Wer wüsste besser, was an unserem Bildungssystem nicht funktioniert, als die, die jeden Tag drinsitzen oder jüngst noch dringesessen haben: Schüler/-innen und Student/-innen. Und genau die setzten sich vom 23. bis 25. November 2018 im Rathaus Dresden auf Einladung des Fortschritt-Vision-Diskurs e.V. in einer 24-Stunden-Diskussion zusammen, um Vorschläge zu erarbeiten, wie Sachsen und sein Bildungssystem verändert werden könnten.
Hierbei handelte es sich um die erste Veranstaltung dieser Art, die vom Verein durchgeführt wurde. „Unsere Ziele haben wir bereits im Vorfeld klar definiert. Junge Menschen und Jugendliche sollen zusammenkommen und über verschiedene Themen diskutieren und sich austauschen. Dabei geht es nicht darum, das Gegenüber immer von der eigenen Meinung zu überzeugen, sondern auch die Perspektiven anderer Menschen im Gespräch wahrzunehmen“, erklären Sven Richter und Theo Spitzner den Ansatz.
Am 13. März übergab der Verein die Ergebnisse des Workshops an Ministerpräsident Michael Kretschmer, Landtagspräsident Matthias Rößler und Kultusminister Christian Piwarz. Und wenn er seine Arbeit als Minister ernst nimmt, bietet das Papier eine gute Arbeitsgrundlage. Es ging nicht nur um „Extremismusprävention in Sachsen“ und „Smart Cities“, diese beliebten Erwachsenenthemen.
Es ging auch um die Art des Lernens in Sachsen – ganz abgesehen davon, dass die jungen Leute der Regierung den selbst verschuldeten Lehrermangel mehrfach unter die Nase rieben. Aber schon beim Thema Lehrermangel merken die jungen Leute an: „Ein neues modernes Schulsystem würde sich ebenfalls attraktiv auf Personen auswirken, die darüber nachdenken, in Sachsen Lehrer zu werden.“
Beim Thema Schulunterricht wurden sie dann noch konkreter. Und man staunt, dass all das so auch schon vor 40, 50 Jahren diskutiert wurde. Aber augenscheinlich stehen deutsche Landesregierungen derart unter Kontrollzwang, dass sie lieber alles durchregulieren, als die Sache wirklich mal den erfahrenen Pädagogen zu überlassen.
„Der Unterricht soll vielfältiger werden. Mehr Freiheiten im Lehrplan können zu mehr Praxisbezogenheit im Unterricht führen, so die Meinung der Teilnehmenden. LehrerInnen sollen den Unterricht persönlicher gestalten, um auf die individuellen Bedürfnisse der SchülerInnen besser eingehen zu können. Auch handwerkliche Fertigkeiten sollen durch Projekte gefördert werden“, kann man da im Ergebnispapier nachlesen.
Und eine deutliche Kritik am Schubladenunterricht, der nicht nur die Jugendlichen anödet und demotiviert: „Eine neue Fächerzusammensetzung sei besonders wichtig, um das Denken in ‚Schubladen‘ zu minimieren. Zwischen den einzelnen Schulfächern bestehen teils große inhaltliche Überschneidungen. Allerdings werden die Themen häufig zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Lehrplan besprochen. Ein gesamtheitliches Denken bleibt dabei aus.
Vorgeschlagen wurde die Idee, das Lernen bis zur 9. Klasse besonders auf das Allgemeinwissen zu fokussieren. Allgemeinwissen soll hier aus den Bereichen Kommunikation und Sprache, logische Zusammenhänge, soziale Kompetenz, Rechnen, Lesen und Schreiben bestehen. Danach werden die SchülerInnen durch eine neue individuelle Fächerwahl stärker zum freiwilligen Lernen animiert. Hierbei ist vor allem ‚das Lernen‘ zu lernen wichtig, um die SchülerInnen optimaler auf ihren weiteren Bildungs- und Berufsweg vorzubereiten. Als positives Beispiel wurde die Fächerwahl in den USA genannt. So ein System stärkt auch die Selbstverantwortung.“
Das sind ganz unübersehbar Ideen, die den selbstbewussten, neugierigen Schüler fördern.
Ansatzweise ist es eigentlich ein Programm, das die sächsische Bildungspolitik zwingen würde, über ihren eigenen Schatten zu springen.
