Deutschland ist zu einer Schau-Republik geworden. Politik hat sich wird immer mehr zur PR-Veranstaltung in eigener Sache entwickelt. Man deklariert einfach um, und schon hat man eine "Reform" zustande bekommen. Eigentlich hätte Sachsens Kultusministerin Brunhild Kurth die Pressekonferenz zur Einführung der Oberschule in Sachsen am Donnerstag, 4. Juli, absagen müssen. Schon der eigenen Glaubwürdigkeit halber. Hat sie aber nicht.

Sie hat sich noch eine Gesprächspartnerin ins Boot geholt, die eine andere Behörde vertritt, deren Spagat zwischen PR und Sanktion seit Monaten für Diskussionsstoff sorgt: Jutta Cordt, Chefin der Bundesarbeitsagentur in Sachsen. Sie steht für einen Teil dessen, was Schwarzgelb in Sachsen als zentrale Stellschraube für ihre “Oberschule” begreift – auch wenn jetzt auch den nicht ganz so ausgekochten Mittelschülern so langsam klar werden sollte, wo der Hase hinläuft: das Jobcenter greift nun auch in die sächsische Schule hinein.

Diejenigen, die dieses System des staatlichen Zugriffs gut finden, sind natürlich hellauf begeistert. Holger Zastrow zum Beispiel, Vorsitzender der FDP-Fraktion im Sächsischen Landtag. “Fast vier Jahre nachdem der Koalitionsvertrag zwischen CDU und FDP in Sachsen unterzeichnet wurde, startet nun die größte Reform unseres Bildungssystems seit der Wende: Die Mittelschule als Herzstück unseres Schulsystems wird zur Oberschule weiterentwickelt”, verkündet der Werbefachmann im bekannten PR-Deutsch.

“Mit der bereits eingeführten regulären zweiten Bildungsempfehlung nach Klasse 6 erhalten die Schüler nun eine echte zweite Chance, auf das Gymnasium zu wechseln. Mit dem Angebot der zweiten Fremdsprache in Klasse 6 für alle Oberschüler sowie den neuen Leistungsgruppen werden die Schüler optimal darauf vorbereitet. Auch wer nicht wechselt, profitiert von diesen Angeboten. Damit machen wir die jetzigen Mittelschulen als Rückgrat unseres Schulsystems noch einmal attraktiver.”

Wir merken uns die bekannten Phrasen: “größte Reform”, “Herzstück”, “echte zweite Chance”, “optimal”. Und: Wer nicht wechselt, profitiert auch.

Für Zastrow unbedingt erwähnenswichtig: “All das ist eben keine bloße Umbenennung, wie es Kritiker gern behaupten. Wir haben vielmehr für die Aufwertung der Mittelschule neun Millionen Euro vor allem für neue Lehrerstellen in den Doppelhaushalt 2013/2014 eingestellt, um die Oberschule erfolgreich starten zu lassen.”

Mal abgesehen davon, dass diese “neuen” Lehrerstellen nicht mal die aufklaffenden Lücken im Lehrerbestand füllen.

Norbert Bläsner, bildungspolitischer Sprecher der FDP-Landtagsfraktion: “Ein weiterer Baustein der neuen Oberschule ist die stärkere Berufsorientierung. Denn es gilt, Haupt- und Realschüler gleichermaßen bestmöglich für ihr späteres Berufsleben vorzubereiten – auch im Interesse des sächsischen Mittelstandes, der den Fachkräftemangel schon jetzt spürt. Bereits im Rahmen des Doppelhaushaltes haben wir eine Million Euro jährlich für eine verbesserte Berufsorientierung an den künftigen Oberschulen bereitgestellt. Ich freue mich sehr, dass diese Mittel nun durch die Bundesagentur für Arbeit verdoppelt werden.

Mit den zwei Millionen Euro werden nun 2014 beginnend an 50 Oberschulen sogenannte Praxisberater ihre Arbeit aufnehmen. Diese werden gemeinsam mit jedem einzelnen Schüler, seinen Eltern und Lehrern individuelle Profile zu den Stärken des Schülers erstellen. Bereits in Klasse 7 und 8 können die Schüler damit optimal auf eine spätere Berufswahl oder einen anschließenden Abiturgang vorbereitet werden. Ziel ist es, die derzeitige Quote von 28 Prozent Abbrechern in der Lehre drastisch zu verringern.”

