LEIPZIGER ZEITUNG/Auszug Ausgabe 73, ab Freitag, 29. November 2019 im HandelFür Freikäufer„Im traurigen Monat November war's, die Tage wurden trüber, der Wind riss von den Bäumen das Laub, da reist ich nach Deutschland hinüber …“ Der Beginn von Heinrich Heines (1797–1856) Lang-Gedicht aus „Deutschland. Ein Wintermärchen“ sei an dieser Stelle hervorgekramt, nicht, um die persönliche Stimmung zu drücken in den kürzer werdenden Tagen, sondern wohl mehr um die Sinne zu schärfen für eine entscheidende Lernetappe vor der Weihnachtspause. Lernen wir wirklich aus Geschichte?
Der große Denker Hegel verneint dies ja, wie Sie vielleicht wissen, in seinen „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“, die nach seinem Tode 1837 erschienen. „Was die Erfahrung aber und die Geschichte lehren, ist dieses, daß Völker und Regierungen niemals etwas aus der Geschichte gelernt und nach Lehren, die aus derselben zu ziehen gewesen wären, gehandelt haben.“ Man muss ihm recht geben, angesichts einer „Krisen-Welt“, eines kriselnden Systems, einer Renaissance des Nationalismus …
Wie in einem vor-aufgeklärten Zeitalter leben wir. Eine Weltmenschenhorde wird von gewählten Stammeshäuptlingen in einen Jagdwettlauf um Reviere und Beute gelenkt, gesteuert, gehetzt. Für die eine Hälfte des Stammes geht es um Wohlstand, für die meisten ums Überleben. Wenn das mit der Hälfte überhaupt stimmt. Das klingt nach überseeischer Expansion eines italienischen Seefahrers in kastilischen Diensten, nach dreißig Jahren Hauen und Stechen unter katholisch-protestantischer Christusflagge, nach Imperialismus und Kriegsverbrechen.
Und auf ewig und drei Tage verloren die „Gutmenschen“. Beseelt („angefixt“ würde man wohl heute schreiben) von den Ghandis und Kings. Der Traum, den sie hatten, der blieb es. Trotz erkämpfter Gleichheit im späten Kapitalismus. Gesetze bessern Menschen dabei meist nicht. „Die Freiheit findet ein unempfängliches Geschlecht“ attestiert der Historiker Schiller den französischen Revolutionären 1793. Vielleicht hat der junge Hegel in den „Ästhetischen Briefen“ des Jenaer Uni-Professors für Geschichte gelesen. Der Weg schien dem Ziel entgegenzustehen. Die Form zerstörte den Inhalt.
Dieser so niederschmetternde Befund scheint deshalb erträglich, weil es auf der anderen Seite natürlich einen materiell orientierten und produktiven Lebensfortschritt gibt. Der vor 200 Jahren und heute im vor-aufgeklärten Zeitalter aber immer an fremde und potenziell unfrei machende Bedingungen gekoppelt ist. Wohlstand muss man sich leisten können. Plus Verantwortungsübernahme dafür. Theoretisch klappt das, steht sogar in der Verfassung: Das Eigentum „verpflichtet.“ Praktisch nur sieht es anders aus.
Der politische Hebel ist in Europa stark nach rechts gedreht worden, mehr als nur in eine Richtung, fast wie in einen Generalkurs. Man ist im „Wettbewerb“, sagen die Beschwichtiger, man ist im Kampf, sagen die „Neo-Nationalisten“: Bei beiden Steuermännern und -frauen ist größte Vorsicht geboten. Die einen spielen nur graduell unverantwortlicher mit der Katastrophe als die anderen. Muss man dem „Deutschland-Hasser“ Heine recht geben. Da werden „die Tage trüber.“
„Müssen wir eigentlich für die Klausur irgendwelche Geschichtszahlen auswendig lernen?“ Muss man nicht, aber wie bewältigt man ein historisches Ereignis, ohne wissen zu wollen, was in der Zeit noch so passiert ist? Welche Bemühungen es von humanistischer, aufgeklärter Position es gab, Katastrophen zu verhindern? Klarheit schaffen geht nur mit dem Selbst-klar-seh-versuch. Immer und immer wieder. Ohne Garantie für die anzustrebende Synergie. „Beschäftigst du dich mit dem Ereignis, kommen ,die Zahlen‘ ganz von alleine.“
Und die Erkenntnis?
