Der Gehweg der Gemeindeamtsstraße in Leipzig-Lindenau ist dicht mit Kreide beschrieben wie eine Schultafel nach einer schweißtreibenden Unterrichtsstunde. "Gemeinsam statt einsam" und "NaSch in Gefahr" steht dort. NaSch - das ist die Nachbarschaftsschule, ein von dichten Bäumen umsäumtes hellgelbes Gebäude unweit des Lindenauer Markts. In der NaSch spricht man die Lehrer mit "Du" an. In der NaSch gibt es Noten erst ab der siebten Klasse und die ersten bis dritten Klassen lernen altersgemischt. In der NaSch ist einiges anders als an herkömmlichen Schulen. Die NaSch ist eine staatliche Gemeinschaftsschule mit reformpädagogischem Konzept und als Schulversuch bis 2017 genehmigt.
Die Kreideschriftzüge auf dem Asphalt zeugen von einer öffentlichen Protestaktion, die am 2. September stattgefunden hat. Eltern, Schüler, ehemalige Schüler und Unterstützer äußerten an diesem Tag vor dem Schulgebäude ihren Ärger und ihre Wut über Veränderungen an der Nachbarschaftsschule. Sie fürchten den schrittweisen Zerfall des bewährten reformpädagogischen Konzepts. Die Liste der kritisierten Entwicklungen in der jüngsten Vergangenheit ist lang. So beklagen die Eltern Kürzungen und den Wegfall von Traditionen, die bisher so erfolgreich ein soziales Lernen ermöglicht haben und Teil des rechtsverbindlichen Konzepts sind. Betroffen sind die Projektwoche zu Beginn jedes Schuljahres, Klassenrats- und Klassenleiterstunden sowie die Kunstprojektwoche.
In der Rede von Susann Struppert vor der protestierenden Versammlung kommt zum Ausdruck, wie wichtig den Eltern und Schülern das Fortbestehen des reformpädagogischen Konzepts der Nachbarschaftsschule ist. “Die meisten Eltern haben ihre Kinder an die NaSch gegeben, weil sie sie für die geeignetste Schule halten”, sagt die Mutter einer Schülerin. Es sollen hier Werte gelebt werden, die im konventionellen deutschen Bildungssystem sonst schnell untergehen. Es geht um Gemeinschaft statt um Leistungsdruck, um Methodenvielfalt statt Frontalunterricht, um Mitsprache statt Autoritätshörigkeit.
Die angeordnete Versetzung einer langjährigen Lehrerin passt so gar nicht in diesen Zusammenhang. Antje war Klassenleiterin und führte das innovative Tablet-Projekt mit ihren Schülern durch. Ausgestattet mit einem Tablet konnten die Schüler moderne Technik in den Unterricht integrieren und damit in Kooperation mit der Uni Leipzig zur Erforschung der Eignung dieser Idee beitragen. Antje musste die Schule nun gegen ihren Willen verlassen. Die Sächsische Bildungsagentur Leipzig (SBAL) hatte ihre Versetzung an eine andere Leipziger Schule angeordnet und löste damit Fassungslosigkeit, Entsetzen und vor allem Unverständnis bei Schülern und Eltern aus. Eine Klage vor dem Arbeitsgericht gegen diesen Beschluss Ende August führte zwar dazu, dass die Versetzung vorerst in eine halbjährige Abordnung umgewandelt wurde, aber ob Antje danach wieder zurück an die NaSch kommt, wissen die Eltern nicht.
Für die SBAL mit ihrem Leiter Ralf Berger stellen Versetzungen und Abordnungen eine notwendige und alltägliche Maßnahme dar. Schließlich habe man 300 Schulen zu koordinieren. Dabei sei man jedoch bemüht, die Belastungen in Grenzen zu halten, versichert Roman Schulz, Pressesprecher der SBAL: “Wir sind nicht beim Militär mit Zwangsversetzungen und Befehlen. Alle Personalmaßnahmen ergehen unter Beachtung der entsprechenden personalrechtlichen Regelungen”. Genaue Zahlen zur Praxis solcher Versetzungen in Leipzig nennt Herr Schulz jedoch nicht. Ebenso bleibt die Frage unbeantwortet, warum ausgerechnet Antje zur Versetzung ausgewählt wurde. Zu einzelnen Personalentscheidungen äußere man sich grundsätzlich nicht über die Medien, heißt es von der SBAL.
