„Hier lies mal, das hat mir der Vater von ….. gestern Abend geschickt. Eine Frechheit, oder?“ Die Kollegin hält meiner Gesprächspartnerin eine E-Mail unter die Nase. Im Befehlston fordert ein Vater die Lehrerin auf, eine Note zurückzunehmen. Nicht mal Höflichkeitsfloskeln sind zu finden. Es wird sich nicht mal bemüht. Hier und heute würde ich behaupten: „Ja, Lehrer brauchen Liebe.“ Und vor allem brauchen auch ein paar Eltern ein gesundes Maß an Selbstreflexion.
Man stelle sich vor, ich ginge in eine Backstube und meckerte über die Brötchenqualität oder würde von meinem Maler verlangen, dass er die Zimmer noch mal streicht, weil ich handwerkliche Fehler erkannt haben will. Immerhin war ich ja auch zwölf Jahre im Kunst-Unterricht. Eine Schule hat in Deutschland – bis auf wenige Ausnahmen – jeder besucht, aber lässt sich davon ableiten, sich ins Lehrerhandwerk ungeniert einmischen zu dürfen?
Niemand hat etwas gegen einen konstruktiven Dialog, den ich in den 30 Elterngesprächen im vergangenen Schuljahr 28 Mal erlebt habe. Dass sich Eltern und Lehrer austauschen, ist nur zum Wohle des Kindes, aber es muss auf Augenhöhe sein und nicht in despektierlicher Polemik enden. Auch wenn es mich manchmal juckt, so halte ich mich doch zurück mit kritischen Rückmeldungen zur elterlichen Erziehung meiner Schüler. Ich kann darüber denken, was ich will, aber mich unvermittelt einzumischen wäre anmaßend, zumal ich die Familiensituationen nicht kenne. Dabei erlebt man in einem Elterngespräch so einiges, wenn die Kinder mit dabei sind.
„Nein, Mama. Das stimmt so nicht“, beeilt sich ein Schüler, seine Mutter doch noch darüber zu informieren, dass sie eine Geschichte da wohl falsch verstanden hat. „Matthias, sei ruhig, wir wollen uns unterhalten“, entgegnet die Mutter barsch. „Mama, das ist aber nicht wahr“, lässt Matthias nicht locker, während seine Mutter süßsauer zurück lächelt und ich betont unbeteiligt in meinen Zetteln krame. Der Dialog geht noch 30 Sekunden weiter, bis die Mutter ihren Sohn „ultimativ“ zur Ruhe auffordert: „Sonst gehst du raus.“ Fremdschämen trifft es ganz gut.
Doch sind die Kinder in Elterngesprächen meist nicht das Problem. Die meisten wissen genau, weswegen die Eltern anwesend sind und wo es den Hebel anzusetzen gilt. Zusammengekauert erwarten sie den Moment, da sich Lehrer und Mutter/Vater die Hand geben und „hoffentlich nicht bis zum nächsten Mal“ sagen, die Eltern ihr Kind in die Wange knuffen und die „letzte Chance“ ausrufen.
Es sind die wenigen dreisten Eltern, die irgendwie versuchen, einen Vorteil für ihr Kind rauszuschlagen. Vor allem, wenn das Kind offensichtlich Probleme hat, die die Eltern nicht anerkennen wollen, respektive, durch ein Elterngespräch „umgehen“ wollen.
Am Tag nachdem ich meinen ersten Englisch-Test in Klasse 5 zurückgegeben hatte, schloss ich gerade zehn Minuten vor Unterrichtsbeginn das Klassenzimmer auf, als mich ein Mann ansprach. Er sei der Vater einer Schülerin „und hätte da mal ein paar Fragen zu dieser Arbeit, die es gestern zurückgab.“ Elterngespräche auf dem Gang, unangekündigt. Dreist. „Müssen Sie denn die Rechtschreibung jetzt schon beurteilen? Es ist doch alles noch so neu und nun startet meine Tochter mit einer 4 ins Schuljahr“, trägt mir der Vater vor, um direkt nachzuschieben, dass es ihm „eigentlich nicht um die Note“ ginge. Natürlich nicht. Er will nur die Bewertungsmaßstäbe morgens dreiviertel 8 in Erfahrung bringen. Das kann ihm seine Tochter ja nicht ausrichten und eine E-Mail hätte er auch nicht schreiben können. Das klärt man am besten auf dem Gang, wenn der Lehrer mit dem Gespräch gar nicht rechnet und zehn Minuten vor Unterrichtsbeginn in Eile ist. Was gibt es da Schöneres als einen Plausch über englische Rechtschreibung in dem die Test-Note vollkommen egal ist.
