Nicht nur der Landesschülerrat hat nun seit Monaten darauf gewartet, dass das sächsische Kultusministerium endlich genaue Zahlen zu Schulen, Schülern, Lehrern und Klassengrößen im Schuljahr 2015 / 2016 vorlegt. Da die allgemeinbildenden Schulen die Zahlen im September melden mussten, hätte das Zahlenwerk spätestens im Oktober vorliegen müssen. Aber selbst am 3. Dezember gab es nur ein paar Alibi-Zahlen.

Dabei hätte das Ministerium auch im Juni schon deutlich konkretere Zahlen haben müssen. Damals hatte die Linke-Landtagsabgeordnete Cornelia Falken nachgefragt – und bekam eine ausweichende Antwort des Kultusministeriums. Das haben sächsische Ministerien jetzt mittlerweile geübt. Man lässt sich auf keine konkreten Zahlendiskussionen mehr ein wie noch zu Zeiten von Roland Wöller. Wenn es keine öffentlichen Zahlen gibt, kann auch niemand über fehlende Lehrer und ausufernde Klassengrößen debattieren.

Aber dass da ein Berg ungelöster Fragen liegt, das konnte selbst der LandesSchülerRat Sachsen aus der mehr als oberflächlichen Meldung des Kultusministeriums herauslesen. Er sieht sich mit den neu veröffentlichten Schülerzahlen bestätigt, weiterhin an das Land für eine komplexere Einstellung von Lehrern zu appellieren. “Dass in Sachsen derzeit 2.600 Schüler mehr als bislang angenommen unterrichtet werden, lässt Befürchtungen über zu große Unterrichtsklassen, besonders in den Städten, aufkommen. Ausgehend von 28 Schülern pro Klasse wurden so ungefähr 90 Klassen überplanmäßig benötigt”, stellt der Landesschülerrat fest.

Gemeldet hatte das Kultusministerium: “In Sachsen sind die Schülerzahlen im Schuljahr 2015/16 an öffentlichen Schulen erneut weiter angestiegen und liegen mit 2.600 Schülern sogar über der derzeitigen Prognose des Statistischen Landesamtes. Nach der vorläufigen Schulstatistik des Kultusministeriums besuchen im laufenden Schuljahr 388.753 Schüler die 1.352 öffentlichen allgemeinbildenden Schulen und Berufsschulzentren im Freistaat. Das Statistische Landesamt ging von etwa 386.082 Schülern aus. Im Vergleich zum letzten Schuljahr sind das rund 6.700 Schüler mehr. So stark hat die Schülerzahl seit 1995 nicht mehr zugenommen. Einen enormen Zuwachs an Schülern gab es vor allem in den Ballungsräumen Leipzig (plus 2.439 Schüler) und Dresden (plus 2.364), gefolgt von den Regionen Chemnitz (plus 1.093), Bautzen (plus 699) und Zwickau (plus 127).”

Das hätte genauer kommen müssen. Etwa zu Leipzig. Denn selbst die hier preisgegebenen Zahlen verraten, dass das Kultusministerium eigentlich keine verlässlichen Planungsgrundlagen mehr hat. Denn die Prognosezahlen des Landesamtes für Statistik sind für den Mülleimer. Das teilen sogar die Landesstatistiker auf ihrer Website (indirekt) selber mit: Sie haben dort jetzt die regionalisierte Bevölkerungsprognose des Bundesamtes für Statistik vom Herbst 2015 eingestellt, weil die eigenen Prognosezahlen völlig veraltet sind. Die stammen vom 30. November 2010 und haben Ausgangszahlen vom Dezember 2008 zur Grundlage.

Was das genau bedeutet, sieht man am Beispiel Leipzig: Da hat diese zugrunde gelegte Bevölkerungsprognose für das Schuljahr 2015/2016 eine Schülerzahl in den Allgemeinbildenden Schulen von 43.200 ergeben. Diese Schülerzahl wurde aber schon 2014 überschritten mit 43.472 Schülern. Seit 2010 kommen die verstärkten Geburtenjahrgänge in den Leipziger Schulen an und lassen die Schülerzahlen kräftig ansteigen. Wenn die 2.439 Schüler Zuwachs fürs Schuljahr 2015/2016 stimmen, dann hat Leipzig jetzt 45.911 Schülerinnen und Schüler in den Allgemeinbildenden Schulen, eine Zahl, die die Landesstatistiker erst für das Schuljahr 2018/2019 vorausgesagt haben.

Wenn das Ministerium hier von einem “enormen Zuwachs” spricht, dann deutet alles darauf hin, dass man im Kultusministerium mit den uralten Prognosezahlen von 2010 arbeitet, die sichtlich mit der Realität nicht viel gemein haben. Aber das hat Folgen – angefangen von der miserablen Schulhausbauförderung für die Kreisfreien Städte, die die Kinder irgendwie in den Schulgebäuden zusammenquetschen müssen, bis hin zu fehlenden Lehrern.

Der Blick auf die prognostizierten Schülerzahlen für ganz Sachsen zeigt, dass die Staatsregierung überhaupt nicht mit wachsenden Schülerzahlen gerechnet hat. Tatsächlich  ging man bis 2024 nur von leidlich stabilen Schülerzahlen in den Allgemeinbildenden Schulen aus, danach von einem deutlichen Rückgang.

