„Wird das bewertet, Herr Hofmann?“ Ich hasse wenige Dinge im Klassenzimmer, darunter Klassenarbeiten, die direkt in der Unterrichtsstunde vor meinem Unterricht geschrieben werden, unerträgliche Hitze im Zimmer oder fehlende Kreide. Diese Frage jedoch bringt mich regelmäßig an die Grenzen der Selbstbeherrschung, halb-rhetorisch und halb-ernst frage ich zurück: „Spielt es bei der Erledigung der Aufgabe eine Rolle für dich?“
Natürlich spielt es das – ganz egal, was der Schüler antwortet. Ich habe versucht, mit Kraftclub in den Marxismus einzuleiten, Barrikadenkämpfe mit Gummibären nachbauen zu lassen oder jedem Schüler eine Identität aus Harry Potter zu übereignen, um Schule nicht als das Furunkel dastehen zu lassen, was am eigentlichen Teenager-Leben hängt. Aber es hilft nicht – zumindest nicht bei jedem. Egal ob in Klasse 5 oder Klasse 8 oder manchmal auch in Klasse 11: Schule wird als das notwendige Übel betrachtet. Das schöne Wort Wissbegierde hört man wahrscheinlich auch deshalb immer seltener, weil diese Wissbegierde nur noch Merkmal von Randgruppen ist.
Doch woher kommt diese Ignoranz gegenüber Schule? Wieso wird nur noch gelernt um der Noten willen?
Vielleicht hat sich auch nur meine Perspektive geändert. Als Schüler habe ich nicht immer Hurra geschrien, wenn sich Bio- oder Chemie-Lehrer in ihren Fachgebieten austobten. Das könnte aber auch daran gelegen haben, dass beide Fächer von derselben Person unterrichtet wurden, die aber an Unterricht im eigentlichen Sinne kein Interesse hatte. Kurzum: Es ging drunter und drüber und in diesen Naturwissenschaften war der Zug für mich abgefahren. In anderen Fächern hatte ich aber dieses Grundinteresse, die Absicht, etwas lernen zu wollen und – aus der heutigen Sicht betrachtet – auch viele meiner Mitschüler. Diese Frage nach der Bewertung wurde bei uns nicht gestellt.
Sie wird heute gestellt, weil Bildung und Wissen durch den Lauf der Dinge entwertet werden. Wieso muss ich etwas lernen, wenn ich es jederzeit nachlesen kann? Zusammenhänge selbständig erklären zu können, Sachverhalte auf wenige Schlüsse herunterzubrechen, das fällt Schülern schwer. Diese Kompetenzen gehen verschütt, wenn sie nicht regelmäßig gefördert und auch eingefordert werden. Dabei steht auch die Frage im Raum: Hat der Schüler überhaupt verstanden, was er sich aus dem Material angeblich herausgearbeitet hat?
Neulich arbeiteten Schülergruppen an unterschiedlichen Fragestellungen zum deutschen Vormärz und sollten sich danach in Kurzvorträgen über das Gelernte informieren. Ich saß in der hintersten Reihe und bekam schon beim ersten Vortrag eine mittelschwere Krise. Der Nominalstil schien ausgestorben. Die Mitschüler sollten sich Sätze wie „sollten Burschenschaften und Studentenvereinigungen verboten werden“ notieren und das bei insgesamt eigentlich nur fünf Minuten Vortragszeit. Als das erste Referat nach 15 Minuten vorbei war, musste ich unterbrechen. Wieso können viele Schüler offenbar nicht mehr kurz und knapp notieren? „Verbot von Burschenschaften und Studentenvereinigungen“ ist zwar nur zwei Wörter kürzer, aber deutlich prägnanter. Im Zeitalter von „Copy-and-paste“ ist kurzes Formulieren nicht mehr notwendig.
Ich will hier nicht die „Früher-war-alles-besser-Keule” auspacken, dafür bin ich doch zu jung. Allerdings schossen mir gleich meine zahlreichen Besuche in der Stadtbibliothek ins Gedächtnis und wie oft ich aus Büchern abschreiben musste. Da musste kurz und prägnant formuliert werden, wenn man nicht den ganzen Abend damit zubringen wollte. Die Schüler mögen die Kernsätze entdeckt haben, aber sie hatten nicht die Fähigkeit, den Zusammenhang in ihren Worten oder zumindest für sie verständlich zu verknappen. Was sie vortrugen, war die Aneinanderreihung der Fakten ohne eigene Erkenntnis.