Entsprechend Selbstlob formulierte dann auch das Kultusministerium selbst: “So werden Sachsens Kultusministerium und die Bundesagentur für Arbeit gemeinsam die individuelle Förderung von Schülern optimieren und den Schülern eine maßgeschneiderte Berufs- und Studienorientierung anbieten.”
“Wir werden für jeden Schüler passgenaue Bildungsangebote zur individuellen Förderung aber auch Forderung entwickeln. Zudem wird die Berufs- und Studienorientierung individueller ausgerichtet”, so Kultusministerin Brunhild Kurth. Klingt doch toll: Die Stärken und Schwächen der Schüler werden in verschiedenen Kompetenzbereichen umfassend analysiert. Anschließend werden speziell geschulte Experten, sogenannte Praxisberater, eingesetzt, die eng mit den Klassenlehrern und den Berufsberatern der Bundesagentur für Arbeit zusammenarbeiten. “Die Praxisberater sorgen gemeinsam mit den Klassenlehrern für eine maßgeschneiderte Berufs- und Studienorientierung. Sie bedeuten zusätzliches Personal für die Schulen und übernehmen keine Pflichtaufgaben der Lehrer oder Berufsberater der Bundesagentur für Arbeit”, unterstrich Kultusministerin Brunhild Kurth.

Bestimmt werden sich die Praxisberater freuen über die neue Aufgabe. Aber werden sie ausbügeln können, was fehlende Lehrer in Sachsens Schulen nicht vermitteln können? Berufsorientierung fängt auch mit einer individuellen schulischen Förderung an.

Dass man sich jetzt ausgerechnet die blauäugige Arbeitsagentur als Helfer in der Not holt, sieht wieder eher nach Trostpflaster aus – nur nicht nach einem Durchdenken des Problems.

Und so hört man auch die PR-Wolke der Bundesagentur: “Gute Berufsorientierung ist ein Sprungbrett für einen erfolgreichen Berufsabschluss und damit der beste Schutz vor Arbeitslosigkeit. Mit der zusätzlichen Unterstützung der Praxisberater wird das persönliche Erfolgsnetzwerk aus Schülern, Eltern, Lehrern und der Berufsberatung verbessert”, so Jutta Cordt, Vorsitzende der Regionaldirektion Sachsen der Bundesagentur für Arbeit (BA).

Was schlichtweg falsch ist. Das Pferd wird mal wieder von hinten aufgezäumt.

Und das Ganze beginnt – weil 2 Millionen Euro nun wirklich nicht viel sind – als Testphase an zunächst 50 Schulen. Macht man doch gleich mal einen Wettbewerb draus: Schulen können sich darum bewerben. Geplant ist, dass die Praxisberater nach einer speziellen Qualifizierung an den Schulen ab 2014 einsatzbereit sind. Dafür stellen die Bundesagentur für Arbeit und das Kultusministerium jährlich insgesamt die 2 Millionen Euro zur Verfügung.

Der Glaube, man müsse nur genug Berater in die Schulen schicken, sitzt tief im Selbstverständnis der Arbeitsagentur. Jutta Cordt: “Durch diese frühzeitige Berufsorientierung werden die Schüler optimal auf die Zusammenarbeit mit der Berufsberatung vorbereitet. Das sichert eine gute Qualität, da die Berufsberater im individuellen Beratungsgespräch in der achten oder neunten Klasse gleich auf den Punkt kommen können.

Allgemeine Informationen sowie persönliche Stärken und Talente seien dann bereits bekannt – darauf baue die Beratung auf, so Cordt.

Zudem sollen mit dem neuen Schuljahr an allen zur Oberschule weiterentwickelten Mittelschulen so genannte Leistungsgruppen eingerichtet. Eine Leistungsgruppe hat das Ziel, den jeweils höchstmöglichen Abschluss eines Schülers zu unterstützen.

Die Schüler sollen in den Leistungsgruppen eine besondere Förderung erhalten. Diese spezielle Förderung könne zum Beispiel in Deutsch, Mathematik, Englisch, aber auch in ganz anderer Form zum Beispiel als Methodentraining erfolgen, so das Kultusministerium. Das Angebot richte sich danach, wo der größte Unterstützungsbedarf bestehe. Aber Einschränkung: Unterstützung gibt es nicht für alle. Die Leistungsgruppen werden nur für besonders leistungsbereite Schüler der Klassenstufen 5 und 6 mit je zwei Wochenstunden umgesetzt. Sie sind andererseits ein Pflichtangebot an jeder Oberschule und in der Stundentafel enthalten. Aufbauend auf die Leistungsgruppen gibt es in den höheren Klassenstufen besondere Angebote, die vorrangig aber nicht ausschließlich der Begleitung der Schüler, die nach dem Realschulabschluss an ein berufliches Gymnasium oder eine Fachoberschule wechseln wollen, dienen.

