Für FreikäuferLEIPZIGER ZEITUNG/Auszug Ausgabe 69, seit 19. Juli im HandelDa wurde es richtig historisch: Auf dem diesjährigen „Kyffhäuser-Treffen“ der „Flügellanten“ innerhalb der AfD verkündete dessen thüringischer Landesvorsitzende die Inanspruchnahme des „großen Preußen“ Otto von Bismarck für die Ehrung „durch die Partei“. Björn Höcke, einmarschiert in einer Art Mixtur aus Beethoven-Pathos und „Volksfreund“-Winkelement, verlieh sie seinem Veranstaltungsorganisator. Zuvor pries er Bismarck als „Kairos der Geschichte“.
Kairos, griechischer Gott des richtigen Momentes, und Bismarck verkörpere diesen in der politischen Geschichte. Als „Wacht am Rhein“ (oder heute vielleicht „An der Oder“). Immer die Chance des historischen Momentes witternd, den „vorbeiwehenden Mantel der Geschichte ergreifend“ (Höcke). Bereits zuvor hatte in seinen früheren historischen Ausflügen Parteivorsitzender Alexander Gauland Bismarck als „Orientierungspunkt“ in der AfD-verklärten Geschichtsmythologie gepriesen. In seiner legendären „Vogelschiss“-Rede vom Frühsommer 2018.
Obwohl: War Bismarck nicht der, welcher aus dem rückständigen, feudalen Flickenteppich des Klein-Absolutismus ein modernes Deutschland entstehen ließ? 1870/71. Mit den „Einigungskriegen“ (ein absolutes Un-Wort, liest man es genauer). Krieg als probates Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele.
Gegenüber Gegnern, die, wenn sie sich geschlagen gaben, nicht vernichtet wurden. Den Anschluss an die kolonialen und imperialen Bestrebungen Englands, Frankreichs und Russland haltend, verstand es Bismarck, ein gespaltenes Land unter der deutschen „Trikolore“ zu vereinigen. Konstituierte den Kompromiss zwischen Obrigkeitsstaat und Klein-Demokratie.
Aber: Er hat es nicht geschafft, das Land und „die Klassen zu versöhnen“. Hat er nicht die Sozialdemokraten unter dem Vorwand des „Königsmordes“ verfolgen, einsperren und kriminalisieren lassen? Warum? Weil sie die „Systemfrage“ stellten, soziale Gerechtigkeit, freien Zugang zu Bildung für alle Geschlechter forderten, einen bürgerlich-humanistischen Fortschritt für alle in der Gesellschaft verlangten.
Paradox, nach ihrer Wiederzulassung und der Konstituierung der SPD 1891 waren die sozialistischen Sozialdemokraten bald stärkste Kraft im Reichstag. In einer Hinsicht hat Höcke recht: Mit Bismarck lohnt es sich zu beschäftigen.
An Bismarck scheiden sich die Geister und Ungeister. Er polarisiert. Auch Höcke tut es. Attraktiv ist er natürlich für Nationalisten. Der alte Preuße, geboren am 1. April 1815, während die Staaten Europas die Friedensordnung nach Napoléons halbem Weltkrieg festlegten. (Immerhin dauerte der auch über 20 Jahre.)
In Wien, in der Siegeshauptstadt der Revolutionsgegner Europas, eine „Heilige Allianz“ gegen alles Demokratische, Liberale und Verfassungsmäßige formierte sich genau in dem Moment, wo man in breiten Volksschichten auf den Lohn des Befreiungskampfes hoffte. „Freiheit-Gleichheit-Brüderlichkeit!“ – die Ideen waren nicht mit Napoléon untergegangen. Wieso auch. Der kleine Korse, der sich zum Kaiser krönte, hielt ja selbst nichts außer den Revolutionsfarben von aufgeklärten Idealen. In seiner kriegerischen Praxis.
Auch Bismarck war fasziniert von den Bonapartes. Ob Onkel Napoléon oder Neffe Louis, von beiden schaute er sich dessen Beobachtungsgabe und Entschlossenheit des kühnen „Momente-Ergreifens“ ab, ja – nur mit welchen Folgen? Mit welcher Haltung? Demokratieverachtend, den Liberalismus belächelnd, den Obrigkeitsstaat, den man für einen Krieg braucht, immer vorantreibend. Und das Ganze nur aus „Liebe zum Vaterland“ (Höcke).
Die Bilanz des 20. Jahrhunderts und nach zwei, sagen wir anderthalbfach verschuldeten Weltkatastrophen: Rund 70 Millionen Tote, Verwundete, Traumatisierte – und nicht zu vergessen – Geflüchtete. Auch die sind Opfer von Kriegen und nicht, wie immer vorschnell von den Höckes behauptet, „Asyltouristen“ oder „Wohlstandflüchtlinge“. Gerade der Osten sollte vorsichtig mit solchen Begriffen umgehen, denkt man an die Vor- und Nachwendezeit 1989.
