Wie lassen sich die erstaunlichen Fähigkeiten des Gedächtnisses auf der Grundlage der Anatomie unseres Gehirns erklären? Das ist eine Frage, welche die Gehirnforschung schon lange umtreibt. Aber jetzt deuten Forschungen, an denen auch Leipziger Forscher beteiligt waren, darauf hin, dass es im menschlichen Gehirn diverse Netzwerke gibt, die auch das komplexe Erinnerungsvermögen des Menschen ermöglichen.
Es ist bekannt, dass verschiedene Funktionen in unterschiedlichen Bereichen und Strukturen des Gehirns verankert sind. Wir wissen zum Beispiel, dass bestimmte Bereiche der Großhirnrinde für die Wahrnehmung der Außenwelt, die Vorstellung unserer Zukunft und das Nachdenken über andere Menschen zuständig sind. Über die Verbindung der Hirnregionen, die diese wichtigen kognitiven Funktionen unterstützen, mit dem menschlichen Gedächtnissystem ist jedoch wenig bekannt.
Mit einem neuartigen Ansatz der Bildgebung und der hochauflösenden funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRI) haben sich Neurowissenschaftler und Physiker des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften CBS in Leipzig (Deutschland) sowie der Neuroanatom Menno Witter vom Kavli Institute for Systems Neuroscience in Trondheim (Norwegen) nun in die Tiefen des menschlichen Gedächtnisses vorgewagt.
Sie konnten bisher unbekannte kortikale Netzwerke entdecken und Aufschluss über die anatomische Organisation des Gedächtnissystems erlangen. Ihre Ergebnisse wurden kürzlich in der renommierten Fachzeitschrift „Neuron“ veröffentlicht.
Die so wichtigen Details
Das menschliche Gedächtnissystem ist im medialen Temporallappen (MTL) angesiedelt. Er umfasst im Wesentlichen den Hippocampus, den parahippocampalen Kortex, den perirhinalen Kortex und den entorhinalen Kortex.
„Eine große Herausforderung bei der Untersuchung des MTL ist seine große anatomische Variabilität bei verschiedenen Menschen. Daher verwischten frühere Studien, die Durchschnittsdaten von Gruppen verwendeten, feine anatomische Details zwischen verschiedenen Unterregionen des menschlichen MTL, die sich in unmittelbarer Nähe zueinander befinden.
Das ist so, als würde man die Struktur von Gesichtern untersuchen, indem man den Durchschnitt von 1.000 verschiedenen Gesichtern zusammennimmt. Wir erhalten wichtige Organisationsprinzipien eines Gesichts – wo sich die Augen und die Nase befinden, wo der Mund ist -, aber wir verlieren wichtige eigentümliche Details“, erklärt der Erstautor der Studie, Daniel Reznik vom MPI CBS.
Ihm zufolge besteht eine weitere Herausforderung bei der Untersuchung des MTL beim Menschen darin, dass diese Hirnregion stark durch Empfindlichkeitsartefakte beeinträchtigt wird, weshalb es nur sehr begrenzt möglich ist, qualitativ hochwertige MRT-Signale zu erhalten.
In ihrer aktuellen Studie lösten die Wissenschaftler diese Herausforderungen bei der Bildgebung und konnten schließlich die kortikalen Hirnregionen genauer erkunden, die mit verschiedenen Unterregionen des menschlichen Schläfenlappens bei Individuen verbunden sind.
Ein evolutionär junges Netzwerk
„Anstatt Daten von vielen verschiedenen Personen zu sammeln, haben wir viele Daten von denselben Personen gesammelt, was die anatomische Präzision unserer Studie dramatisch erhöht hat. Wir haben unsere Expertise in den Bereichen Hochfeld-Bildgebung, Neuroanatomie und kognitive Neurowissenschaften kombiniert und die Anatomie des MTL sehr detailliert untersucht. Dadurch konnten wir kortikale Netzwerke identifizieren, die mit dem menschlichen medialen Temporallappen verbunden sind und die der bisherigen Gedächtnisforschung beim Menschen unbekannt waren“, beschreibt Daniel Reznik das Vorgehen.
„Ähnliche kortikale Netzwerke gibt es auch bei Tieren, und die vielleicht aufregendste Erkenntnis ist, dass wir nun Hinweise auf potenziell neue kortikale Bahnen im menschlichen Gedächtnissystem im Vergleich zu nicht-menschlichen Primaten haben.“
Christian Doeller, Direktor der Abteilung für Psychologie am MPI CBS, fügt hinzu: „Diese neuen Erkenntnisse sind wichtig, denn selbst nach vielen Jahren der Erforschung des menschlichen Gedächtnisses wusste niemand wirklich, wie die Regionen im MTL mit dem Rest des menschlichen Gehirns verbunden sind. Die Konnektivität des entorhinalen Kortex ist für uns von besonderem Interesse, da dies eine der ersten Gehirnregionen ist, die beispielsweise von der Alzheimer-Krankheit betroffen sein kann.
Unsere Entdeckung definiert die anatomischen Grenzen, innerhalb derer die menschlichen Gedächtnisfunktionen ablaufen, und ist aufschlussreich für die Untersuchung der evolutionären Entwicklung von Verschaltungen des Temporallappens bei verschiedenen Spezies. So zeigen beispielsweise Daten von nicht-menschlichen Primaten im Vergleich nur geringe Verbindungen zwischen dem entorhinalen Kortex und dem frontalen Kortex – im Gegensatz dazu fanden wir heraus, dass diese Verbindungen beim Menschen stärker ausgeprägt sind.“
Und Daniel Reznik ergänzt: „Da eines der Netzwerke, die mit dem entorhinalen Kortex des Menschen verbunden sind, auch an der sozialen Verarbeitung beteiligt ist, vermuten wir, dass es sich um ein evolutionär junges Netzwerk handelt, das sich möglicherweise erst nach dem umfangreichen Ausbau des Kortex beim Menschen entwickelt hat.“
Originalpublikation: Daniel Reznik, Robert Trampel, Nikolaus Weiskopf, Menno P. Witter, Christian F. Doeller
„Dissociating distinct cortical networks associated with subregions of the human medial temporal lobe using precision neuroimaging” In: Neuron
Keine Kommentare bisher