Die Leistungsstarken bekommen also Unterstützung, um vielleicht doch noch ans Gymnasium wechseln zu können. Da wird auf den Rest der Klasse ganz bestimmt sehr motivierend wirken.

Darüber hinaus soll ab dem Schuljahr 2013/14 jede Oberschule eine zweite Fremdsprache mit drei Wochenstunden anbieten. Auch damit soll der Übergang nach Klassenstufe 6 an das Gymnasium erleichtert werden. Bisher bieten nur etwa zwei Drittel der Mittelschulen eine zweite Fremdsprache an. Und was hat das Kultusministerium dafür übrig: Für die Leistungsgruppen und das Fremdsprachenangebot werden 55 zusätzliche Lehrerstellen geschaffen.

Das ist lächerlich. In Sachsen gibt es 336 Mittelschulen. Wer so zaghaft das “größte Reformprojekt” angeht, will es gar nicht umsetzen. Oder weiß schon vorher, das es wohl einfach rausgeschmissenes Geld ist, das anderswo fehlt. Eine echte Reform der sächsischen Mittelschule sähe anders aus, nicht so kleinkariert.

Entsprechend deutlich die Kritik der Opposition. Die bildungspolitische Sprecherin der Fraktion Die Linke, Cornelia Falken, zum Beispiel sagt zu diesem sächsischen PR-Gesäusel: “Namen sind Schall und Rauch, sagt das Sprichwort. Für die Oberschule trifft das auf jeden Fall zu. Warum die Mittelschule ab dem neuen Schuljahr Oberschule heißen soll, weiß vermutlich nicht einmal die Kultusministerin selbst. Eine neue Schulart sei sie jedenfalls nicht, beeilt sich Frau Kurth zu versichern. Andernfalls hätte das Schulgesetz geändert werden müssen.”

Hat sie nicht. Muss sie ja auch nicht. Ein paar Sonderangebote in 50 Schulen sind ja nun wirklich keine Reform.

“Zieht man einmal Schall und Rauch ab, dann reduzieren sich die Veränderungen, die mit der Oberschule einhergehen, auf drei”, stellt Cornelia Falken fest. “Es wird Leistungsgruppen geben, um den Übergang ans Gymnasium zu optimieren. Damit wird die Auslese der Schülerinnen und Schüler vorangetrieben, nichts weiter. Es wird eine zweite Fremdsprache angeboten, wofür der Ministerin aber die Lehrkräfte fehlen. Die Klagen über das Losverfahren in sächsischen Schulen sind notorisch. Da für beide Maßnahmen eine Erhöhung der Wochenstundenzahl vorgesehen ist, benötigt die Ministerin zusätzliches Lehrpersonal, was sie nicht hat. Und drittens – das ist neu – werden sogenannte ‘Praxisberater’ in den Schulen tätig, die die Schüler ‘analysieren’ und ‘diagnostizieren’, um ihnen ein ‘maßgeschneidertes’ Ausbildungsangebot zu unterbreiten.”

Da braucht auch die linke Landtagsabgeordnete keinen Taschenrechner. “Allerdings kommen lediglich 50 Mittelschulen, pardon Oberschulen, von insgesamt 336 in den Genuss einer Praxisberatung. Wie die Ministerin die Auswahl der 50 Schulen begründen will, denn bewerben können sich alle Mittelschulen, weiß sie wohl selbst nicht. Bleibt eben von der Oberschule der sprichwörtliche Schall und Rauch.”

Und genau so empfindet es auch die bildungspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion Dr. Eva-Maria Stange: “Die Neuetikettierung der Mittelschule in Oberschule ist lediglich eine verwaltungstechnische – und teure – Umbenennung der Mittelschulen in Oberschulen. Keine neuen Inhalte, keine Novelle des Schulgesetzes. Das nenne ich Etikettenschwindel.”

Sie erinnert so ganz beiläufig daran, dass neben Schülern und Lehrern auch Eltern in Sachsen gegen die zunehmenden Auswirkungen des Lehrermangels demonstriert haben. Die erwarten natürlich – nachdem die PR-Maschine für die “Oberschule” nun vier Jahre lang lief, auch eine echte Reform, die die Bildungsangebote in Sachsens Mittelmaßschulen wieder deutlich verbessert. Aber was Brunhild Kurth da verkündete, war nicht mal ein laues Lüftchen.