Wenn’s nur so einfach wäre. Eine „Zahl“ ist unbestritten der „9. November“ in der Geschichte. 18-23-39-89 lautet dessen unvollständiger Code, um ihn historisch aufzuladen und in Gedenkspannung zu versetzen. Kaisersturz und Revolutionsbeginn 1918 war die logische Folge in einer demokratischen „Weltsekunde“, erkämpfte freiheitliche Gesetze verhinderten nicht den neu aufflammenden Hass der Rachedurstigen und „Weltmachtträumer“. Vorerst noch erfolglos im Putschversuch am 9. November 1923. Am gleichen Tag 16 Jahre später muss schon ein mutiger Einzeltäter ran, um den notwendigen Tyrannenmord zu riskieren und später mit seinem Leben zu bezahlen.
Jetzt wird der Bogen größer: Nachdem das angegriffene Europa in gegenseitigem Beistand den furchtbarsten Auswuchs des eigenen Systems kollektiv niedergerungen hatte, fand man sich im Blocksystem und mal kalten, mal heißen Krieg wieder. Den „Weltgesetzeshüter“ UN 1945 zwar demütig eingesetzt, aber zunehmend entmachtet scheint er dem „Spiel-Tempo“ immer schwerer hinterherzukommen; was nützt der Videobeweis, wenn die Spieler den Schiedsrichter praktisch ignorieren.
1989 entwich der Druck aus einem der beiden Kessel. Der Staatssozialismus, der „Kommunismus“ hatte das Rennen verloren. Dass es politsatirische Züge hatte – Schabowskis „Also ick weeß nich, hier steht sofort!!“ – war nur ein witziger Stolperer in der medialen Schlusskomödie des DDR-Versuchs. Schlimmer waren die Verfehlungen, Lügen und Verbrechen derer, die ein ganzes Volk unter schwer erlittenem Vertrauensvorschuss zu Beginn der Staatsgründung nach bereits kurzer Zeit um den Erfolgsbeweis eines sozialistischen Experimentes brachten.
Der Glanz des immer auch Selbstsicheren, ein „antifaschistischer Staat der Arbeiter und Bauern“ zu sein, blätterte ab. „Bessern“ wollte man die Menschen, dass „die Sonne schön wie nie über Deutschland scheint“ (DDR-Hymne), stattdessen zerstörte man mit der diktierten Form die postulierten Inhalte, die in der Theorie an bürgerlich-revolutionäre Freiheitsideale anknüpften.
Staatskränze wurden zwar jedes Jahr am 15. Januar ans Grab der polnisch-deutschen Revolutionärin Rosa Luxemburg getragen, ihre Mahnung zur „revolutionären Geduld“ drang aber nicht in vergreisende Funktionärshirne. Und „empfänglich“ für Freiheit wird ein Volk nicht, wenn man sie per Gesetz auch noch vom Lebensplan streicht und ein Volk einmauert.
Aber nicht zu vergessen. Ein, zwei Jahre zuvor hatte die Mehrheit des DDR-Volkes sich noch gut eingerichtet. Die wenigen Ersten, die riskant protestierten, waren von den Menschenmassen im Herbst 1989 schnell wieder vergessen. Oder wurden als Revolution-Ikonen ins Museum gestellt. War der „demokratische Aufbruch“ wirklich zuallererst ein „Drang nach Freiheit“, der die Menschen 1989 auf die Revolutionsstraßen trieb? Falls ja, wo ist der geblieben?
Ein neues Lied, ein besseres Lied,
O Freunde, will ich euch dichten!
Wir wollen hier auf Erden schon
Das Himmelreich errichten.
Wir wollen auf Erden glücklich sein,
Und wollen nicht mehr darben;
Verschlemmen soll nicht der faule Bauch,
Was fleißige Hände erwarben.
Schrieb Heine im Sommer 1844.
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