Unter dem Motto "Bildet die Rettung - rettet die Bildung" protestierten am Mittwoch, 28. März, sachsenweit Schüler gegen den anhaltenden und ansteigenden Lehrermangel. Am Leipziger Kant-Gymnasium kamen Hunderte von ihnen zu einer Beerdigung. Sie nahmen Abschied von der Bildung und zeigten den handelnden Politikern die rote Karte.
“Sehr geehrte Trauergäste!” Auf einmal wird es still im Schulhof des Kant-Gymnasiums in der Leipziger Ratzelstraße. Hunderte Schüler haben sich früh um 8 Uhr versammelt, nicht um sich zu bilden, sondern um sich von der Bildung zu verabschieden. Durch eine Gasse kommen vier Jungen mit einer kleinen Holzkiste auf ihren Schultern. Sie tragen sie zu einer Grube. An der Holzkiste steht groß “Bildung”, auf ihr liegen Rosen, an der Grube steht ein Kreuz.
“Und somit nehmen wir Abschied von unserer geliebten Bildung”, schließt der Redner. Die Kiste wird eingelassen, die Lehrer werden aufgefordert, nach vorn zu treten. Gewollt oder nicht, zunächst kommt kein Lehrer. Erst nach ein paar Momenten treten sie hervor, nehmen eine Schaufel und bedecken den Sarg nach und nach mit Sand. Am Ende tun es ihnen die Schüler gleich. Die Bildung ist begraben.
Was ist an diesem 28. März 2012 nur in die Schüler gefahren? Sie protestieren – für ihre Lehrer, für mehr Unterricht, also gegen Ausfall. So akut ist die Situation in der sächsischen Bildung nun schon, dass sogar die sonst Ausfall-liebenden Eleven aufwachen. Doch dass Sachsen Lehrer fehlen, dürfte ihnen am allerwenigsten verborgen bleiben. Sie fehlen schon heute und sie werden – Stand heute – in Zukunft noch viel mehr fehlen.
“Bis 2015 gehen 4.050 Lehrer in Rente und nur 2.200 sollen neu eingestellt werden. Da kann jeder ausrechen, wie es mit Sachsens Bildung weitergeht”, klagt Jens Weichelt, der Vorsitzender des Sächsischen Lehrerverbands an, “umso besser, dass es diese Aktion gibt. Vor den Schülern ziehe ich den Hut.”
Johny Morgenstern, stellvertretender Schulleiter des Kant-Gymnasiums, kennt die jetzigen Probleme als Stundenplanverantwortlicher nur zu gut. “Die gesamte Stundenplangestaltung ist in den letzten Jahren schwieriger geworden. Fällt ein Kollege aus, fehlen oftmals die Alternativen.” Die Folge: Schüler müssen mehr Stunden als gewöhnlich mit Stillarbeit verbringen.
Doch die Alternativen fehlen nicht nur, weil das durchschnittliche sächsische Lehrerkollegium um die 50 Jahre alt ist und damit krankheitsanfälliger sein dürfte, sondern auch wegen der Abordnung vieler Lehrer. “Manche Kollegen an unserer Schule müssen immer einen Tag an eine andere Schule, sind damit für uns nicht einplanbar”, erklärt Schulleiterin Heike Palluch. Einige wechseln sogar mitten am Tag die Schule, müssen ihren Unterricht an den Schulen deshalb vorzeitig verlassen. Der Lehrermangel an Grund- und Mittelschulen hat so indirekt schon die Gymnasien erreicht, die eigentlich noch als recht gut abgedeckt galten.
Den Schülern reicht es mittlerweile. An ihrer Spitze hat der Landesschülerrat zum Protest in den sächsischen Großstädten und in der Region Bautzen aufgerufen. Der Ruf stieß auf offene Ohren, wie Leipzigs Stadtschülersprecher Georg Heyn erklärt: “Was heute in Sachsen stattfindet, ist der größte Bildungsprotest seit langer Zeit. Allein in Leipzig beteiligen sich 26 Schulen und damit insgesamt mehr als 10.000 Schüler an dieser Aktion.”
Am Kant-Gymnasium beteiligen sich neben den vielen Schülern auch die Elternvertreter an den Protesten. Mutter Gabi Kannegießer ruft den Schülern zu: “Ihr könnt euch sicher sein, dass wir als Eltern gewillt sind, alle Mittel auszuschöpfen, um euch zu helfen”, denn, so Kannegießer weiter “für die Zukunft einer Gesellschaft und unseres Landes kann es nichts Wichtigeres als die Bildung geben.” Applaus von den Schülern, die sich jede der vier Reden bis zum Schluss genau anhören, ehe sie wieder an der Reihe sind.
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Auf dem Schulhof bilden sie einen traurigen Smiley, dessen Einzelteile der Politik die rote Karte zeigen. “Und nun schreibt auf die Rückseite der Karte, was euch bei der sächsischen Bildung ankotzt”, werden sie aufgefordert. Es wird nicht gerade wenig sein, hochgelobte sächsische Bildung hin oder her. Etwas früher als geplant ist der Protest, der offiziell als Schülerversammlung bei der Schulleiterin angemeldet wurde, zu Ende. Direktorin Palluch ist zufrieden. “Ich freue mich, dass die Schüler für ihre Bildung auf die Straße beziehungsweise den Schulhof gehen und sie nicht nur an den Unterricht, sondern auch an die Absicherung der außerunterrichtlichen Angebote wie Förderunterricht denken.”
Zum Abschluss verkündet Schülersprecherin Leandra Hau: “Wir haben die Bildung beerdigt.” Die letzten Schüler beschriften noch schnell ihre roten Karten. Sie werden demnächst mit den roten Karten der anderen Leipziger Schüler im Sächsischen Kultusministerium auftauchen. Jens Weichelt vom Lehrerverband hatte keine, obwohl er beim Thema Lehrermangel genug zum Anprangern hätte. “Um junge Menschen für den Lehrerberuf zu begeistern, müssen wir ganz klar die Arbeitsbedingungen verbessern”, so Weichelt, der dabei vor allem “die bessere Eingruppierung in die Gehaltsgruppen” meint. Seiner Auskunft nach verdienen Kollegen in Westdeutschland um die 1.000 Euro netto mehr. “Das geht nicht.”
Cornelia Falken, Kreisvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissen, weiß, dass schon die Einstiegsgehälter für Lehrer nicht gerade rosig sind. So bekämen Grundschullehrer nach ihrem langen Studium “in den ersten Jahren ungefähr 1.600 Euro netto, Gymnasiallehrer 2.000 Euro.” Für Falken ein Unding, erst recht vor dem Hintergrund, dass die Bezahlpraxis eigentlich beste Voraussetzungen für Neueinstellungen sind. “Lehrer, die ausscheiden, bekommen nur 1.300 Euro mehr als Neueinsteiger. Das heißt, dass Sachsen mit dem gesparten Gehalt von drei ausgeschiedenen Gymnasiallehrern zwei neue einstellen könnte.”
Doch das passiert nicht, und das könnte Sachsen bald auf die Füße fallen. “Der Werbedruck von anderen Bundesländern wie Thüringen, Sachsen-Anhalt und Bayern wird größer werden”, prophezeit zumindest Weichelt, denn Sachsen ist eines von nur noch zwei Bundesländern, das Lehrer nicht verbeamtet, und Beamte verdienen generell mehr. Wer sich aber für ein Angestelltenverhältnis entscheidet, muss den Lehrern auch etwas bieten”, so Weichelt.
Am Kant-Gymnasium ist nach den Protesten kein Unterricht. Heute ist Berufswahltag. “Die Schüler haben extra darum gebeten, die Versammlung 8 Uhr durchführen zu können, weil ihnen der Berufswahltag sehr wichtig ist”, erzählt Palluch. Dabei müsste die Wahl doch eigentlich klar sein: Laut einer Erhebung des Lehrerverbands müsste in den kommenden Jahren jeder vierte Abiturient Lehramt studieren, um den Bedarf in Zukunft decken zu können.
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