Die Bildung als Schlüssel zum aufgeklärten Vernunftdenken gilt als die Grundlage für eine aufgeklärte, moderne Demokratie. Doch verträgt sich das aktuell praktizierte Machtsystem der allgemeinbildenden Schule, die ein dreigliedriges Klassensystem manifestiert und die ihre Zielsetzung in der Arbeitsmarktverwendbarkeit definiert, mit diesem Anspruch? Einige Wissenschaftler und Theoretiker unserer Zeit prangern Widersprüche an und stellen die Demokratiefähigkeit des derzeitigen Schulsystems in Frage.

Trotz der Liberalisierung, die seit den 70ern Einzug gehalten hat, herrscht weiter ein Prinzip des dreigliedrigen Klassensystems, das, allen Statistiken und Untersuchungen nach, Schüler nach dem gesellschaftlichen Klassenstand des Elternhauses sortiert, statt nach deren objektiv messbaren Leistungen. Die gleichen Untersuchungen ergeben immer wieder, dass die Bewertung der Lehrer stark mit deren Erwartungen und Vorurteilen korrespondiert. Das heißt: das Akademikerkind wird in vielen Fällen positiver bewertet als das Kind aus einem Schichtarbeiterhaushalt.

Die fehlende Unterstützung des Elternhauses wird also in der Regel nicht ausgeglichen, sondern verstärkt in der Demotivation der Kinder. Und das sind nur die subjektiven Verzerrungen der menschlichen Beeinflussung durch unsere erlernten Vorurteile, die auf Wiederholung beruhen und wenig Spielraum für Überraschungen offen lassen.

Die Geschichte der allgemeinen Schulpflicht

Das Schulsystem wurde als Mittel der Sozialdisziplinierung im Herrschaftsgefüge eines Staates entwickelt. In den meisten europäischen Ländern existiert gar keine allgemeine Schulpflicht, sondern nur eine Unterrichtspflicht, die damit die Vermittlung von Bildung und Wissen nicht an den Besuch einer staatlichen Erziehungsanstalt knüpft, deren Bildungsinhalte zentral vorgegeben werden und durchaus auch pädagogischer Natur sind, also konkret die Erziehung der Menschen beinhaltet.

Das 1991 in Sachsen erlassene Schulgesetz sieht eine Regelbeschulung von 10 Jahren vor, die die Bildung und Erziehung der Kinder im staatlich-kirchlich-christlichen Sinne vorsieht. Die Elternvertreter, die sich organisieren können, haben ein Vorschlagsrecht und die Schüler ein Beschwerderecht, soweit sie der Meinung sind, ihnen sei Unrecht geschehen. Um dieses Recht in Anspruch zu nehmen, sollte jedoch ein Anwalt zu Rate gezogen werden, denn die Vorgaben zur Beschwerdeführung sind als Nichtjurist kaum zu verstehen.

Schulen in freier oder kirchlicher Trägerschaft bieten eine Alternative zur öffentlichen Schule in staatlicher Trägerschaft. Freie Schulen arbeiten mit alternativen pädagogischen Modellen, wie der Waldorf- oder Montessori-Pädagogik, die vom Kinde als vollwertigen und entscheidungsfähigen Menschen ausgehen. Die staatliche Finanzierung der Bildungseinrichtungen in freier Trägerschaft ist eingeschränkt und daher wird meist ein Schulgeld für die Eltern fällig. Seit 2012 entfällt die staatliche Unterstützung der freien Träger für eine Schulneugründung für die ersten fünf Jahre. Damit sehen sich die freien Träger in ihrer Arbeit behindert und zudem grundgesetzwidrig benachteiligt. Eine entsprechende Klage gegen das Land Sachsen läuft.

In anderen Ländern wie Großbritannien oder auch Russland, in denen nur eine Unterrichtspflicht herrscht, gibt es wiederum weitaus freiere Schulformen als in Deutschland zugelassen werden könnten, die sogar eine Anwesenheitspflicht im Unterricht ablehnen. In diesen demokratischen Schulen gibt es auch keinen verbindlichen Lehrplan, der erlassen wird – das Zusammenleben wird basisdemokratisch von Lehrern und Schülern geregelt, es wird selbstbestimmt gelernt.

Diese demokratischen Schulen, die in Deutschland aufgrund der herrschenden Schulpflicht nicht genehmigungsfähig sind, gehen von einem grundlegenden Respekt gegenüber Kindern aus, arbeiten mit der Lernfreiheit und gewaltfreien demokratischen Entscheidungsstrukturen innerhalb des Schulalltags. Die Eltern werden bei Entscheidungsprozessen der Schule miteinbezogen. Diese Lernfreiheit wird in Deutschland jedoch nicht toleriert oder zugelassen. Wovor haben wir Angst?
3Viertel hat mit dem Autor des Buches “Als ich unsichtbar war: Die Welt aus der Sicht eines Jungen, der 11 Jahre als hirntot galt”, Martin Pistorius gesprochen. Am 28.02.2014 hielt er in Lindenau einen Vortrag über die aktuelle Situation des deutschen Schulsystems.

