Am 21. September jährt sich der von den Vereinten Nationen ausgerufene Weltfriedenstag – der die Idee des Friedens sowohl innerhalb der Länder und Völker als auch zwischen ihnen beobachten und stärken soll. Damit, wie zwischen Russland und der Ukraine Frieden wiederhergestellt werden beziehungsweise wie der Krieg Russlands gegen die Ukraine überhaupt irgendwie „ausgehen“ kann, beschäftigt sich bereits seit Beginn des russischen Angriffskriegs der Leipziger Historiker Prof. Dr. Stefan Rohdewald.
Im Interview äußert sich der Historiker der Universität Leipzig über die Chancen auf Frieden aus geschichtlicher Perspektive.
Herr Prof. Rohdewald, vor fast eineinhalb Jahren sagten Sie im Interview, dass eine Machtbalance zwischen den Kriegsparteien einen Friedensschluss begünstigen würde, Russland und die Ukraine aber noch weit entfernt von einem Punkt der Einigung seien. Wie beurteilen Sie das aus heutiger Sicht?
Prof. Dr. Stefan Rohdewald: Tatsächlich ist weiterhin kaum von einer bevorstehenden Einigung auszugehen, solange Russland weiter neue Gebiete (Charkiv) angreift und die besetzten Gebiete nicht räumt. Jedenfalls hat die Ukraine bis heute bewiesen, gegen den umfassenden Angriff auf die eigene Existenz außerordentlich starken und nachhaltigen Widerstand mobilisieren zu können, sodass bei weiterer und natürlich stärkerer Unterstützung das Bestehen des Staates nicht infrage steht. Das weiterhin durch Russland angestrebte Ziel der Auflösung der ganzen Ukraine in Russland ist mit großen Opfern verunmöglicht worden.
Ein Friedensschluss ist aktuell erklärtermaßen nicht im Interesse Russlands, das weiterhin – und mit Raketenangriffen praktisch jede Nacht, darüber wird ja kaum noch berichtet – immer wieder alle Regionen der Ukraine angreift. Aktuell hat sich weitgehend ein Stellungskrieg entwickelt, der auf Jahre fortgeführt werden könnte – falls nicht doch ein markanter Durchbruch, hoffentlich seitens der ukrainischen Kräfte, alles wieder in Bewegung bringt.
Anstelle eines baldigen Friedens sehen die drei baltischen Staaten in Russland eine ernsthafte Bedrohung und fürchten, Sie seien als Nächstes dran, wenn Russland den Krieg gegen die Ukraine gewinnt. Wie lässt sich diese Angst historisch erklären?
Mit dem Pakt zwischen der Sowjetunion und NS-Deutschland 1939, der den Anfang des Zweiten Weltkriegs bedeutete, wurden die baltischen Staaten besetzt, die Bevölkerung zu großen Teilen deportiert beziehungsweise für die eigene Armee mobilisiert – ein durch und durch völkerrechtswidriges Szenario, das aktuell die Ukraine trifft. Die Vereinten Nationen (UNO), die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) und die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) haben nach dem Krieg, mithin auch auf Initiative der Sowjetunion, die Ächtung des Angriffskriegs und die Unverletzlichkeit staatlicher Grenzen zum Kern der globalen und europäischen Friedensordnung gemacht.
Das Handeln Russlands in Georgien seit 2008, in der Ukraine seit 2014 und in extremer Zuspitzung seit 2022 hat zum Ziel, diese Prinzipien aufzuheben: Dann gilt das Faustrecht und kleinere Nachbarstaaten des neoimperial handelnden russischen Staates müssen das Schlimmste befürchten. Die NATO müsste auf jede, auch hybride, etwa durch Wagnertruppen, Verletzung der territorialen Integrität dieser Staaten umgehend – natürlich nicht nuklear – reagieren, sonst geht ihre Glaubwürdigkeit sehr rasch verloren und der Spielraum Putins wird weiter größer: Dies ist aktuell die größte Angst im Baltikum, aber auch in Polen und Rumänien.
Den Weltfriedenstag gibt es bereits seit 1981. Wie haben sich die Bedingungen/Voraussetzungen für weltweiten Frieden in den letzten 50 Jahren verändert – und wie verhält sich der Krieg Russlands gegen die Ukraine hierzu?
1979 war die Sowjetunion in Afghanistan einmarschiert – und 1981 wurde das Kriegsrecht in Polen verhängt. Dennoch inszenierte sich die Sowjetunion als friedliebend und sah die Förderung der Friedensbewegung sowie auch des UNO-Weltfriedenstages als eine propagandistische Priorität. Mit dem Ende des Kalten Krieges ist die Welt nicht einfacher geworden – der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ist aber seit dem Genozid an der muslimischen Bevölkerung Bosniens durch serbische Truppen der radikalste Bruch mit den Prinzipien der europäischen Friedensordnung nach 1945. Russland hat ganz ausdrücklich zum Ziel, eine eigene imperiale Einflusszone in Europa (wieder)herzustellen – dem Frieden wird jetzt und langfristig nur gedient sein, wenn dies verhindert werden kann.
Sie waren gerade auf Ukrainetagungen in Warschau und Vilnius unterwegs. Wie werden die Chancen auf Frieden von internationalen Wissenschaftler/-innen eingeschätzt?
Abgesehen von einer immer möglichen plötzlichen Veränderung der Lage – auch ein Sturz Putins etwa durch ein Komitee zur Rettung der nationalen Interessen ist zum Beispiel, bei weiteren Misserfolgen, nie völlig auszuschließen – erscheinen aktuell höchstens ein koreanisches oder ein israelisches Szenario wahrscheinlich. Selbst ein Vertrag mit Putin wäre schwerlich glaubwürdig, zumal er alle harten Abkommen gebrochen hat, einschließlich des jüngsten ukrainisch-russischen Grenzvertrages von 2003. Nur ein Führungs- und radikaler Politikwechsel in Moskau könnte das notwendige Vertrauen wiederherstellen.
In Korea herrscht ein Waffenstillstandsabkommen, das den Status Quo von 1953 ohne Friedensschluss bisher stabilisiert hat. Israel kann sich nur durch eigene Kraft und sicherheitspolitische Unterstützung weniger Partner sicher fühlen: Die Existenz des Staates ist seit Jahrzehnten dauerhaft durch die Nachbarstaaten bedroht und insbesondere durch Iran bis heute sehr klar existenziell gefährdet. Die kürzlich in Vilnius begonnenen Gespräche über Sicherheitsgarantien für die Ukraine seitens zahlreicher Staaten folgen im Prinzip dem internationalen Schutz Israels und müssen nun mit sehr konkretem Inhalt geführt werden.
Das Interview führte die Medienredaktion der Universität Leipzig.
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Prof. Dr. Stefan Rohdewald hat seit 2020 den Lehrstuhl für Ost- und Südosteuropäische Geschichte am Historischen Seminar der Universität Leipzig inne. Der Historiker ist am Exzellenzclustervorhaben New Global Dynamics im Rahmen der zweiten Wettbewerbsphase der Exzellenzstrategie von Bund und Ländern beteiligt. Die Schwerpunkte seines Forschungsprofils sind: Verflechtungsgeschichte des östlichen Europa und des Nahen Ostens; Erinnerungsdiskurse; Stadtgeschichte; Sport-, technik- und wissensgeschichtliche Verflechtungen zwischen Ost und West; Transkulturalität, Transkonfessionalität.
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