg zu helfen, ihn von Sorgen zu befreien. „Seid umschlungen, Millionen!“ war die Universalantwort darauf.
Ganz gleich, wann gedacht und beinahe egal, wann aufgeschrieben. Es ist nur … wegen des Schildes.
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