LEIPZIGER ZEITUNG/Auszug Ausgabe 73, ab Freitag, 29. November 2019 im HandelFรผr FreikรคuferEs gibt eine neue Diskussion, die im erfolgreichen Bildungsland Sachsen Gemรผter erhitzt und Glaubenskรคmpfe heraufbeschwรถrt. Dรผrfen Schรผler in โfรผr Ausbildungsplatzbewerbungen erforderlichen Zeugnissenโ Kopfnoten erhalten? Fรผr das Verwaltungsgericht Dresden ist klar, dass es nur zulรคssig ist, โwenn der parlamentarische Gesetzgeber eine entsprechende Regelung im Schulgesetz getroffen hat.โ Im sรคchsischen Schulgesetz gibt es diese nicht.
รberhaupt findet sich dort kein Passus zu den sogenannten Kopfnoten. Dieses Thema behandelt die โSchulordnung Gymnasium Abiturโ unter Paragraph 23 โBewertung von Leistungen, Betragen, Fleiร, Mitarbeit und Ordnungโ (siehe Info-Kasten). Geklagt hatte ein Schรผler, der seine Chancen auf einen Ausbildungsplatz verringert sieht, wenn der Arbeitgeber auf den Zeugnissen seine Kopfnoten sieht. Das Kultusministerium Sachsen hat Berufung eingelegt.
โWir wollen an der Einschรคtzung des Arbeits- und Sozialverhaltens festhalten. Eine Bewertung der sozialen Kompetenzen von Schรผlern steht fรผr mich nicht zur Disposition. Vieles spricht deshalb dafรผr, die Regelungen zur Bewertung von Sozialkompetenzen durch das Oberverwaltungsgericht grundsรคtzlich klรคren zu lassen, zumal das Oberverwaltungsgericht in der Sache bereits eine andere Rechtsauffassung als das Verwaltungsgericht vertreten hat. Deshalb werden wir die Entscheidung des Verwaltungsgerichtes Dresden vor dem Oberverwaltungsgericht Bautzen angreifenโ, so Kultusminister Christian Piwarz (CDU).
Das ist eine Aufgabe von Schule, die einen Bildungs- und Erziehungsauftrag hat und den natรผrlich auch verifiziert wissen will. Die Frage ist nur: Mรผssen es Kopfnoten sein? Vier Zahlen, die als erste von zahlreichen Noten auf der Halbjahresinformation und auf dem Jahreszeugnis erscheinen?
Mario Bauer, stellvertretender Hauptgeschรคftsfรผhrer der Industrie- und Handelskammer, sagte der LVZ: โ,Gute Kopfnoten kรถnnen insbesondere bei der Bewerbung um einen Ausbildungsplatz dazu beitragen, die Chancen auf eine Ausbildung im gewรผnschten Beruf zu erhรถhen. Betragen, Ordnung, Fleiร und Mitarbeit geben wichtige Anhaltspunkte dafรผr, dass ein junger Mensch die erforderliche Ausbildungsreife erlangt hatโ und auch Roland Ermer, Prรคsident des Sรคchsischen Handwerkstages kritisierte das Urteil als ,vรถllig unverstรคndlichโ und ,nicht nachvollziehbarโ.โ
Verstรคndlich, wenn man vielleicht nicht genau weiร, wie Kopfnoten zustande kommen. Auf der Internetseite des Kultusministeriums wird Folgendes erklรคrt: โDie Einschรคtzungen werden nicht nur von einer Lehrkraft vorgenommen, sondern auch in der Klassenkonferenz beraten, sprich von allen Lehrerinnen und Lehrern, die die Schรผler der Klasse unterrichten.โ Das muss allerdings nicht zwingend der Fall sein, viele Schulen treffen sich fรผr die Vergabe der Noten nicht konferenzartig, weil bei einer Klasse mit 28 Schรผlern die Vergabe von 112 Noten einfach viel zu lange dauern wรผrde und es genauso gut im Notenheft vermerkt werden kann.
Das Problem ist allerdings: Sportlehrer, in deren Unterricht Ordnung und Fleiร nicht so zu beobachten sind, mรผssen genauso ihre Note eintragen wie ein Englischlehrer. Die Noten von Lehrern, die pro Woche nur eine oder zwei Stunden in der Klasse haben, zรคhlen genauso wie die Noten von Lehrern, die vier oder fรผnf Stunden pro Woche in dieser Klasse unterrichten โ soweit im Kollegium nichts anderes verabredet ist (in einige Kollegien schlรคgt der Klassenlehrer entsprechende Noten vor, die die anderen dann abnicken oder infrage stellen kรถnnen).
