Die sächsische FDP glaubt noch immer, dass die einst von ihr durchgesetzte zweite verpflichtende Bildungsempfehlung in der 6. Klasse die Durchlässigkeit des sächsischen Bildungssystems erhöht habe. Der Landesvorsitzende Holger Zastrow zeigte sich am Donnerstag, 24. November, genauso empört über den neuen Gesetzentwurf von CDU und SPD wie die Linkspartei.

„Erneut hat sich die CDU von der SPD wie schon in der letzten Koalition bei der Bildungsempfehlung über den Tisch ziehen lassen“, polterte er. „Der objektive Notendurchschnitt in drei Fächern in der Grundschule wird aufgeweicht und die zweite Bildungsempfehlung in Klasse 6 komplett abgeschafft. Damit steigt der Druck auf Schüler, Eltern und Lehrer, sich final bereits in Klasse 4 für das Gymnasium zu entscheiden. Unter diesem Erwartungsdruck leiden vor allem die Schüler. Zudem verringert sich die Durchlässigkeit des sächsischen Schulsystems für ‚Spätstarter‘.“

So ganz nebenbei aber machte er damit deutlich, dass die zweite Bildungsempfehlung das eigentliche Problem am sächsischen Bildungssystem nicht gelöst hat. Denn dass viele Eltern mit der Regelung unzufrieden sind, hat ja nur zum Teil mit der starren Bevormundung durch eine bürokratische Regel zu tun, die die Entscheidungshoheit der Eltern außer Kraft setzte.

Zastrow sprach ja nicht zufällig von „Spätstartern“: „Mit der Einführung einer obligatorischen zweiten Bildungsempfehlung in Klasse 6, der Einführung der zweiten Fremdsprache und Leistungskursen an Oberschulen hatte die FDP in der früheren CDU/FDP-Regierung durchgesetzt, dass ein Wechsel von ‚Spätstartern‘ auf das Gymnasium nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der Praxis möglich ist.“

Wobei schon die Bezeichnung „Spätstarter“ obskur ist. Denn die frühe Trennung von Leistungsstärkeren und scheinbar Leistungsschwächeren stammt ja aus einer Zeit, als die Schulwahl noch gar nicht vom Leistungsniveau der Kinder abhing, sondern von ihrer sozialen Herkunft – und der damit absehbaren beruflichen Laufbahn.

Die Bürger des Ostens hatten da ja schon längst ein deutlich moderneres Bildungssystem erlebt, das 1990 in Windeseile abgewickelt wurde, weil es nicht zum überkommenen Ausleseprinzip des Westens passte.

Was die Chancenlosigkeit von Kindern aus finanziell schwachen Familien wieder zementiert hat.

„Wir halten es grundsätzlich für falsch, junge Menschen nach der vierten Klasse auszusortieren. Diese Schulstruktur stammt von 1919, sie ist überholt“, sagt Cornelia Falken, Sprecherin der Linksfraktion für Bildungspolitik. „Wir stehen für längeres gemeinsames Lernen mindestens bis zur Klasse 8. Bis dahin muss der Übergang zur weiterführenden Schule so geregelt werden, dass die Verfassung nicht verletzt wird. In Art. 101 Abs. 2 sichert sie ‚das natürliche Recht der Eltern, Erziehung und Bildung ihrer Kinder zu bestimmen‘. Im Kern geht es um die Frage, ob und wie der Staat die freie Schulwahl der Eltern einschränkt.“

Eltern, die ihr Kind trotz einer Bildungsempfehlung für die Mittelschule an einem Gymnasium anmelden wollen, sollen künftig ein verpflichtendes Beratungsgespräch und ihre Sprösslinge eine „schriftliche Leistungserhebung ohne Benotung“ absolvieren müssen.

„Wie das konkret aussehen soll, will das Kultusministerium als oberste Schulaufsichtsbehörde weiter selbst bestimmen“, geht Falken auf den tief verwurzelten Hang zum vormundschaftlichen Staat in Sachsen ein. Was eine Menge mit dem elitären Bildungsdenken in Deutschland zu tun hat, das eben nicht alle Talente fördert, sondern frühzeitig aussortiert, wer die starren Leistungsparameter nicht bringt. Der Kultusbürokratie gefällt das. So bekommt man normierte Bildungsprodukte.

„Sie behält sich so die Möglichkeit vor, an Eltern und Gesetzgeber vorbei unverhältnismäßig strenge Kriterien für den Übergang ans Gymnasium aufzustellen“, vermutet Falken. „Es ist gut und notwendig, dass unsere guten und engagierten Lehrkräfte die Eltern bei der Schulwahl pädagogisch begleiten. Am Ende muss die Entscheidung allerdings – trotz aller Beratungsgespräche und Prüfungen – wirklich bei den Eltern liegen, wenn die Regelung verfassungsgemäß sein soll. Indes begrüßen wir es als entlastenden Schritt, dass künftig in der 6. Klasse keine Bildungsempfehlungen mehr geschrieben werden müssen.“

Dass Cornelia Falken das Jahr 1919 nennt, hat mit dem Weimarer Schulkompromiss zu tun, bei dem konservative Parteien schon in der Frühzeit der Weimarer Republik die Schaffung eines modernen Bildungssystems in Deutschland verhinderten und die alte dreigliedrige Schule fortschrieben. Damit wurde bis heute die Schaffung einer Gesamtschule und die Aufhebung der Kleinstaaterei im deutschen Bildungswesen verhindert. Vieles, was heute als scheinbar modern und liberal daherkommt, ist alter Tobak aus feudalen Zeiten. Die „Bildungsempfehlung“ gehört dazu.

Denn wenn Kinder gemeinsam bis zur achten Klasse lernen, sind sie in einem Alter, in dem sie selbst selbstständig ihre Wahl treffen können. Was nicht heißt, dass eine Oberschule ein geringeres Niveau haben muss als ein Gymnasium. Nur die Praxisorientierung ist am Ende eine andere.

Aber wenn sich immer wieder das obrigkeitliche Denken von vor 1919 durchsetzt, bekommt auch Sachsen nie ein Bildungssystem, das tatsächlich allen Landeskindern die Chancen auf gleichen Bildungszugang eröffnet.

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