„Natürlich muss ich die Rechtschreibung bewerten. Damit erst in der 8. Klasse zu beginnen, ist nicht sinnvoll.“ Der Vater schaut kurz. „Aber schauen Sie mal, das sind ja nur Rechtschreibfehler. Das ist doch schlimm und demotivierend“, entgegnet er mir. „Das stimmt, aber ich habe pro Fehler nur einen halben Punkt abgezogen und somit hat sie noch eine Vier. Hier unten steht auch, woran sie arbeiten muss. Vielleicht sollte aber ihre Tochter das nächste Mal gewissenhafter arbeiten. Ich sehe nämlich gerade, dass sie Aufgabe 1b vergessen hat. Da fehlen hier zehn Punkte. Das wäre die 3 gewesen.“ Der Vater hatte das natürlich nicht gesehen. Zumindest behauptete er das. Anschließend verschwand er kleinlaut wieder, obwohl er bisher nicht so richtig Ruhe geben will.
Seine Tochter vergisst regelmäßig Materialien und/oder Hausaufgaben, träumt im Unterricht vor sich hin. Dass sie in der vorletzten Klassenarbeit kaum Vokabeln wusste, war des Lehrers Schuld, wie ich auf der Klassenarbeit lesen konnte. Unter meine persönliche Rückmeldung an die Schülerin hatte mir der Vater einen Zehnzeiler hingeklatscht – selbstredend ohne Anrede oder Grußformel – in dem er mich auffordert, seiner Tochter vor Klassenarbeiten eine genaue Vokabelliste zu geben, die sie lernen muss. Sie hätte nämlich vor der Klassenarbeit gar nicht so richtig gewusst, was sie lernen soll. Ich hätte gern zurück gefragt, warum es ihre 24 Mitschüler wussten, aber hier muss der Klügere nachgeben, auch wenn mich derartige Elternbriefe doch emotional, sagen wir, beschäftigen. Denkt der Vater wirklich, der Englischlehrer seiner Tochter sei so dumm, diese anmaßenden Zeilen auch noch zu belohnen? Weiß er nicht, wie viel er dafür über seine Tochter preisgibt?
Eine andere Mutter schrieb mir zur selben Arbeit eine E-Mail. Sie hätte mit ihrer Tochter gelernt und ihr gesagt, dass im Englischen alles klein geschrieben würde. Daher hat sie auch „I“, also „ich“, immer klein geschrieben. Ob ich nicht das eine Mal eine Ausnahme machen und diese Fehler ignorieren könne. Lieber Leser, gehen Sie kurz in sich: Wie würden Sie entscheiden?
Den persönlichen Höhepunkt in der diesjährigen Elternarbeit erlebte ich aber direkt am Anfang des Schuljahres mit einer Mutter, deren Tochter die 11. Klasse besucht. „Na Herr Hofmann, alles wieder gut mit der Nase?“, begann sie das Gespräch. Nase? Was meint sie bloß, diese Frau, die ich an diesem trüben Novembertag kennenlernte und die zudem noch ihre Tochter und mich fünf Minuten warten ließ, weil sie noch ein „dringendes Gespräch“ mit dem Direktor hatte. Weil ich den Zusammenhang nicht verstand, fragte ich nach. „Na, Sie haben doch so oft gefehlt wegen Ihrer Nase. Da gab es doch so viel Ausfall. Deswegen bin ich hier.“ So viel Ausfall? „Aber Frau …. das war Anfang September. Ich habe genau acht Unterrichtsstunden gefehlt“, verteidigte ich mich. Doch das stachelte meinen Gast nur an. „Ach, das waren mindesten vier Wochen und dann haben Sie gleich die Klausur geschrieben in der meine Tochter vier Punkte hat. Ich wollte daher mal wissen, ob Sie überhaupt alles unterrichtet hatten, was Sie da gefragt haben.“
Ich möchte in solchen Situationen zu gern wissen, was die Kinder denken, die ihre erregte Mutter nicht stoppen können und wissen müssten, dass diese Argumentation himmelschreiend ist. „Na warten Sie. Ich habe das Kursheft dabei, da können wir direkt nachsehen, wie oft ich gefehlt habe.“ Effektvoll krame ich das Kursheft hervor, die entsprechende Seite ward schnell gefunden. „Sehen Sie, ich habe genau acht Unterrichtsstunden gefehlt und war am 15. September wieder da. Es war noch ein Monat bis zur Klausur.“ So langsam bröckelt die Argumentationsstruktur meiner „Gegenüberin“, die nun zurückrudert. „Aber wieso hat dann Elisabeth nur vier Punkte?“ Endlich wird die passende Frage gestellt, deren zweiten Teil sie wohl versehentlich vergaß, ich aber in meinem anschließenden Satz hinzufüge. „Das frage ich mich auch, zumal sie die einzige ist, die unter fünf Punkten gelandet ist.“ Manchmal verspürt man auch Freude, wenn man sich aus dieser Pseudo-Umklammerung krachend befreien kann. Eigentlich hätte man das Gespräch hier beenden müssen, denn das Konversationsziel der Mutter war offensichtlich. In ihrem verbalen Rückzugsgefecht brachte sie dann auch noch ihre Tochter gegen sich auf. „Vielleicht kann sie ja einen Vortrag halten, um die Note zu verbessern?“, fragt sie schüchtern. „MAMA“, mischt sich die Tochter neben ihr vorwurfsvoll ein. Dabei muss man wissen: Die Tochter sagt schon im Unterricht fast nichts. Ein Vortrag wäre eher eine Strafe gewesen.