Am Ende bildet der Klassenlehrer den Notendurchschnitt aus den eingetragenen Noten. Einige freie Schulen in Sachsen haben dieses System abgeschafft, weil es nicht objektiv ist. Gerade weil Kunst-, Geschichts-, Musik-, Sport- oder Ethiklehrer Klassen nur wenige Stunden sehen und mรถglicherweise durch Ausfall mehrere Wochen nicht, ist deren Einschรคtzung auf deutlich weniger Unterrichtsstunden beschrรคnkt. Das fรผhrt dazu, dass sich Lehrer den Noten der anderen Kollegen schlicht anschlieรen.
Nehmen wir ein Beispiel
In Sachsen liegt der Klassenteiler bei 28 Schรผlern in Grund- und Oberschule sowie Gymnasien. Ein Halbjahr hat dieses Schuljahr 21 Unterrichtswochen. Ein Schรผler der Oberschule Klasse 8 hat 31 Unterrichtsstunden pro Woche. In sechs Fรคchern wird er ein-, in sieben zweistรผndig unterrichtet. In Deutsch, Mathe, Englisch vierstรผndig, in Wirtschaft/Technik/Haushalt dreistรผndig. Bei normalem Halbjahresverlauf fรคllt jedes Fach unter drei Unterrichtsstunden drei bis viermal aus, bleiben also noch 17 Wochen mit einer oder zwei Stunden Unterricht, um 28 Schรผler in den vier Bereichen Fleiร, Ordnung, Betragen, Mitarbeit zu benoten.
Unser Schรผler ist von diesen 17 Wochen zweimal krank, bleiben noch 15 Wochen. Ist der Lehrer neu in der Klasse, vergehen mindestens drei Wochen, ehe der Lehrer alle Schรผler beim Namen kennt, es ist sogar anzunehmen, dass er am Ende des Halbjahres nicht alle mit dem Namen kennt, denn Lehrer mit Ein- bzw. Zweistunden-Fรคchern haben bei 26 Stunden, die sie in Vollbeschรคftigung unterrichten, 10 bis 12 Klassen.
Ist nur die Hรคlfte der Klassen neu, bedeutet das fรผr den Lehrer bei 28 Schรผlern pro Klasse, er muss sich 140 neue Namen und Gesichter merken und hat 15 Wochen Zeit, um sich ein Bild von dem Schรผler zu machen, was in Noten widergespiegelt wird. Auรerdem mรผsste sich ein Lehrer, wenn die Noten die Kriterien Objektivitรคt, Validitรคt und Reliabilitรคt erfรผllen sollen, nach jeder Stunde Notizen zu jedem Schรผler machen, will er nicht seine Entscheidung von ein paar Notizen oder ein paar Eindrรผcken, die im Kopf geblieben sind, abhรคngig machen.
Und, die Frage sei erlaubt, wie viele legen sich dann die Kriterien (siehe Infobox) wirklich bei der Bewertung daneben? Denn Mitarbeit ist nicht bloร das Melden. Wรผrde man dazu berรผcksichtigen, dass eine 1 bedeutet, die aufgefรผhrten Kriterien sind โvorbildlichโ ausgeprรคgt und eine vier โschwachโ, so mรผssten auch die Noten oftmals anders aussehen.
Gerechtigkeit oder nur vier Zahlen?
Diese Verfahrensweise soll also gerecht sein und so wichtig, dass das Kultusministerium und Vertreter aus der Wirtschaft sowie Politik unbedingt daran festhalten wollen? Was ist denn mit den zurรผckhaltenden Schรผlern in der Klasse, die in der Masse untergehen, die nie etwas sagen? Was passiert mit Schรผlern, die aus Angst vor falschen Antworten sich nie melden? Was ist mit denen, die ein schwieriges Elternhaus haben und von dort keine Unterstรผtzung bei Ordnung und Struktur erhalten?