Übrigens, Bismarcks königlicher Freund Wilhelm I., ließ die „Wir sind das Volk!“-Demonstranten zusammenschießen. Im März 1848 ging der preußische Thronanwärter damit „in die Geschichte“ ein.
„Nicht auf Preußens Liberalismus sieht Deutschland, sondern auf seine Macht; Bayern, Württemberg, Baden mögen dem Liberalismus indulgieren, darum wird ihnen doch keiner Preußens Rolle anweisen; Preußen muß seine Kraft zusammenfassen und zusammenhalten auf den günstigen Augenblick, der schon einige Male verpaßt ist; Preußens Grenzen nach den Wiener Verträgen sind zu einem gesunden Staatsleben nicht günstig; nicht durch Reden oder Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden – das ist der große Fehler von 1848 und 1849 gewesen – sondern durch Eisen und Blut.“ (Bismarck im Preußischen Abgeordnetenhaus, 30.09.1862)
Bismarck, der Machtmensch, der Mann des „günstigen Augenblicks“, der Machiavellist. Pragmatisch, wenn überhaupt „systematisch im Denken“ (Engelberg), dann aber fest an den autoritären Staat glaubend, politisch intolerant bis zur Amtsversessenheit. Immerhin war er Reichskanzler, preußischer Ministerpräsident, Außenminister und irgendwie auch „ohne Geschäftsbereich“. „Das war ein Mann!“, so bewunderte ihn die „Weltkriegslegende“ und Hitler-Mitverschwörer Erich von Ludendorff 1923, dem großen Krisenjahr der ersten deutschen Demokratie …
Ernst Engelbergs Bismarck-Biografie, bereits zu DDR-Zeiten ein Renner der kritisch-marxistischen Geschichtsschreibung („Bismarck – Urpreuße und Reichsgründer“ erschien 1985 parallel in Ost und West-Verlagen), hat in seiner relativ neuen, überarbeiteten Ausgabe 2017 seine umfangreiche Arbeit zu Bismarck („Sturm über Europa“) um einige wesentliche Facetten der Persönlichkeit des „Eisernen Kanzlers“ erweitert.
Erwähnt sei hier an dieser Stelle nur ein Abschnitt aus dem 3. Kapitel seines biografischen Werkes. „Grundzüge in Bismarcks Denken und Handeln“ ist es überschrieben. Allein diese Zeilen lohnt es sich genauer anzuschauen, zu lesen, darüber nachzudenken. Bismarck, so Engelberg, sei „gegenüber Marx’ Denkmethode ganz und gar dem Empirismus verhaftet“.
Ein „Schachspieler der Politik“ sei er gewesen. Bismarck – vielleicht wirklich ein großer Mann in Zeiten vergangener Jahrhunderte – bei allen außenpolitischen „Erfolgen“, die Gleichheit der Menschen vor Gesetz und – obwohl pragmatischer Protestant – auch „vor Gott“ galt ihm nichts. Kein Mann des Volkes, auch wenn er, volksfreundlich lächelnd, die eine oder andere entgegengestreckte Hand schüttelte oder ergriff.
An Bismarck ist wahrscheinlich am größten und ganz zählebig sein postum gebauter Ruhm und erklärter Mythos. Nach seinem Alterstod 1898 auf seinem Landgut Friedrichsruh. Apropos, Mythos: Mir kommt da eine Postkarte aus dem Jahre 1934 in den Sinn. „Friedrich II. („der Große“) – Bismarck – Hindenburg – Hitler“ in einer Reihe.
„Was der König eroberte, der Kanzler einte, der Feldmarschall verteidigte, rettete der Führer.“ Gibt es da vielleicht etwas wie ein gemeinsames Drittes? Oder ist diese nazistische Quelle nur ein Zeugnis politischer Instrumentalisierung des „großen Preußen“? Darüber kann man streiten, gewiss.
Ein Held? Ist er nicht, Herr Höcke.
Ernst Engelberg, Bismarck – Sturm über Europa, Siedler-Verlag, 2017, 864 S.
Nachtrag der Redaktion: Tatsächlich war Bismarck Angehöriger der lutherischen Konfession (wiki).
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Wie der Verfasser zur Auffassung kommt, dass Bismarck ein “braver Katholik” gewesen sei, ist mir rätselhaft. Bismarck war Protestant. Er ist am 31. März 1831 von dem bedeutensten Theologen des 19. Jahrhunderts, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, in der Dreifaltigkeitskirche in Berlin konfirmiert.
Günter Wagner