Auch Leipzig hat das Problem der Bildungsgerechtigkeit noch nicht gelöst. Wenngleich das Dezernat Jugend, Familie und Bildung so ein kleines bisschen stolz war darauf, als es am 12. April meldete, dass Leipzig 2021 den geringsten Wert an „Abgängerinnen und Abgänger ohne mindestens einen Hauptschulabschluss“ seit 1990 erreicht hat. Denn Bildungschancen hängen auch in Leipzig nach wie vor von der sozialen Herkunft ab.
Und zwar sehr stark, wie der mit der Meldung vorgelegte „Bildungsreport 2021“ zeigt. Eine Stadt wie Leipzig kann nur versuchen, gegenzusteuern. Aber sie kann die Funktionsweise eines ungerechten Systems nicht ändern.
Trügt der scheinbare Erfolg?
Dabei könnte auch der gemeldete „Erfolg“ für 2021 trügen, betonte das Dezernat Jugend, Familie und Bildung selbst in seiner Meldung: „Obwohl sich die Corona-Pandemie in vielen Bereichen wie ein Brennglas auf einige Herausforderungen gelegt hat und sich Schulschließungen und Distanzunterricht vor allem negativ auf die KompeÂtenzÂentwicklung junger Menschen aus sozioökonomisch schwächeren Haushalten ausgewirkt haben, zeigen sich interessanterweise bei vielen schulischen Indikatoren auch Verbesserungen.
So verzeichnete der Anteil der Abgängerinnen und Abgänger ohne mindestens einen Hauptschulabschluss mit 9,4 Prozent den geringsten Wert seit 1990 und der Anteil der gymnasialen Bildungsempfehlungen fiel mit knapp 60 Prozent so hoch aus, wie in den letzten zehn Jahren nicht. Es ist allerdings von weiteren Auswirkungen auszugehen, die sich erst im weiteren Zeitverlauf und zum Teil verzögert zeigen werden.“
Und dass das nicht nur ein Leipziger Problem ist, weiß man im Schuldezernat sehr genau: „Doch der Bericht zeigt auch: In Leipzig, wie in Deutschland insgesamt, hängen familiäre und sozioökonomische Verhältnisse eng mit der Bildungsbeteiligung und dem Bildungserfolg junger Menschen zusammen.“
Bürgermeisterin Vicki Felthaus ging darauf auch noch einmal extra ein: „Der Bildungsreport zeigt deutlich, dass die Themen Bildungsgerechtigkeit und soziale Teilhabe weiterhin hohe politische Priorität genießen müssen. Insbesondere dort, wo viele Kinder in Armut leben oder von Armut bedroht sind, zeigen sich deutlich unterdurchschnittliche Werte für Bildungserfolg und gesellschaftliche Teilhabe. Die Stadt Leipzig reagiert darauf unter anderem damit, Bildungseinrichtungen in diesen Gebieten gezielt zu unterstützen – sei es bei der Verteilung der Schulsozialarbeit, einem gezielten Einsatz von Förderprogrammen in Kindertageseinrichtungen oder der sozial-räumlichen Ausrichtung der Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe.“
Armut verhindert Bildungschancen
Dass die finanzielle Benachteiligung, mit der viele Kinder auch in Leipzig aufwachsen, sich auch als massiver Nachteil für ihre Bildungschancen bemerkbar macht, das beleuchtet der „Bildungsreport 2021“ an mehreren Stellen. Und das natürlich nicht grundlos, denn die Stadt Leipzig hat großes Interesse daran, diese Nachteile mit den wenigen ihr möglichen Mitteln auszugleichen. Der Freistaat Sachsen macht das nämlich nicht, tut lieber so, als brauche es in Ortsteilen mit mehr Kindern aus benachteiligten Familien nicht mehr gut geschultes Lehrpersonal, das sich genau um diese Kinder kümmern könnte.
Und so bilanziert der „Bildungsreport“: „Die Tatsache, dass die Indikatoren in den Ortsteilen mit sehr hohen Quoten von Transferleistungsempfängerinnen und -empfängern so viel stärker ausgeprägt sind, erlaubt den Rückschluss, dass es für die Schulen und die Schüler/-innen in diesen Ortsteilen deutlich herausfordernder ist, mit einer deutlich heterogenen Schülerschaft umzugehen.
Die Kinder weisen sehr viel häufiger Brüche und Misserfolge in der Bildungsbiografie auf. Die Stadt Leipzig reagiert auf diese sozialräumlichen Disparitäten unter anderem mit dem Ansatz, diese Einrichtungen gezielt zu unterstützen. Dies geschieht unter anderem mittels einem sozialindizierten Ressourceneinsatz in der Verteilung der Schulsozialarbeit (…), einem gezielten Einsatz von Förderprogrammen in Kindertageseinrichtungen in diesen Ortsteilen (…) oder der sozialräumlichen Ausrichtung der Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe.“
Denn in Leipzig ist seit Jahren bestens bekannt, dass Kinder aus sozial benachteiligten Familien schon mit echten Handicaps in die Schule kommen, die ihnen von vornherein einen riesigen Lernrückstand gegenüber den Gleichaltrigen einbringen.
