Der 2. Leipziger Bildungsreport ist ab sofort für die Öffentlichkeit verfügbar, teilt das Dezernat Jugend, Soziales, Gesundheit und Schule mit. Der Bericht präsentiert umfassende Daten zur Leipziger Bildungslandschaft. Er wurde im Rahmen des Bundesprogramms "Lernen vor Ort" 2010 erstmals erstellt und ist zentraler Bestandteil der Bildungsberichterstattung der Stadt Leipzig. Und er zeigt, wo's klemmt im System.

Denn es klemmte auch 2011 und 2012 noch. Alles andere wäre Augenwischerei. Da, wo sich komplette Regierungen weigern, die notwendigen Ressourcen für eine gute Bildung für alle zur Verfügung zu stellen, bleiben Bildungslandschaft und Bildungsförderung nur Stückwerk. Da hilft auch das ambitionierteste Programm der Stadt Leipzig nicht. Auch wenn das zuständige Dezernat ziemlich genau weiß, wo die Baustelle stehen müsste.

Aber wer kein Material zum Bauen bekommt, kann höchstens Flickwerk zustande bringen.

“Der zweite Bildungsreport zeigt auf, was im Leipziger Bildungswesen erfolgreich läuft und in welchen Bereichen Herausforderungen bestehen”, umschreibt Sozialbürgermeister Thomas Fabian diese Gemengelage. “Der Anteil der Schulabgänger ohne Schulabschluss ist zu hoch. Zudem sind Bildungserfolge ungleich verteilt. In Stadtgebieten mit hohen sozialen Benachteiligungen und unter männlichen Bildungsteilnehmern liegen sie unter dem Durchschnitt. Wir werden zusammen mit den verschiedenen Akteuren aus dem Bildungsbereich weiter daran arbeiten, die Bildungsgerechtigkeit in Leipzig zu erhöhen.”

Der “Bildungsreport Leipzig 2012” beinhaltet die neuesten Daten zu Leipziger Bildungsaktivitäten von der frühen Kindheit bis zum hohen Seniorenalter. Die frühkindlichen und vorschulischen Lernerfahrungen in Kindertagesstätten und in der Kindertagespflege werden ebenso betrachtet wie die formale Schulbildung, die berufliche Ausbildung bzw. Hochschulbildung bis hin zur beruflichen und allgemeinen Weiterbildung und dem lebensbegleitenden non-formalen Lernen. Besonderes Augenmerk gilt dabei den Übergängen zwischen den einzelnen Bildungsphasen sowie nicht-linearen Verläufen von Bildungsbiografien. Im Vergleich zum “Bildungsreport Leipzig 2010” wurden neue Datenquellen erschlossen und die Indikatorenauswahl noch breiter abgestimmt.Dass die Weichen für Bildungskarrieren schon vor Schuleintritt gestellt werden, ist in Leipzig längst akzeptierte Grundlage. Aber was tun, wenn man nicht einmal beim Bau neuer Kindertagesstätten hinterher kommt? “Fehlende Passung zwischen Angebot und rechnerischem Bedarf” heißt es dazu auf Seite 99 im Report unter “Fazit”. Denn wo das soziale Umfeld die Kinder nicht stärken kann, muss und kann die Integration in Kindergarten und Vorschule helfen, Defizite abzubauen.

Defizite, die auch deshalb existieren, weil viele Kinder nicht mehr genug Bewegung bekommen und deshalb ihre motorischen Fähigkeiten nicht ausbilden können. Der passive Mediengenuss führt dazu, dass sie auch Schwierigkeiten bei der Konzentration, der Entwicklung eigener Lernstrategien, ja sogar bei Sehschärfe und Sprache ausbilden.

Das werden jetzt zwar die Eltern, die es betrifft, nicht lesen (wollen). Aber Fakt ist: Das deutsche Fernsehen mit all seinen kunterbunten Angeboten ist der denkbar schlechteste Sprachlehrer für Kinder.
Und so konstatieren die Ärzte in der Vorschuluntersuchung weiterhin hohe Defizitraten. Die Defizite im Sprachbereich haben sich von 2009 bis 2011 nur marginal von 36,5 auf 33,4 Prozent verringert. Heißt im Klartext: Nach wie vor kann sich jedes dritte Vorschulkind nicht so artikulieren, wie es von Kindern in dieser Altersstufe zu erwarten wäre. Und das hat nicht nur mit dem Migrationshintergrund zu tun.