“Eltern wollen aber keinen Etikettenschwindel, sondern dass ihre Kinder länger gemeinsam Lernen. Genau das will die SPD-Fraktion mit ihrer Forderung nach einer Gemeinschaftsschule. Die haben wir bereits 2005 auf den Weg gebracht. Sie wurde aber von CDU und FDP aus rein ideologischen Gründen 2009 wieder beendet wurde”, stellt Stange klar. “Die sogenannte Oberschule ändert auch nichts am Lehrermangel. 55 zusätzliche Lehrerstellen stehen den 336 Mittelschulen zur Verfügung, um aus der Mittelschule die Oberschule zu machen. Das gleicht nicht einmal aus, was an Lehrerstellen in den letzten Jahren gerade an Mittelschulen gestrichen bzw. an andere Schularten umgesetzt wurde. Die Folge ist vorprogrammierter Unterrichtsausfall vor allem bei der individuellen Förderung in Klasse 5 und 6.”

Allein von 2012 auf 2013 sind in Sachsens Mittelschulen 500 Lehrerstellen verloren gegangen, stellt sie noch fest.

“Obwohl seit Jahren die zweite Fremdsprache an vielen Gymnasien im Losverfahren gegen den Willen der Schüler zugewiesen wird, soll nun an den Mittelschulen ab Klasse 6 eine zweite Fremdsprache angeboten werden. Wo kommen die Fremdsprachenlehrkräfte plötzlich her?”, fragt Eva-Maria Stange zu Recht. “Aus Sicht der SPD-Fraktion wäre es sinnvoller, sowohl in der Mittelschule wie auch im Gymnasium erst ab Klasse 7 mit der zweiten Fremdsprache zu beginnen. Somit könnten wir Lehrerreserven gewinnen und das Losverfahren endlich beenden.”

Aber auch die Durchlässigkeit zum Gymnasium werde mit der Oberschule nicht erhöht, so Stange. “Im Gegenteil: Auf Beschluss der schwarzgelben Regierungsmehrheit trat 2010/11 eine verschärfte Bildungsempfehlung nach Klasse 4 in Kraft. Dadurch wechselten seit diesem Schuljahr jährlich ca. 800 Schüler weniger auf das Gymnasium. Nach Klasse 6 wechselten 2012/13 gerade einmal 79 Schüler von der Mittelschule zum Gymnasium. Siebenmal so viele Schüler gehen dagegen den Weg vom Gymnasium zur Mittelschule – so viel, wie in kaum einem anderen Land. Die sogenannte Oberschule schafft weder mehr Chancengleichheit noch mehr Durchlässigkeit; sie bringt weder den leistungsstarken noch den leistungsschwachen Schülern die nötige individuelle Förderung. Das hilft weder den Schülerinnen und Schülern noch den Mittelschulen. Mehr Schein als Sein – die Werbeagentur Zastrow & Co. lässt grüßen. Und die CDU – einschließlich der zuständigen Fachministerin – lässt sich auch noch dazu missbrauchen. Eltern, Schülerinnen und Schüler werden diesen Schwindel schnell durchschauen.”

Und Annekathrin Giegengack, bildungspolitische Sprecherin der Grünen: “Mit den sogenannten Praxisberatern sollen die Schüler optimal auf die Zusammenarbeit mit den Berufsberatern vorbereitet werden. Das heißt, die Schüler bekommen eine Beratung für eine Beratung. Anstatt die Hausaufgaben im Bereich Berufsvorbereitung an der Mittelschule zu machen, treibt die Ministerin mit den Praxisberatern eine neue Sau durchs Dorf. Die Schulen werden sich bedanken. – Was bei der Oberschule als Erfolg gefeiert wird, flächendeckende Einführung der zweiten Fremdsprache und Leistungsgruppen, bedeutet für viele Schüler eine starke Mehrbelastung. Die Stundentafel wurde um insgesamt fünf Wochenstunden erhöht. Die Zehn- und Elfjährigen sind jetzt bei einer 36 Stundenwoche angelangt und müssen nachmittags noch Hausaufgaben erledigen. Das halte ich für eine völlig falsche Entwicklung.”

Von den ursprünglichen Plänen der FDP für längeres gemeinsames Lernen sei wenig übrig geblieben. “Auch die Leute aus den eigenen Reihen sind von der Oberschule wenig begeistert, wie Presseberichte über klagende Bürgermeister aus dem Raum Erzgebirge zeigen. Die Kommunen werden auf den Kosten für das neue Label sitzen bleiben. Es ist höchst bedauerlich, dass sich die CDU für dieses Theater nicht zu schade ist, nur um den kleinen Koalitionspartner bei Laune zu halten.”

Das Positionspapier “Oberschule: Mehr Schein als Sein. Kommentar der SPD-Fraktion im Sächsischen Landtag zur Einführung der sogenannten Oberschule ab 2013/14” findet man hier:
http://spd-fraktion-sachsen.de/sites/default/files/downloads/2013-07%20oberschule_0.pdf

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar