Am 27. Januar wird der Internationale Gedenktag an die Opfer des Holocaust begangen. Antisemitische Ressentiments sind in Deutschland nie wirklich verschwunden, sie treten nur oft in verdeckter Form auf, erklรคrt zu diesem Anlass Prof. Dr. Gert Pickel von der Universitรคt Leipzig. Er ist stellvertretender Sprecher des Kompetenzzentrums fรผr Rechtsextremismus und Demokratieforschung (KReDo) und neu gewรคhlter Antisemitismusbeauftragter der Universitรคt.
Die Leipziger Autoritarismus-Studie erhebt unter anderem regelmรครig, wie weit verbreitet antisemitische Ressentiments in Deutschland sind. Welche Entwicklungen haben Sie in den vergangenen Jahren beobachtet und welche Bevรถlkerungsgruppen fallen dabei besonders ins Auge?
Wรคhrend ein tradierter und offener Antisemitismus seit 2002 zurรผckgegangen ist und nur noch etwas mehr als 3 % der Deutschen als รผberzeugte Antisemit/-innen gelten kรถnnen, sind seit Jahrzehnten 30 % der Deutschen von der Richtigkeit eines Schuldabwehr-Antisemitismus รผberzeugt. Die Zustimmungsraten zu einem israelbezogenen Antisemitismus sind zwischen 2020 und 2022 sogar leicht gefallen und bewegen sich zwischen 10 und 20 Prozentpunkten an Zustimmung.
Antisemitische Ressentiments haben also nicht wirklich zugenommen, sie werden nur im รถffentlichen Leben prรคsenter โ und sind scheinbar sagbarer geworden.
Antisemitische Ressentiments finden sich besonders stark im extrem rechten politischen Spektrum bis hin zur Mitte der Gesellschaft sowie in Teilen in muslimischen Communitys. Greifen erstere gerne auf einen Schuldabwehr-Antisemitismus (sekundรคren Antisemitismus) zurรผck, der bis hin zu einer Schuldumkehr, wo Juden und Jรผdinnen zum Schluss am Holocaust sogar selber schuld sein sollen, reichen kann, ist unter Muslim/-innen der israelbezogene Antisemitismus stรคrker als im Bevรถlkerungsdurchschnitt verbreitet.
Dies zeigen Ergebnisse aus der Leipziger Autoritarismus-Studie und der begleitenden Erhebung unter Muslim/-innen aus dem Projekt โRadikaler Islam โ Radikaler Antiislamโ (RiRa). Dort halten immerhin 52 % der deutschen Muslim/-innen die Grรผndung Israels fรผr eine schlechte Idee.
Zur Wahrheit gehรถrt allerdings auch, dass die Hรคlfte der Muslim/-innen israelbezogenem Antisemitismus nichts abgewinnen kann. Gleichzeitig wรคchst unter Deutschen, die sich dem rechten Spektrum zuerkennen, der Schuldabwehr-Antisemitismus bis รผber 60 %. Antisemitismus ist also โ ohne den Befund einschrรคnken zu wollen โ keineswegs allein eine Sache der Muslim/-innen, wie mancher einem glauben machen mรถchte.
Genau genommen muss von Fall zu Fall entschieden werden, ob eine Person sich israelkritisch oder antisemitisch รคuรert.
Antisemitische Ressentiments sind zudem unter jรผngeren Menschen in Deutschland seltener verbreitet als unter รคlteren Menschen, was besonders stark fรผr den Schuldabwehr-Antisemitismus gilt.
In welchen Formen begegnet uns Antisemitismus im Alltag?
Antisemitische Ressentiments sind in der post-nationalsozialistischen Gesellschaft nie wirklich verschwunden. Antisemit/-innen haben sich nur vermehrt eine Umweg-Kommunikation gesucht, die ihnen im Notfall ermรถglicht, es abzustreiten ein/-e Antisemit/-in zu sein.
So ermรถglicht die รuรerung, dass man den โErinnerungskultโ mit dem Holocaust heute mal ruhen lassen kรถnne oder Israel an aller Not der Welt schuld ist, sich antisemitisch zu รคuรern und dies im Notfall als harmlose eigene Meinungsรคuรerung deklarieren zu kรถnnen.
Vergleichbares findet sich fรผr einen auf Dรคmonisierung, Delegitimierung und doppelte Standards beruhenden Antisemitismus, der sich als Israelkritik tarnt, aber in Wirklichkeit keine konkret formulierte โ und dann auch berechtigte โ Kritik รคuรert. Hinter diesen Aussagen steht eine breitere Verinnerlichung antisemitischer Ressentiments in der Gesellschaft, als man sie gerne glauben wollte.
So befรผrworten 41 % der Deutschen in der Leipziger Autoritarismus-Studie 2022 die Aussage โReparationsforderungen an Deutschland nutzen oft gar nicht den Opfern, sondern einer Holocaust-Industrie von findigen Anwรคltenโ und 19 % sehen โIsraels Politik in Palรคstina als genauso schlimm wie die Politik der Nazis im Zweiten Weltkriegโ.
Und dies sind nur diejenigen, die explizit solchen Aussagen zustimmen und nicht einer Antwort ausweichen.
Andererseits zeigen die Menschen in Deutschland gefรผhlt mehr Solidaritรคt mit Israel als in anderen europรคischen Lรคndern โ beispielsweise mit Blick auf die Terrorangriffe der Hamas vom 7. Oktober 2023. Ist das Ihrer Einschรคtzung nach tatsรคchlich so und โ wenn ja โ hรคngt es mit der deutschen NS-Vergangenheit zusammen?
Ohne Frage, die starke Solidaritรคt ist auch aus der diesbezรผglich stark belasteten Vergangenheit zu erklรคren. Dies hat nicht nur auf der politischen Ebene, sondern auch รผber persรถnliche Besuche von Deutschen in Israel und eine gestiegene Beschรคftigung mit den nationalsozialistischen Verbrechen zu besonderen Beziehungen zu Israel gefรผhrt.
Gleichzeitig gab es immer Gegenbewegungen, wie ich sie ja bereits beim Schuldabwehr-Antisemitismus, mit seinem Versuch einen Schlussstrich unter die nationalsozialistische Vergangenheit zu setzen, aufgezeigt habe.
Trotz aller gewachsenen Offenheit bleibt eine doch tiefe Verankerung des antisemitischen Ressentiments, die dann aufbricht, wenn nach Sรผndenbรถcken fรผr etwas gesucht wird. Hier kann man vermutlich dem Psychoanalytiker Zvi Rex folgen: โDie Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen.โ
Die Fragen stellte die Medienredaktion der Universitรคt Leipzig.
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Neu gewรคhlter Beauftragter gegen Antisemitismus
Prof. Dr. Gert Pickel ist am 23. Januar 2024 zum Antisemitismusbeauftragten der Universitรคt Leipzig gewรคhlt worden. Der Senat der Universitรคt hatte im Dezember 2023 die Einrichtung dieses Amtes beschlossen, um auf den Anstieg antisemitisch motivierter Vorfรคlle und Diskriminierungen in Deutschland insgesamt, aber speziell auch an Hochschulen zu reagieren.
โIch will im Amt vor allem Ansprechpartner fรผr jรผdische Studierende und Mitarbeiter:innen der Universitรคt Leipzig seinโ, erklรคrt Pickel. โGleichzeitig geht es mir darum, die intensive und auch differenzierte Auseinandersetzung mit Antisemitismus an unserer Universitรคt zu stรคrken und voranzubringen. Gerade vor dem Hintergrund der stetigen Existenz von Antisemitismus, aber auch der zu beobachtenden Revitalisierung antisemitischer Ressentiments in der รffentlichkeit, scheint mir dies eine wichtige Aufgabe fรผr unsere Universitรคt zu sein.โ
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