LEIPZIGER ZEITUNG/Auszug aus Ausgabe 39Normalerweise halten sich Lehrer und Lehrerinnen eher zurück mit öffentlicher Kritik rings um das Thema Schule. Vor allem wohl und gerade in Sachsen. Doch mancher hat den Mut, sich seines Verstandes nicht nur zu bedienen, sondern die Ergebnisse des Denkens auch auszusprechen. Für die LEIPZIGER ZEITUNG hat der Gymnasiallehrer für Deutsch und Geschichte, Jens-Uwe Jopp, über die selbsterlebten Veränderungen in der Bildungslandschaft im Freistaat seit der Wende sinniert. Hier ist der erste Auszug aus dem Text aus der Ausgabe 39 der LZ „Bildunk. Vür alle!“.

Gleich vorab: Ich wollte nie Lehrer werden. Der Ruf ereilte mich nie. Wir spielten gutes Studentenkabarett, ich hatte wie so viele während der Transformation – der „Wende“ – 1989/90 ein Gefühl von Frischzellenkur. Als seien alle Gesellschaftsfenster aufgegangen – nur eben noch nicht in der Schule. Ich hatte mich ins Hochschulleben eingefunden, war fast 24, gut „vernetzt“, es machte einfach Spaß zu Beginn des letzten Jahrtausendjahrzehnts. Zu denken, zu diskutieren und Probleme zu lösen. Ich war dabei zweierlei sozialisiert: Der politisch-intellektuelle Kabarettist, der aber eher landläufig daherkam. Ich kannte jetzt zwei Welten. Dorfidyll und Stadtvielfalt. Anderen ging es ähnlich.

Wir waren politisch, kritisierten die politischen „Schnäppchenjäger“ – die waren wohl schon immer gesamt-deutsch – daneben studierten wir im eigentlichen Wortsinne.

Studieren bedeutet „Sich-Vertiefen“ können, langsam denken zu können. Das war 1992. Aber nach 6 Jahren Lehrerstudium dachte ich trotzdem noch nicht pädagogisch. Was den Lehrerberuf betraf, zum ersten – und nicht zum letzten Mal – eher satirisch.

Pädagogisch?

Was soll das sein? Unterrichtsstoff vermitteln? Das hatte ich natürlich schon im Praktikum als Student erfahren können. Immer unter den kritischen Augen des Mentors in einer 5. Klasse. Die Begeisterung war mäßig, man war sich seiner Rolle und Aufgabe damals eben nicht bewusst. Wurde seltsam passiv assimiliert. Aber mit größeren Schülern solidarisierte man sich schon, die Plakate malten gegen den 1. Irak-Krieg, man dachte genauso und meine Sozialisationserfahrungen der frühen Jahre kamen mir zugute. Man kannte sich eben in Engelsdorf.

Das war schon spannend, lustig bisweilen, das wachsende demokratische, pluralistische Bewusstsein und die damit einhergehende Verunsicherung an der Basis zu sehen, mitzumachen. Fragte mich ein Kollege, ob er denn jetzt noch die Aprilthesen von Lenin und den Bauernkrieg von Müntzer unterrichten dürfe. Auch betonte der Kollege, im Zweitfach Deutschlehrer – „Ich muss doch jetzt wieder zwei Fächer geben“ – die Tragödie von Sophokles „Antigone“ irgendwie seltsam. Am Nachmittag dann Diskussionen zur neuen Schulordnung und wo die Raucherinsel anzusiedeln sei, schnell weiter zur obligatorischen Fortbildung „Stalinismus und Nationalsozialismus im synchronoptischen Vergleich“, Teilnehmerschein unterschreiben lassen und nach Hause. Stoffverteilungsplan erstellen.

Stoffverteilung?

Am neuen Gymnasium. 1992 hatte ich wieder unverhofft Glück, da man mir das wirklich ehrwürdige Humboldt-Gymnasium als Parkett für die Praxiskür zuwies. Referendariat an der ehemaligen Erweiterten Oberschule, der ältesten der Stadt. Ich konnte in Leipzig bleiben, weiter Kabarett spielen.

Damals ging es noch etwas anders, es war auch anders geplant als heute. Zwei Monate konsequentes Hospitieren, nicht sofort in die Klasse stürzen. Schauen, kommunizieren, lernen als neuer Lehrer. Wir brachten den Stoff mit – unsicher, ob es reicht für die Schule – die älteren Kollegen das pädagogisch-praktische Know-How – unsicher, ob es reicht für die neue Zeit. Der Ort war und ist zweitrangig, es verschlug auch damals schon manch einen ins entfernte Plauen zum ersten Einsatzort.

Eine Station im Lehrersein von Jopp in der Anfangszeit - das Humboldt Gymnasium. Foto: L-IZ.de
Eine Station im Lehrersein von Jopp in der Anfangszeit – das Humboldt Gymnasium. Foto: L-IZ.de

Es gäbe doch dort jetzt neu gebaute, preiswerte Eigentumswohnungen, kam die Antwort vom Regionalschulamt. Sensibilitäten und Ämter – Aussetzer gab’s da schon früher. In die Schulen unterschiedlichster Ausrichtung strömten die Referendare und Absolventen, wenn die sich wiederum die zusätzliche Zeit fürs Zweite Staatsexamen geben wollten. Mentor und Schützling lernten gemeinsam voneinander, man diskutierte Inhalte, baute Fachschaften und -konferenzen auf, organisierte Fahrten nach Rom und Paris, plante opulente Theateraufführungen, Konzerte und Ausstellungen.