Ehe man die Hintergrรผnde zu all dem herausgefunden hat, beispielsweise auf einer Klassenkonferenz โ so sie denn stattfindet, denn lรคngst nicht jede Schule fรผhrt sie noch regelmรครig durch โ kann die Hรคlfte des Halbjahres rum sein. Holger Gasse, Landtagsabgeordneter der CDU, meint zum Thema: โKopfnoten sind wichtig fรผr den Schรผler und die Eltern. Sie sagen etwas รผber seine soziale Entwicklung aus.โ Haben Schรผler jedes Jahr dieselbe Kopfnote, bedeutet das, sie entwickeln sich nicht?
Den Vertretern aus Wirtschaft und Politik kann man keinen Vorwurf machen, sie wissen wahrscheinlich nicht, wie diese Noten zustande kommen. Aber dass Jens Weichelt vom Sรคchsischen Lehrerverband meint: โAus Sicht der sรคchsischen Lehrerinnen und Lehrer ist das Urteil nicht nachvollziehbarโ, ist schon fragwรผrdig. Woher kennt Weichelt denn deren Meinung im Detail und wieso nutzt er das Urteil nicht als Anlass, ein gerechteres System oder eine Umwandlung der Kopfnoten in Angriff zu nehmen?
Luise Neuhaus-Wartenberg, bildungspolitische Sprecherin von Die Linke im Landtag, hat da so eine Idee: โDas Grundproblem bleibt, dass sich die Persรถnlichkeit eines jungen Menschen mit vier Zahlen nicht erschรถpfend erfassen lรคsst. Es ist gut mรถglich, dass diese grobe und unvollstรคndige Darstellung des Entwicklungsstandes ungerechtfertigte Nachteile verursacht. Deshalb wรคre es sinnvoll, die Kopfnoten durch schriftliche Beurteilungen zu ersetzen.โ
Man hรถrt den Aufschrei durch die Lehrerzimmer fรถrmlich: Noch mehr Arbeit, noch mehr Schreibkram. Aber: Was unterrichten Lehrer? Englisch und Geschichte, Musik und Kunst oder unterrichten sie Kinder?
Gewiss ist die schriftliche Beurteilung deutlich langwieriger und zeitaufwendiger als das Eintragen von Noten, bei denen ich nur schaue, was mein Vorgรคnger geschrieben hat. Das Worturteil macht die Dinger konkreter, kann Wertschรคtzung ausdrรผcken und Potenziale benennen. Wann bleibt fรผr Lehrer die Zeit dafรผr, konkret fรผr jeden Schรผler Bereiche zu benennen, die er verbessern kann und in denen er schon sehr gut ist? Sie ist nicht da, aber das ist das Kernproblem der Pรคdagogik im 21. Jahrhundert.
Wie Preuรens Friedrich II der erste Diener seines Staates sein wollte, so mรผssen Pรคdagogen der erste Diener ihrer Schรผler sein. Das sollte nicht mit Untergebung verwechselt werden. Lehrer sind dazu da, um den Kindern insofern zu dienen, als dass sie sie beraten, begleiten, erziehen und die Welt nรคherbringen, und nicht, um Charaktere mit vier Zahlen einzuschรคtzen.
Wie die schriftliche Beurteilung ablaufen kรถnnte, folgt im Dezember.
Infos
Paragraph 23, Absatz 7:โWeiterhin werden in den Klassenstufen 5 bis 10 Betragen, Fleiร, Mitarbeit und Ordnung benotet:
1. Betragen umfasst Aufmerksamkeit, Hilfsbereitschaft, Zivilcourage und angemessenen Umgang mit Konflikten, Rรผcksichtnahme, Toleranz und Gemeinsinn sowie Selbsteinschรคtzung.
2. Fleiร umfasst Lernbereitschaft, Zielstrebigkeit, Ausdauer und Regelmรครigkeit beim Erfรผllen von Aufgaben;
3. Mitarbeit umfasst Initiative, Kooperationsbereitschaft und Teamfรคhigkeit, Beteiligung im Unterricht, Selbststรคndigkeit, Kreativitรคt sowie Verantwortungsbereitschaft;
4. Ordnung umfasst Sorgfalt, Pรผnktlichkeit, Zuverlรคssigkeit, Einhalten von Regeln und Absprachen sowie Bereithalten notwendiger Unterrichtsmaterialien.
Lehrerleben: Ich will Sie ja gar nicht weiter aufhalten, aber โฆ
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