„Allgemein soll eine andere Fächerzusammensetzung und ein anderes Bewertungssystem weniger negativen Stress bei den SchülerInnen auslösen und ‚Bulimielernen‚ vermeiden“, heißt es weiter. „Unter einem anderen Bewertungssystem stellten sich die Teilnehmenden ein System vor, in dem auch die Selbstreflexion und mündliche Rückmeldung verstärkt eine Rolle spielen. Es könnte zielführender sein und den SchülerInnen besser ihre Probleme bzw. Fehler aufzeigen, als es bei einer Note der Fall wäre. Ein starrer Frontalunterricht wurde als nicht mehr modern eingestuft. Es sollte verstärkt auf Gruppenarbeit und eine persönliche Gestaltung des Unterrichtes geachtet werden.“
Da wundert man sich nur: Warum hat Sachsen dann 1990 das alte Bildungssystem von Baden-Württemberg übernommen? Denn das bedeutet ja unter sächsischen Verhältnissen genau das: Schubladendenken, Bulimielernen und Demotivierung fast aller Schüler, auch der begabten. Man ahnt nur, was in den vergangenen 30 Jahren für kreatives und kluges Potenzial in Sachsen verschenkt und verschreckt wurde. Oder einfach abgewürgt.
Und den jungen Leuten war sehr wohl bewusst, dass das, was sie in der Schule erleben, ein Spiegel der Gesellschaft ist: „Der gesellschaftlichen Stigmatisierung von einzelnen Bildungswegen muss entgegengewirkt werden. So kann auch vermieden werden, dass jemand anfängt zu studieren, obwohl es nicht zu seiner Persönlichkeit passt. Es gab zahlreiche Ideen für ein Nachhilfesystem. Ältere Schüler könnten verstärkt jüngeren Schülern Nachhilfeunterricht erteilen bzw. auch bei Hausaufgaben unterstützen. Weiterhin wurde auch eine Elitenförderung gewünscht und eine verstärkte Unterstützung von SchülerInnen, die drohen, den Anschluss zu verlieren.“
Der Themenkanon war am Ende so umfangreich, dass auch noch Vorschläge zu Themen wie Marktwirtschaft, Protektionismus oder Geschlechtergerechtigkeit behandelt wurden.
Letzteres ein Thema, bei dem sich die jungen Leute erstaunlich überfordert fühlten. Augenscheinlich ist die Informationslage dazu für die meisten tatsächlich sehr schlecht, wenn es im Ergebnis heißt: „Ein pauschaler Vorwurf an eine Generation, dass sie sexistisch sei und die herrührenden Unterschiede daher bestehen, erschien nicht sinnvoll. Darüber hinaus wurde das Thema Gender Pay Gap sehr kontrovers diskutiert. Gerade über die Interpretation von statistischen Werten waren sich die Teilnehmenden nicht einig. Als Grund wurde eingebracht, dass Gehaltsverhandlungen von Männern in der Regel aggressiver geführt werden als von Frauen. Letztendlich konnte kein gemeinsamer Konsens in diesem Zusammenhang erreicht werden.“
Da schaut man dann auf die Ideen zur Digitalisierung in den Schulen und merkt: Desinformation zeigt Wirkung. Die jungen Leute (und die meisten hier Beteiligten studieren ja sogar) glauben tatsächlich, in der Schule müsste Medienkompetenz vermittelt werden. Und zwar irgendwie so: „Ein Bewusstsein für die Gefahren im Internet muss so früh wie möglich entwickelt werden. Im Idealfall gibt es ein extra Fach, in dem der Nutzen und die Funktionen von unterschiedlicher Technik und dem Internet mit entsprechend geschulten Lehrern erarbeitet werden. Auch der Umgang mit Internetquellen kann in diesem Fach erfolgen.“
Und dann liest man wenig später, wie schwer es den Beteiligten fällt, an belastbare Informationen zur Gesellschaft oder zu politischem Engagement zu kommen. Genau das scheint niemand zu lehren. Obwohl das eine Grundvoraussetzung sein müsste, um in einer Informationsgesellschaft tatsächlich gut informiert zu sein.
Man merkt, dass die jungen Workshop-Teilnehmer so eine Ahnung haben, wo es in der Schule klemmt. Wo es in der Gesellschaft klemmt, lernen sie bislang auch in der Schule nicht. Das erweist sich hier als großer blinder Fleck. Denn es geht ja nicht um irgendeinen „Umgang mit Internetquellen“, sondern um den kompetenten Umgang mit jeglicher medialen Quelle.
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