Gegenüber Eltern, Schülern und Lehrern hatte Ralf Berger am 4. September auf einer schulöffentlichen Sitzung Gelegenheit, das Vorgehen zu erklären. Wie auf dem Blog der Schule nachzulesen ist, förderte diese Gesprächsrunde nach Auffassung des Elternratsmitglieds Per Kropp jedoch kein gegenseitiges Verständnis. “Es wurde deutlich, welch geringe Rolle die inhaltlichen Bedürfnisse der Schulen oder gar der Lehrer selbst in diesem Prozess spielen. Aus meiner Sicht ordnet die SBAL dem Ziel? am ersten Schultag ein Lehrer vor jeder Klasse’ alles unter und hat ein repressives Personalregime installiert, um dies zu ermöglichen”, so Kropp.
Die SBAL folgt mit ihren Handlungen einer Logik, die sich sicherlich auch aus den aktuellen Problemen aufgrund steigender Schülerzahlen ergibt. Seit 2008 steigen die Schülerzahlen in der Stadt Leipzig stetig an. So gab es im letzten Schuljahr stadtweit 5.000 Schüler mehr als noch vier Jahre davor. Demgegenüber stehen insgesamt knapp 40 weniger hauptberufliche Lehrer und nur zwei neue Schulen. Es ist augenscheinlich, dass unter diesen Umständen jede Rechnung zu dem Ergebnis kommt, dass mehr Schüler von einem Lehrer betreut werden müssen. In der Praxis bedeutet dies eine Aufstockung von Klassenstärken und eine maximale Ausschöpfung von Ressourcen. Antje ist eine solche Ressource. Per Kropp betont in seiner Auswertung der Sitzung mit Herrn Berger, dass dieser klar postuliert habe, dass Eignung, schulspezifische Erfordernisse und auch der Schulfrieden in diesem Fall nachrangig seien. Um das Weiterleben des Konzepts der NaSch zu erhalten, brauche es aber nun mal eine spezifische Behandlung, meinen wiederum die Eltern.
Mit seinen Sorgen, Wünschen und Anregungen hat sich der Elternrat in den letzten Monaten auch mehrmals an die Schulleitung gewandt. Rainer Müller, Elternratsmitglied, ist jedoch empört über die mangelnde Kooperationsbereitschaft der Schulleiterin Alice Awischus. “Briefe werden einfach nicht beantwortet, die Eltern werden nicht informiert. Dabei bieten wir in den Briefen für gewöhnlich auch immer unsere Hilfe an”, meint Müller und weist damit auf einen entscheidenden Faktor hin, der die Empörung der Eltern schürt. Es ist die Arbeit der Schulleiterin, die kritisiert wird. Frau Awischus trage nicht dazu bei, dass die Traditionen der NaSch aufrechterhalten werden, sondern bedrohe diese durch autoritäre Konzeptänderungen. Sie beschränke sogar die gesetzlich verankerte Freiheit der Elternvertreter, indem sie Elternversammlungen zeitlich limitiere.
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Zu der Kritik möchte Frau Awischus keine Stellung beziehen. Fragen zu Schülerzahlen, Klassengrößen und zur Zukunft der NaSch beantwortet sie nicht und verweist an die Sächsische Bildungsagentur. Fragen nach Gründen für die Kürzungen, für die Abordnung von Antje und auch die Frage nach ihren Erwartungen an die Hilfe und Unterstützung der Eltern bezeichnet sie als “tendenziell” und “nicht der Wahrheit” entsprechend. Sieht so eine “Öffnung der Schule nach innen und außen” aus, wie sie zentraler Bestandteil des NaSch-Konzepts ist? Rainer Müller ist sich sicher: “Mit dieser Schulleiterin ist die NaSch nicht möglich.”
Die Fronten sind verhärtet und die im Leitbild der NaSch ausdrücklich ausgerufene aktive Mitgestaltung des Schullebens durch die Eltern schwierig vorstellbar. Die Schulkonferenz, bestehend aus jeweils vier Lehrern, Eltern und Schülern, hat gegen den Einsatz von Frau Awischus als neue Schulleiterin im Jahr 2013 gestimmt. Warum sie von der SBAL dennoch eingesetzt wurde, will diese nicht beantworten. “Frau Awischus ist im Rahmen eines ordentlichen Stellenbesetzungsverfahrens an die NaSch gekommen. Alle Verfahrensschritte fanden Beachtung. Mehr gibt es nicht zu sagen”, meint Roman Schulz.
“Warum sind Sie an die NaSch gekommen, Frau Awischus?”, fragte Susann Struppert in ihrer Rede am 2. September. Eine Antwort hat sie nicht erhalten. “Es läuft trotzdem irgendwie”, sagt Rainer Müller und macht dabei den Eindruck, als hätte er genug Energie, die Umsetzung des NaSch-Konzepts weiter zu erkämpfen und dafür zu sorgen, dass die über zwanzigjährige Tradition auch nach Ablauf der Modellphase 2017 bestehen bleibt.
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