Wie sehen Sie die aktuelle Entwicklung im deutschen Schulsystem?

Unser Schulsystem ist eine Katastrophe. Bildungspolitiker, Lehrkräfte, Eltern und Wissenschaftler wären in der Lage, ein humanes, lernorientiertes und erfolgreiches Bildungssystem zu gestalten. Derweil versteckt Mensch sich hinter vermeintlich guten PISA-Ergebnissen in Sachsen und hofft auf Partikularreformen.

Lehrermangel und finanzielle Nöte werden seit Jahrzehnten ignoriert. Schulautonomie und pädagogische Handlungsfreiheit werden seitens der sächsischen Regierung angeblich angestrebt, aber faktisch nicht umgesetzt. Dem Lehrermangel wird dadurch begegnet, dass – wie vor kurzem geschehen – Nichtlehrkräfte eingestellt werden, deren Qualifikation darin besteht, dass sie zu DDR-Zeiten Pionierleiter waren.

Die freien Schulen, die mehr didaktische Experimentierfreude zeigen, werden systematisch schlechter gestellt und unterbezahlt. Ein entsprechendes Normenkontrollverfahren ging vor kurzem positiv für die Schulen in freier Trägerschaft aus. Es ist ein Unding, dass Bürger und Parteien gegen die sächsische Staatsregierung um die verfassungsgemäßen Rechte initiativer Bürger klagen müssen. Es schleicht sich das Gefühl ein, dass die Staatsregierung mit der finanziellen Beschneidung von freien Schulen die Abwanderung von Neuanmeldung bei Schulen in freier Trägerschaft künstlich begrenzen wollen, um die regulären und teils katastrophal antagonistischen Regelschulen zu erhalten. Dabei wird angeblich mehr Bürgerengagement gefordert.

Was ist Ihr Ansatz zur Verbesserung oder Veränderung?

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Als ich unsichtbar war
Martin Pistorius, Bastei Lübbe 2011, 8,99 Euro

Das bestehende Schulsystem ist im Kern ein auf Zwang basiertes Erziehungssystem. Die Erziehungsziele werden in der sächsischen Verfassung formuliert und wurden mit Ausnahme des Gottesbezuges in den letzten Jahrzehnten nicht wesentlich verändert. Die dahinter stehenden Ideen sind menschenverachtend. Es geht nicht um das Wohl des Kindes, es geht um die Absicherung/Weitergabe unserer christlichen, humanistischen Kultur, um die Schaffung von Arbeitskräften, um den Erhalt bestehender Strukturen, um die Umsetzung von Verwaltungsverordnungen. Die Lehrkräfte glauben sich dem beugen zu müssen. Ihr pädagogischer Auftrag leidet unter einer fahrlässigen und rückwärtsgewandten Bildungspolitik.

Ich denke, es ist notwendig, Bildung prinzipiell neu zu denken und das bestehende Bildungssystem vom zwanghaften Charakter zu befreien, sowie die rechtliche und kulturelle Stellung des “Kindes” dem eines “erwachsenen” Bürgers anzupassen – also ein tatsächliches Recht auf Bildung und ein Selbstbestimmungsrecht zu ermöglichen.

Wichtiger ist wahrscheinlich, dass wir uns darüber klar werden, dass Bildungserfolg ganz entscheidend in der Familie geprägt wird. Frühkindliche Bildung und familienorientierte staatliche Unterstützung für Familien brauchen einen höheren Stellenwert. Eltern müssen darüber aufgeklärt werden, wie die Art ihrer Kommunikation, wie die selbsterlebte Erziehung in die Erziehung der eigenen Kinder fließt. Kommunikationsformen wie die gewaltfreie Kommunikation nach Marshal Rosenberg sollten mehr Verbreitung finden – insbesondere im professionellen Bereich, also bei den Erziehern und Sozialpädagogen…

Fortsetzung in der Aprilausgabe der Stadtteilzeitung 3Viertel

Das komplette Interview lesen Sie in der Aprilausgabe der Stadtteilzeitung 3Viertel. Diese erscheint monatlich und ist unter Anderem in den Vierteln Plagwitz, Lindenau, Schleußig, Connewitz und Leutzsch an vielen Stellen frei erhältlich. Wenn Sie sichergehen wollen, dass Sie die Zeitung auch erhalten, können Sie sich diese gegen eine monatliche Schutzgebühr von zwei Euro nach Hause liefern lassen. Anfragen senden Sie bitte direkt an die Redaktion: info@3viertel.info

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