Aber wo Schatten ist, da ist auch Licht. Es gibt immer noch genügend Eltern, die der Entscheidungsgewalt des Lehrers entspannt gegenüberstehen, die sich höflich erkundigen, die von zu Hause melden, wie gern das Kind in den Unterricht kommt und dass das „alles nicht selbstverständlich ist.“ Mit denen man auf Augenhöhe über Bedingungsfaktoren erfolgreichen Lernens diskutieren kann, die seriös einschätzen, was der Sohnemann oder die Tochter zu leisten imstande ist und wo die Grenzen sind. Die entgegnen: „Schön, dass Sie das auch so sehen“ oder „Sagen Sie das auch mal meinem Kind, mir glaubt er ja immer nicht.“ Ja, es gibt Eltern, die freiwillig Freitag zu Samstag auf dem Zeltplatz schlafen und 25 wild gewordenen Nicht-Mal-Halbstarken beim Baden, Spielen und Toben zuschauen und sich dann am Morgen bedanken, dass der Lehrer früh um vier noch mal für Ruhe in den Zelten gesorgt hat.
Doch woher rühren diese Unterschiede. Die generelle Unterschiedlichkeit des Menschen begründet sie nicht ausreichend. Als Lehrer unterliegt man einem permanenten Rechtfertigungszwang gegenüber den Eltern. Begründungen für Entscheidungen und Bewertungen werden teilweise erwartet. Das ist natürlich einerseits der Lauf des Lebens. Wenn von Behörden verlangt wird, dass sie transparent arbeiten, kann man das sicherlich auch bei den Erziehern des Kindes einfordern und das ist ja auch in Ordnung. Viele Entscheidungsgrundlagen stehen sowieso für jedermann einsehbar im Schulgesetz. Die Bewertungsmaßstäbe bekommen die Schüler am Schuljahresbeginn mitgeteilt. Und daran muss sich der Lehrer natürlich halten. Andererseits stehe ich nicht neben dem Klempner in meiner Wohnung und frage, warum er die Zange so ansetzt. Ich bin kein Klempner, ich hab davon keine Ahnung. Ich kann ihm nur vertrauen, aber das fällt mir genau deswegen leicht. Er hat sich ausbilden lassen, ich kann es selbst nicht und somit ist die Rollenverteilung geklärt. Mit Sicherheit spielen auch eigene Ressentiments, die aus der eigenen Schulzeit rühren, eine Rolle. Schlechte Erfahrungen mit Lehrern sind nicht ausgeschlossen.
Und natürlich kann ich sehr gut nachvollziehen, dass die Mehrheit der Eltern großes Interesse daran hat, dass ihr Kind in guten Händen ist, dass es alle Möglichkeiten hat, seine Ziele, die ja meist zunächst die Ziele der Eltern sind, zu erreichen. Das eigene Kind ist immer das wichtigste Kind. Doch rechtfertigt dies eine derartige Einmischung und Anmaßung? Spielt nicht vielleicht auch die Angst vor dem sozialen Abstieg, vor der angeblichen beruflichen „Resterampe“ eine Rolle? Wie oft hört man „Mein Kind muss Abitur machen“?
Muss es das? Muss es nicht. Es gibt genügend kostbare Berufe, die auch ohne Abitur zu erlernen sind, der anstehende Fachkräftemangel wird jeden, der durchschnittlich engagiert und begabt ist, mit einer Berufsausbildung segnen. Ist das also nur in der Argumentation vorgeschoben? Ist es vielleicht eine Aversion gegen Autoritäten, die eine Melange aus eigenen schlechten Erfahrungen in der Schulkarriere und einer allgemeinen Herabwürdigung des Lehreransehens ist? Autoritäten sind sowieso „out“, da kann man den Lehrer auch versuchen an die Kandare zu nehmen. Doch wozu führt das? Das Eltern-Lehrer-Verhältnis macht es nur komplizierter und auch den eigenen Kinder erweisen die Eltern zuweilen einen Bärendienst, wenn sie allzu forsch und unbegründet polemisch den Kontakt suchen.
Viel besser wären diskrete Hinweise darüber, was gerade zu Hause los ist. Ob es Ereignisse gegeben hat, die bestimmte Verhaltensweisen erklären, elterlicher Streit, Geburt eines Geschwisterkindes, ein Todesfall, Geschwisterduelle, Umzug, Enttäuschungen im Sport. Sie würden dem Klassenlehrer und auch dem Fachlehrer im Hauptfach helfen, Entwicklungsphasen zu verstehen und Verhalten nicht als „schlimm“, „inakzeptabel“ oder „dumm“ abzutun. Aber das geht dann den Lehrer nichts an.
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