Meine Kritik nahmen sie, 8. Klasse, an und erkannten auch ihr Problem.
Einflussreicher auf die Wissbegierde zahlreicher Schüler ist aus meiner Sicht allerdings der sogenannte „Wohlstand für alle“. L-IZ.de-Leser wissen, dass der nicht wirklich existiert, aber doch wird heute immer wieder vorgegaukelt, dass Bildung nicht mehr das Gut oder der Wert ist, der über das spätere Leben entscheidet. Ich kann heute als YouTuber mein Geld machen, indem ich Modeprodukte vorstelle. Ich kann versuchen, über eine Castingshow Berühmtheit zu erlangen oder auf meine Eltern hoffen, die möglicherweise Geld und/oder Beziehungen haben. „Papa macht das schon.“ Aber auch Papa und Mama wollen zumindest ein paar gute Noten sehen, damit sie sich um ihren Sprössling keine Sorgen mehr machen müssen. Für die von mir so benannte „Generation hab-schon-alles“ wird der Bildungsabschluss nur über die Sprossen in der Karriereleiter entscheiden, nicht aber darüber, ob sie eine grundlegende Existenz sichern können.
Ist zudem nicht die frühzeitige Selektierung unseres Schulsystems eine Ambitionsbremse? Der psychologische Effekt auf Kinder darf in keinster Weise unterschätzt werden. Wer häufig gesagt bekommt, er sei nicht gut genug, wird es irgendwann glauben und im Lernen eine gewisse Sinnlosigkeit sehen. Dann geht’s – wenn überhaupt noch – um eine gute Note, die ich – je nach psychologischer Disposition – auf unterschiedliche Faktoren zurückführe. Ein guter Schüler wird gute Noten immer auf ein erfolgreiches Lernen zurückführen und schlechte auf einen unterdurchschnittlichen Tag oder auf Pech. Ein schlechter Schüler sieht gute Noten als Ausdruck von Glück und Zufall, schlechte Noten wird er kommentieren mit „Ich kann es eben nicht besser.“
So gerät ein jeder in seine eigene Spirale.
Wie schafft man es also, dass Lernen wieder eine Motivation in sich darstellt? Sind Noten hier sogar hinderlich? Es fehlt der Platz und die Zeit, hier einen wissenschaftlichen Abriss über Sinn und Unsinn von Noten zu produzieren. Die Praxisbeschreibung zeigt aber ein, aus meiner Sicht, eindeutiges Bild. Oder loben Sie Ihr Kind häufiger, weil es Ihnen etwas gut erklären kann, als für gute Noten? Wie oft kommt Ihr Kind von der weiterführenden Schule nach Hause und erzählt freudestrahlend vom neuen Wissen? Wird nicht zuerst über Noten geredet? Ganz abgesehen davon, dass die Entwicklung in der Pubertät Lernen und Schule aus dem Fokus verschwinden, auch wenn Hirnforscher wie Gerald Huether daran festhalten, dass Lernen immer gewollt ist, wenn es gut vorbereitet wird.
Natürlich liegt es vor allem am Lehrenden, den Unterricht so zu gestalten, dass Schüler lernen wollen, was zugegebenermaßen bei 25 Schülern und den Dingen, die sonst noch so zu tun sind (siehe vorherige Teile) jedes Mal eine Herausforderung ist. Zudem entwickelt auch nicht jedes Thema aus sich heraus Spannung oder Zukunftsperspektive. Im Lehrplan kann ruhig mal feucht durchgewischt werden. Das alleine kann es aber nicht sein, es müsste sich wieder mehr an der Stellschraube der Wissbegierde drehen, Wissen gesellschaftlich wieder anerkannter sein, und vielleicht muss das Notensystem auf den Prüfstand, obgleich jegliche Form der Bewertung extrinsische Motivation erzeugen würde und alle eine leicht entschlüsselbare und zeitlich effiziente Rückmeldung haben möchten. Schule bleibt somit auch weiterhin Schule, aber vielleicht werden dann diese nervtötenden Fragen weniger.
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