Dass es im deutschen Bildungssystem zahlreiche Missstände gibt, bestreiten mittlerweile nicht mal mehr jene, die dafür mitverantwortlich sind. In Leipzig hat sich vor einigen Monaten die Gruppe „Lernfabriken… meutern!“ gegründet. Diese möchte auf die bestehenden Missstände hinweisen und Alternativen aufzeigen. Im ersten Teil des Interviews spricht Albert Haas über die Hintergründe der Entstehung der Gruppe, ihre Mitglieder und die inhaltlichen Schwerpunkte.

Wann und warum hat sich die Gruppe „Lernfabriken… meutern! Leipzig“ gegründet?

Wir haben uns im Februar dieses Jahres gegründet. Anlass waren die Bestrebungen des deutschlandweiten Bündnisses „Lernfabriken… meutern!“. Auf dessen Initiative haben sich an zahlreichen Orten lokale Ableger gegründet. Am 21. Juni wird es dann in verschiedenen Bundesländern gleichzeitig Demonstrationen gegen das aktuelle Bildungssystem geben.

Gibt es ein konkretes Ereignis, das euren Protest ausgelöst hat?

Nein. Das hat uns im Übrigen viel Kritik eingebracht. So haben wir oft den Vorwurf erhalten, unser Bildungsprotest erfolge ohne Sinn und Verstand. Wir seien eher so ein paar linke Studis, die Revolution spielen wollen und sich irgendwie beschäftigen müssten. Unsere Selbstwahrnehmung ist natürlich eine andere. Wir finden die Zustände im sächsischen Bildungssystem skandalös genug und halten deswegen eine Vernetzung von allen Betroffenen für absolut notwendig.

Damit meinen wir vor allem Lehrer*innen, Dozierende, Studierende und Schüler*innen. Gemeinsam lässt sich ein gesellschaftlicher Druck erzeugen, der Probleme zunächst thematisiert und zudem für politische Lösungen mobilisiert. Dass ein solcher Prozess nicht einfach ist, war uns im Vorhinein klar.

Wer gehört zu eurer Gruppe dazu?

Einen erheblichen Teil der organisatorischen Arbeit übernehmen der Stadtschülerrat und die Schüler*innengruppe „Jugend gegen Rechts“. Auch das Jugendparlament der Stadt Leipzig hat uns seine Unterstützung zugesagt. An der Universität engagieren sich motivierte Einzelpersonen aus verschiedenen Kontexten. Zum einen ist natürlich der Studierendenrat der Universität Leipzig involviert. Gleiches gilt aber auch für zahlreiche Fachschaftsräte und den Stura der HTWK. An hochschulpolitischen Gruppen beteiligen sich vor allem Teile der „Kritischen Lehrer*innen“ Leipzigs und Teile des Sozialistisch-Demokratischen Studierendenverbands SDS.

Doch auch die Mittelbauinitiative der Universität Leipzig und die DGB-Hochschulgruppe haben im Rahmen unseres Aktionsmonats Veranstaltungen mit uns durchgeführt. Kontakte bestehen zur neu gegründeten Hochschulgruppe der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und zur „Jungen GEW“. Besonders stolz sind wir darauf, dass sich auch Lehrende und Professor*innen zu einer Zusammenarbeit bereit erklärt haben. Am bekanntesten ist hiervon Cornelius Weiss, ehemaliger Rektor der Universität Leipzig und ehemaliges Mitglied des sächsischen Landtags für die SPD.

Ihr beschäftigt euch mit Mängeln im Bildungssystem. Auf welchen Themen liegt dabei der Schwerpunkt?

Unseren inhaltlichen Schwerpunkt legen wir auf die Funktion von Schule und die Ziele von Bildung. Im Lehramtsstudium werden in diesem Zusammenhang die vier Funktionen von Helmut Fend (1980) gelehrt. Diese sind: Qualifikation, also Vorbereitung auf Arbeitswelt und gesellschaftliche Funktion, Sozialisation, also Vermittlung gesellschaftlich erwünschten Verhaltens, Selektion, also Auslese und Zuweisung der sozialen Position, und Legitimation, also Loyalität gegenüber und Integration in die Gesellschaft.

Wir finden diese Punkte viel zu affirmativ. Sie gehen davon aus, dass wir bereits in einer perfekten Gesellschaft leben und Kinder sowie Jugendliche nur noch in diese integriert werden müssen. Oder polemisch ausgedrückt: Die Gutsituierten, Braven und Angepassten gewinnen in einem ständigen Wettkampf das Rennen um die besten Jobs der Erwachsenenwelt. Bildungsinhalte sind dabei egal, wichtiger ist das Erbringen von Leistung und die Akzeptanz der sozialen Bedingungen.

Was sind die wesentlichen Unterschiede zwischen den “Lernfabriken”, so wie ihr sie aktuell vorfindet, und Bildungseinrichtungen, die euren Idealvorstellungen entsprechen?

Hinter unserer in der vorherigen Antwort aufgeführten Kritik verbirgt sich ein grundsätzlicheres Problem. Bildung folgt unserer Meinung nach einer Verwertungslogik. Sie wird nach einer Kosten-Nutzen-Rechnung gestaltet und soll die Funktionsfähigkeit der bestehenden Gesellschaft sicherstellen. Ziel ist nicht eine menschlichere Welt. In unserer Idealvorstellung ist Bildung hingegen eine Form der Selbstbildung. Sie beginnt bei den Fragen „Wie ist die Welt?“ und „Wie möchte ich leben?“.

Es geht also um die Einzelne*/den Einzelnen und um echten Erkenntnisgewinn. Darin begreifen wir das emanzipatorische Potenzial. Angesichts der sozialen und ökologischen Krisen sollte es nicht darum gehen, das Bestehende zu reproduzieren, sondern zu überlegen, wie sich die Welt verändern lässt.

Was ist euer Ziel?

Eine Gesellschaft mit einem Höchstmaß an Freiheit, Gleichheit und Solidarität. Das ist immer ein Aushandlungsprozess und kein unmittelbar zu verwirklichender Idealzustand. Trotzdem sind wir der Ansicht, dass alle Menschen daran teilhaben können und auch sollten. Anderenfalls verstärkt sich die soziale Ungleichheit und befeuert damit den Nährboden für Verschwörungstheorien, Antisemitismus, Rassismus, Nationalismus, völkisches Denken und so weiter.

Im zweiten Teil des Interviews spricht Albert Haas über die konkrete Situation in Sachsen, selbstgemachten Lehrermangel, Schulabbrecher, kommende Infoveranstaltungen der Gruppe und das Ziel der Demonstration am 21. Juni 2017.

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