Übrigens ein Effekt der Prognosezahlen von 2010, den man genau so auch in den Planungen der anderen Ministerien findet. Man baut eine ganze Staatspolitik auf diesen alten Zahlen auf (die schon 2010 nicht mit der Realität übereinstimmten) und ignoriert alle Folgen im Land. Ganz exemplarisch bei Lehrereinstellungen. Die passten zwar prima zur veralteten Schülerprognose aber nicht zur wirklichen Entwicklung.

“Durch den größten Zuwachs seit 20 Jahren in den Schulen und den neu veröffentlichten Zahlen sollte die Landesregierung die Zahl der Neueinstellungen im kommenden Februar überdenken. Die 160 geplanten neuen Lehrerstellen im Winter sind nach Auffassung des LandesSchülerRates zu wenig, um den Abgang von Lehrern mit den für das Land überraschend steigenden Zahlen ausreichend zu kompensieren”, stellt selbst der Landesschülerrat dazu fest. Aber die jungen Leute haben halt noch Mathematik im Unterricht und merken im normalen Stundenausfall, was es heißt, wenn einfach nicht genug Lehrer da sind. “Der Anstieg der Schülerzahlen ist dem Land seit mehreren Jahren bekannt und muss für die kommende Zeit ein Grund mehr sein, bei den Neueinstellungen von Lehrern nachzubessern. Mit dem Überschuss von 2.600 Schülern in der Statistik werden sowieso deutlich mehr Lehrer benötigt.”

Mit diesen veralteten Prognosezahlen von 2010 arbeitet das sächsische Kultusministerium. Grafik: SMK, Freistaat Sachsen
Mit diesen veralteten Prognosezahlen von 2010 arbeitet das sächsische Kultusministerium. Grafik: SMK, Freistaat Sachsen

Dumm nur, dass die reelle Entwicklung der Zahlen die Landesregierung nicht die Bohne juckt. Selbst die Meldung vom 3. Dezember betonte ja ausdrücklich, dass man mit den Prognosen von 2010 plant, nicht mit den realen Schülerzahlen.

Das logische Ergebnis, über das die Ministerin lieber gar nicht detailliert berichtet: Die Klassengrößen blähen sich auf.

Der Landesschülerrat dazu: “Eine Begrenzung der Neueinstellungen, obwohl eigentlich nötig, führt zu einer deutlichen Steigerung der durchschnittlichen Zahl an Kindern und Jugendlichen in den Unterrichtsklassen. Mit 23,8 Schülern pro Klasse an Oberschulen und Gymnasien sind die Kapazitäten in vielen Schulen bereits überschritten. Neben Überbelegungen von rund 10 Prozent gegenüber den Schulnetzplänen sehen sich einige Schulen auch mit überfüllten Klassen konfrontiert.”

Der 29. Schüler im Raum dürfe keine Lösung sein, betont der Landesschülerrat. Dabei sind 30 Schüler in Leipziger Gymnasialklassen mittlerweile zum Regelfall geworden. Was der Landesschülerrat befürchtet – die dauerhafte deutliche Überschreitung mit über 28 Schülern – ist in Leipziger Gymnasien schon seit 2014 Normalzustand.

Auch wenn die Schülervertretung warnt: “Derartige Vergrößerungen der Klassenstärke wirken sich sowohl negativ auf die Schüler als auch auf die Lehrer aus. Eine individuelle Förderung wird zwingend zurückgestellt, wodurch die Leistung Einzelner leiden könnte. Auch für die Unterrichtenden stellen solche Größen eine Belastung dar, ebenso wird bereits von unzureichendem Platz in den Unterrichtsräumen und an Lernmitteln berichtet.”

Aber wer will denn leistungsstarke Schüler in Sachsen? Mal von den paar Spitzenschülern abgesehen, die man zu Olympiaden schicken kann?

“Die deutlich höheren Schülerzahlen an sächsischen Schulen zeigen genau das Problem auf, auf welches der LandesSchülerRat und viele weitere bildungspolitische Akteure in den vergangen Jahren so vehement hingewiesen haben”, erklärt dazu der Vorsitzende des Landesschülerrats Friedrich Roderfeld. “Die Einstellungspolitik des Kultusministeriums scheint dem Bedarf nicht gerecht zu werden, das System Schule ist dabei personaltechnisch zu sehr auf Kante genäht. Für die steigenden Schülerzahlen und der zusätzlichen Aufgabe der Integration von Flüchtlingskindern reichen die im Koalitionsvertrag versprochenen Lehrerstellen nicht aus. Ein deutliches Zeichen ist auch der gestiegene Unterrichtsausfall im Vergleich zum letzten Schuljahr. Die Staatsregierung muss das Thema Unterrichtsabsicherung deshalb wieder ganz oben auf die Tagesordnung setzen. Dass Kultusministerin Kurth mit dem Finanzminister Unland in Verhandlungen über neue Lehrerstellen treten muss, zeigt dabei wieder einmal die finanzpolitischen Schwerpunkte dieser Staatsregierung. Die Finanzierung von Bildung muss oberste Priorität haben, sonst werden sich die Probleme bei der Unterrichtsabsicherung deutlich verstärken.“

Die nicht beantwortete Anfrage von Cornelia Falken (Die Linke).

Die (veraltete) Schülerprognose für Leipzig.

Die Meldung des SMK vom 3. Dezember.

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