Es wurde, konnte nicht gespart werden an Fördermitteln, zumindest angefüttert mussten die Alten und die Jungen werden.

Eine gute Mischung des Alters machte es zusätzlich dynamisch, dieses neue, vieldimensionale Schulleben. Ich spürte am Humboldt-Gymnasium eine starke Verantwortung für das neue, exotische Gewächs, was man wieder – glücklicherweise – zugeworfen bekam, die Metamorphose der Pflanze natürlich noch nicht vorhersehend.

Metamorphose?

Es tat sich einiges. Der Schwung im alltäglichen Schulleben übertrug sich, Freude entstand bei der Arbeit. Mit überschwänglichem Erfolg wurden Theateraufführungen gestemmt, sich an Musicals versucht, ich mittendrin. Kaum ein Schüler, der nicht dabei war. Auf der anderen Seite kam von der Politik schon mal „faule Säcke“. Ende der 90er Jahre, merkte man, dass die Anerkennung ausblieb. Finanzielle Gleichstellung beispielsweise nicht Schritt hielt mit der anstrengenden Intensität des Unterrichtsalltags. Immer mehr bürokratische Last verteilte sich auf weniger gesunde Schultern.

Die sollten zusammenrücken, wurden dabei älter, brannten schneller aus als gedacht. Es entwickelte sich ein verkehrtes „Hase-und-Igel-Spiel“: Das Amt begann den Lehrern hinterherzurennen. Das Bildungsministerium seinen Angestellten, der Überbau sozusagen der Basis. Es trieb sie mit neuen Durchführungsbestimmungen, Oberstufenverordnungen und Novellen vor sich her, gleichzeitig begannen die Kolleginnen und Kollegen sich zu fragen, wozu denn ein immer größerer Haufen an Arbeit entstand, aber immer weniger an Entlastungsvarianten gedacht wurden.

Schulämter mussten immer häufiger erklären, warum freiwillig auf Lohn verzichtet werden sollte, es könnten doch Entlassungen drohen – dabei stiegen die Geburtenzahlen – jeder konnte wissen, dass man Schulen nicht gleich schließen muss, nur weil der Nachwuchs vorübergehend auf sich warten lässt – kurz, der Unmut wurde stärker beim Wechsel an ein Gohliser Gymnasium. Spätestens um die Jahrtausendwende entstanden zwei Lager – mit unterschiedlichen Interessen.

Die einen wollten nicht und die anderen konnten bald nicht mehr. Kollegien dünnten personell aus, Referendare wurden ausgebildet und nach Bayern und Baden-Württemberg geschickt.

Die neue LZ Ausgabe 39. Bild: Leipziger Zeitung
Die neue LZ Ausgabe 39. Bild: Leipziger Zeitung

Kein gutes Gefühl …

Man siegte zwar regelmäßig bei PISA, hatte sehr gute Abidurchschnitte, hatte bei der Arbeit dennoch kein gutes Gefühl. Unterrichtszeiten wurden immer länger, SchülerInnen begannen sich mit Hausaufgaben zu entschuldigen. Man ging morgens ins Dunkle und kam abends daher. Früher, sagte man sich, waren die Winter auch lang.

Seminare zu Stress- und Zeitmanagement an Fortbildungstagen lösten das Problem nicht, zeigten nur, das man sich an Pink Floyds „Another brick in the wall“-Video erinnert fühlte. Als Funktionsrädchen im Getriebe. Erholung musste her, so oft wie möglich. Zumindest so oft wie nötig. Raus aus der Mühle war immer stärker angesagt. Und die Ämter sollten das verstehen. Taten sie aber nicht.

Am Bildungskarren wurde jetzt nur noch herumgeflickt. Dort mal eine kleine Lohnerhöhung, Gehaltanpassung, ein, zwei Neueinstellungen, die nicht den Ausfall kompensierten. Eine renovierte Bibliothek, für die Klassenzimmer reichte das Geld schon nicht mehr, da mussten Malerbrigaden aus Elternkreisen antreten. Der Subbotnik als stalinistisches Relikt wurde reaktiviert und wieder normal. Das kostenlose Arbeiten in der Freizeit und in den Ferien. Die Toilette musste schon mal gesperrt werden, die Aula wegen fehlender Sanierungsgelder auch. Im Vorteil war man, wenn man dann gute Beziehungen zu Eltern in örtlichen Baugeschäften hatte.

„Vorübergehend“ wurde zur gängigen Vokabel. Übrigens unter wachsendem Gegensatz von Stadt und Land.

Während ländliche Strukturen konservativ gehuschelt wurden, lastete der Sanierungsdruck auf der städtischen Kommune umso schwerer, gleich mehrere Objekte im Grundzustand zu erhalten und vernünftig auszustatten. Eines war auf jeden Fall zu beobachten und zu spüren: Es wurde immer „kapitalistischer“ an der Schule, das Bildungswesen sah der Ökonomie immer ähnlicher. Wir rannten hinterher. Und die Ämter und Ministerien in Sachsen kamen mit Erklärungen hinter uns her. Hatten wir etwas übersehen? Unterschätzt?

Ganz offenbar. Gottfried Böhme, Lehrer für Deutsch und Gemeinschaftskunde am Evangelischen Schulzentrum in Leipzig, warnte bereits 1993(!) vor den Gefahren der Ökonomisierung von Bildung und Wissenschaft, vor falschem Sparzwang und dem daraus folgenden Bildungsverfall. Wie Recht hatte er doch.

Teil 2 der “Innenansichten eines Lehrers” hier auf L-IZ.de. Weitere Beiträge aus & über die LEIPZIGER ZEITUNG auf L-IZ.de.

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