Ein großes Problem bleibt die Feinmotorik. Der Anteil der Vorschulkinder, die die nötige Feinmotorik (noch) nicht entwickelt haben, stieg sogar von 22,5 auf 25,4 Prozent. Ein Thema übrigens, das sehr eng mit der Auswahl der falschen Kinderbeschäftigungen zu tun hat. Kinder, die frühzeitig lernen, dass alles per Knopfdruck passiert, lernen die komplexen Fähigkeiten ihrer Hände und Finger nicht kennen. Und auch das ist eine alte Weisheit der deutschen Bildungsreformer: Der Mensch lernt nur, wenn er die Dinge tatsächlich richtig begreift – wenn sie ihm fassbar werden, wenn der Lernprozess also nicht nur in irgendeiner Speichereinheit des Gehirns stattfindet. Übrigens später wieder Thema beim Erlernen eines praktischen Berufes.Und das geht so weiter. 19,5 Prozent der Kinder haben (schon) Probleme mit der Sehschärfe. 16,1 Prozent haben richtige Probleme bei der visuellen Wahrnehmung. Was dann auch wieder mit dem gewaltigen Unterschied zwischen dem “flachen” Sehen auf diversen Bildschirmen und dem Erlernen der kompletten 3-D-Wahrnehmung im freien Naturraum zu tun hat. Stubenhocker bekommen schon im nächsten Stadtwald Orientierungsprobleme. Die fehlende Grobmotorik bei 14,1 Prozent der Kinder hat ebenfalls mit dem zu geringen Aufenthalt im Freien zu tun und damit einhergehend mit zu wenig Bewegung: Toben, Klettern, Turnen, Laufen, Kabbeln …

Und bei 17 Prozent der Kinder werden nach wie vor fehlende Entwicklungen im Verhalten diagnostiziert. Sie können nicht stillsitzen, sich nicht konzentrieren, interagieren nicht in der Sozialkompetenz ihrer Altersstufe.

Und da ist die gute Frage: Was macht man da? – Die Leipziger Jugendärzte tendieren dazu, solche Kinder, die besonders viele Defizite aufweisen, öfter um ein Jahr zurückzustellen. Der Wert dieser Empfehlungen stieg in den letzten fünf Jahren konstant von 4,6 auf 6,4 Prozent. Die Ärzte wissen sehr wohl, welche katastrophale Entscheidung es sein kann, diese Kinder auf eine Förderschule zu schicken. So gingen die Empfehlungen zur Einschulung auf eine Förderschule seit 2007 leicht zurück von 5,2 auf 4,6 Prozent. Leicht zurück ging in dieser Zeitleiste aber auch die Empfehlung auf eine Integration der Kinder in Regelschulklassen – von 3,5 auf 3,1 Prozent. Solche Integration funktioniert nur, wenn genügend qualifiziertes Lehrpersonal zur Verfügung steht, das sich um die Integrationskinder besonders kümmern kann. Aber wie Sachsen mit seinem Lehrpersonal umgeht, hat sich ja mittlerweile herumgesprochen.

Und dass der Freistaat die Kommunen bei der Finanzierung der vorschulischen Bildung ebenfalls im Regen stehen lässt, macht die Sache nicht einfacher. Alles andere – was dann später mit Schulabgang ohne Hauptschulabschluss und verwirrenden Bildungskarrieren passiert, hat hier, noch vor dem Schulbeginn, seine Wurzeln, muss und kann hier gelöst werden. Leipzig hat dazu einige Programme aufgelegt, versucht gerade in sozialen Brennpunkten die Kindertagesstätten als Bildungsort auszubilden.

Aber in mehreren Kapiteln – auch dem zu Schulen in freier Trägerschaft – wird sehr deutlich, dass die soziale Herkunft dann auch über die Schulkarriere entscheidet. Wer das Geld hat, der schickt seine Kinder auf Schulen mit besonderem Profil, wo diese Kinder wiederum besondere Förderung bekommen.

Und auf Seite 115 wird recht anschaulich gezeigt, warum die Schülerzahlen mit sonderpädagogischem Förderbedarf seit 2001 massiv anwuchsen. Während das Förderfeld “Lernen” über die Jahre abnahm, nahmen die Problemkomplexe Sprache, Emotionale Entwicklung, geistige Entwicklung deutlich zu. Alles Entwicklungsfelder, bei denen Kindergärten als vorschulisches Training wirksam werden können. So lange dieses Bildungsfeld nicht wirklich einmal finanziell adäquat abgesichert ist, wird sich an all den Absolventenproblemen des sächsischen Bildungssystems auch in zehn Jahren nichts ändern. – Mal ganz zu schweigen davon, dass sich frühestens in zehn Jahren was ändert, wenn jetzt gehandelt würde.

Aber wem sagt man das?

Der Bildungsreport ist im Stadtbüro erhältlich und kann im Amt für Jugend, Familie und Bildung bestellt werden (E-Mail: lernen-vor-ort@leipzig.de).

Im Netz zu finden unter: www.leipzig.de/lernen-vor-ort

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