Inzwischen ist das auch in einer westdeutschen Studie deutlich belegt, wie man im „Bildungsreport“ lesen kann: „Die Bertelsmann Stiftung und das Zentrum für interdisziplinäre Regionalforschung der Ruhr-Universität Bochum führten im Jahr 2015 eine Analyse zu Schulaufnahmeuntersuchungen im Ruhrgebiet durch. Hierbei wurde deutlich, dass Kinder aus armutsgefährdeten Familien bereits bei Schuleintritt deutliche Benachteiligungen aufzeigten. So verfügten fast dreimal so viele armutsgefährdete Kinder über mangelhafte Deutschkenntnisse als ihre Altersgenossinnen und -genossen.
Auch Probleme in der Körperkoordination und in den Bereichen Visuomotorik, Defizite in der selektiven Wahrnehmung und Probleme beim Zählen kamen bei diesen Kindern mehr als doppelt so häufig vor. Ebenso waren Kinder, die von staatlicher Grundsicherung lebten, deutlich häufiger übergewichtig. Auffälligkeiten bei der Schulaufnahmeuntersuchung konnten in einen klaren Zusammenhang mit einer geringeren Teilhabe an sozialen und kulturellen Angeboten gebracht werden.“
Das alles hat Gründe in den in der Regel fehlenden Ressourcen der Eltern, die frühkindliche Entwicklung der Kinder auch entsprechend zu fördern. Das größte Handicap dabei: Armut reduziert Kontakte und Bewegungsräume genauso wie mögliche Spielangebote und die Qualität der Ernährung sowieso.
Schulbezirke entscheiden über Bildungschancen der Kinder
Der „Bildungsreport“ macht dann auch sehr deutlich, dass die gesetzlich vorgeschriebenen Schulbezirke dafür sorgen, dass praktisch schon mit der Einschulung entschieden wird, wie viele Chancen die Kinder dort auf höhere Bildungsabschlüsse bekommen.
„Hier fielen vor allem die Ortsteile im Nordwesten Leipzigs auf (vgl. Karte 11, oben). Die Betrachtung der räumlichen Verteilung lässt den Schluss zu, dass das Übergangsverhalten unter anderem von der sozialen Herkunft anhängig ist“, heißt es auch an dieser Stelle im „Bildungsreport“.
„Dies konnte auch in nationalen Untersuchungen belegt werden: So waren die Chancen für Kinder aus oberen Sozialschichten, bei gleicher Leistung eine Empfehlung für ein Gymnasium zu bekommen, mehr als doppelt so groß wie für Kinder aus sozial weniger privilegierten Schichten. Auch die Notenvergabe zeigte sich von der sozialen Schicht abhängig. Als wichtigstes Kriterium für eine gymnasiale Bildungsempfehlung wurde allerdings weder die Noten noch die soziale Schicht, sondern die Bildungsaspiration der Eltern identifiziert (Möller und Bellenberg 2017, S. 26).“
Hier ist mit Aspiration nicht das Atmen der Eltern gemeint, sondern ihr Bestreben, die Kinder um jeden Preis auf eine höhere Schule zu bekommen.
Nur ist das Wort hier falsch eingesetzt. Denn zum Bestreben braucht man Ressourcen: Zeit, Geld und Kraft. All die Ressourcen, die auch Niedrigverdienern in Leipzig fehlen. Sie können nicht „alle Hebel in Bewegung setzen“, um ihr Kind dann doch noch aufs Gymnasium zu bringen. Sie sind für die Kinder oft nicht einmal als Ansprechpartner da, weil sie oft zu Zweit- und Drittjobs gezwungen sind.
Die Menschen, die qua Einkommen ganz selbstverständlich von den gravierenden Unterschieden profitieren, bekommen meist gar nicht mehr mit, wie privilegiert sie sind. Schon deshalb, weil sie in einem privilegierten Ortsteil wohnen und ihre Kinder sowieso an eine Schule gehen, an der Geld für die Eltern kein Problem ist.
Und natürlich steht da die Frage, wie man diese Ungerechtigkeit beheben kann? Die Frage beantwortet der „Bildungsreport“ natürlich nur indirekt, etwa auch, wenn er diskutiert, wie schwer bis unmöglich es für Kinder aus benachteiligten Ortsteilen ist, auf eine freie Schule zu kommen, sodass auch an diesen Schulen die Kinder aus der Mittelschicht praktisch unter sich sind.
Kinder mit Migrationshintergrund
Diskutiert wird auch die Rolle des Migrationshintergrundes für die Bildungschancen der Kinder. Hier sind die Befunde zwar sehr verschieden, von höheren Gymnasialquoten etwa, von Kindern aus vietnamesischen oder russischen Familien bis hin zu deutlich unterdurchschnittlichen Gymnasialquoten bei Kindern aus Bürgerkriegsländern. Aber auch das hat mit Ressourcen zu tun und teilweise auch mit der Dauer des Aufenthalts der Elterngeneration in Deutschland.
Wer ohne Sprachkenntnisse auf der Flucht nach Leipzig kommt und möglicherweise kriegsbedingt auch noch mit fehlender Schulzeit, der hat natürlich auch wieder Barrieren zu überwinden, die Kinder aus lange hier lebenden Familien nicht haben.
Aber das ist ein Thema, mit dem sich eigentlich der Freistaat Sachsen viel intensiver beschäftigen müsste. Denn sachsenweit sind die Geburten seit Jahren gering. Der Freistaat ist nicht nur Zufluchtsland für Kriegsflüchtlinge. Er ist auf auch verstärkte Zuwanderung angewiesen, um seine Fachkräfteprobleme in den Griff zu bekommen.
Das heißt aber auch, dass sich das Land in den Schulen verstärkt auch mit der Migrationsthematik beschäftigen und dafür personelle Ressourcen bereitstellen muss, wenn diese Kinder nicht auch gleich wieder in die Chancenlosigkeit geschickt werden sollen.
Und da die Integration der nach Sachsen kommenden Familien hauptsächlich in den Großstädten stattfindet, steigen in Leipzig seit Jahren die Anteile von Kindern mit Migrationshintergrund deutlich.
Aber gerade an der Stelle, wo es um die Schulabschlüsse der Kinder mit Migrationshintergrund geht, greift der „Bildungsreport“ zu einer faulen Ausrede. Da heißt es nämlich: „Allerdings zeigen Studien einen engen Zusammenhang zwischen erreichtem Schulabschluss und Bildungsstand der Eltern. Der Migrationshintergrund selber spiele als Erklärung für die Art des Abschlusses eher eine untergeordnete Rolle (Lokhande und Nieselt 2016, S. 27 f.).“
Wenn Forscher blind für die eigenen Privilegien sind
Auch Bildungsforscher/-innen sind blind für ihr eigenen Privilegien und merken nicht, welche Rolle die Handicaps und die Ressourcen der Eltern für den Bildungserfolg der Kinder haben. Das kann zwar durch mehr Angebote für die Familien etwas abgefedert werden, hilft aber den Kindern nur bedingt, die letztlich im schulischen Angebot das bekommen müssten, was ihnen ihre Familien schlicht nicht mitgeben können.
Aber als „Ermöglicher“ verstehen sich ja sächsische Minister nicht. Und kein einziger Bildungsminister bzw. keine Kultusministerin war in den vergangenen Jahren auch nur im Geringsten alarmiert darüber, dass zwischen Bildungsempfehlung und sozialer Herkunft in Sachsen eine so enge Korrelation besteht.
Und auch das Thema der deutlich unterschiedlichen Bildungserfolge von Jungen und Mädchen spricht der „Bildungsreport“ an, ein Punkt, an dem das System augenscheinlich einen Teil der Jungen massiv behindert (Grafik siehe oben). Aber dieses Thema ist größer als der „Bildungsreport“, denn hier müssten falsche Geschlechterstereotype schon bei der Erziehung und dem Verständnis von Bildung diskutiert werden.
Zum Teil geschieht das, wenn sich der Report immernoch darüber wundert, warum Jungen sich hauptsächlich für technische und naturwissenschaftliche Karrieren entscheiden, Mädchen eher für soziale. Auch das kann man nicht einfach nur auf die Elternhäuser schieben. Ein Bildungssystem, das sich seiner eigenen Grundlagen nicht bewusst ist, spielt dabei eine ganz zentrale Rolle. Aber da ist ja auch auf Landesebene keine Veränderung in Sicht.
Weshalb man davon ausgehen kann, dass die nächsten „Bildungsreporte“ zu ganz ähnlichen Befunden kommen werden wie dieser.
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Der fünfte Leipziger Bildungsreport bietet eine umfassende Analyse der lokalen Bildungslandschaft entlang der Etappen des lebenslangen Lernens. Er wurde federführend vom Dezernat für Jugend, Schule und Demokratie erarbeitet. Erstmals wurde gemeinsam mit dem Amt für Geoinformation und Bodenordnung ein sogenanntes Dashboard gestaltet, auf dem zentrale Ergebnisse digital aufbereitet zu finden sind. Es steht unter www.leipzig.de/bildungsmonitoring bereit.
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