Ganz egal, ob es im Stundenplan Ethik, Philosophie, Werte und Normen, Praktische Philosophie, Philosophieren mit Kindern oder Allgemeine Ethik heißt: Es soll in diesen Fächern auch um die Religionen gehen, die auf dieser Erde existieren.
Nur passiert das in Deutschland viel zu selten. Dr. Katharina Neef hat mit Experten der Universitäten in Leipzig und Hannover herausgefunden, dass Religionskunde im Ethikunterricht das Stiefkind des Stiefkindes ist.
In manchen Ländern existiert nicht mal eine Lehramtsausbildung für dieses Fach, da kann dann auch keine Religionskunde unterrichtet werden. Welche Folgen dies hat und wie die Situation in Sachsen ist, erzählt die Religionswissenschaftlerin Dr. Katharina Neef.
Frau Neef, wie kommt man darauf, die Umsetzung von Religionskunde an deutschen Schulen zu untersuchen?
Das liegt doch auf der Straße (lacht). Wenn Sie sich den Ethikunterricht anschauen, wie er verfasst ist, dann ist Religion in fast jedem Ethikunterricht ein Thema. Das ist historisch begründet, weil Ethik ein Ersatzfach ist für die Kinder, deren Eltern nicht wollten, dass sie konfessionell in Religion unterrichtet werden. Ethik ist damit das Fach, in dem Religion als Gegenstand vorkommt, wenn ihr Kind nicht am Religionsunterricht teilnimmt.
Sie haben in Ihrer Studie untersucht, inwieweit Religionskunde im Ethikunterricht in allen deutschen Bundesländern unterrichtet wird. Das klingt nach viel Arbeit.
Ja, es war beinahe ein Großprojekt. 2017 haben wir begonnen, haben dann durch Corona etwas an Zeit verloren. Wir haben Kollegen aus den einzelnen Bundesländern gewonnen, die Situation vor Ort zu recherchieren und das zuzuarbeiten. Es ging dabei erstmal zunächst darum, auf der formalen Ebene zu sehen, wie diese Alternativfächer in der Schule verankert sind und ob und wie laut Lehrplan Religion angesprochen wird.
Dann haben wir uns die Lehramtsausbildung für dieses Fach angesehen. Ethikunterricht ist oft im Philosophischen Institut abgebildet – was an dem großen Anteil an philosophiebezogenen Unterrichtsthemen liegt. Religion ist aber eben auch im Lehrplan verankert, aber in der Lehramtsausbildung diversifiziert sich dann stark, ob und wie Religion im Studium abgebildet wird: entweder gar nicht oder einigermaßen, je nachdem, ob und wer es dann unterrichtet.
Nicht selten sind es die Religionsphilosophie oder die Theologie, die aber beide sehr spezifische Zugänge zu Religion pflegen: eben sehr auf Ideen und Schriften fokussierten oder eben die eigene Tradition begründend. Was zu kurz kommt – und das sage ich als Religionswissenschaftlerin – ist ein Reden über Religion als etwas lebensweltliches, auch praktisches.
Einen solchen sozialwissenschaftlichen Zugang zu Religion erachten wir als wünschenswert, weil er Religion auch als etwas Alltägliches und Diverses erfasst, nicht nur als geistige Sphäre, in der alte weiße Männer um Gottesbegriffe ringen. Das dritte Standbein der Studie waren die politischen Debatten um das jeweilige Fach und seinen Status in den einzelnen Bundesländern. In Sachsen lief und läuft das allerdings relativ unaufgeregt.
Und in anderen Bundesländern?
Ja, da gibt es große Unterschiede. Zum Beispiel finden wir da auch einen Ost-/West-Gegensatz, der sich aus den historischen Gemengelagen ergibt. An Sachsens Schulen etwa sind die Religionsunterrichte – evangelischer, katholischer und jüdischer Religionsunterricht – und Ethik als Wahlpflichtfächer weitgehend gleichrangig.
Eltern oder Kinder, wenn sie 14 Jahre alt werden, wählen ein Fach von mehreren. In vielen alten Bundesländern dagegen gibt es bis heute oft die sogenannte Ersatzfachregelung. Das heißt, dass der Religionsunterricht der Normalfall ist und das Ersatzfach dem nachgelagert ist.
Auch unterscheiden sich die Wege, die die Bundesländer genommen haben, um für Ersatz zu sorgen. Während es in Sachsen eben nur relativ wenige Religionsunterrichte gibt, wurden in Baden-Württemberg, Hessen oder NRW unglaublich viele Partikularunterrichte eingerichtet, zum Beispiel altkatholischer, freireligiöser oder mennonitischer Religionsunterricht.
Hier hält man also die grundgesetzliche Idee des Religionsunterrichts aufrecht, indem man auf so viele Religionsgemeinschaften wie möglich eingeht und ihnen diesen Religionsunterricht ermöglicht. Auch wenn der dann nur von sehr, sehr wenigen Kindern nachgefragt wird.
Ein anderer Fall ist der Islam, weil die muslimischen Gemeinden anders verfasst sind. Sie sind etwa meistens keine Körperschaft des öffentlichen Rechts, wie es die Kirchen sind. Da ist es schwer, einen Ansprechpartner zu finden, mit dem man die Umsetzung des islamischen Religionsunterrichts besprechen kann.
In der Folge finden wir da, auch vor allem in den westlichen Bundesländern, ganz verschiedene Konstruktionen – mit einzelnen Gemeinden, mit runden Tischen, mit staatlichen Trägern oder mit mehreren muslimischen Unterrichten. Generell aber können wir sagen, dass dort, wo es diese Diversifizierung in den Religionsunterrichten gibt, eher davon auszugehen ist, dass der Ethikunterricht vernachlässigt wird.
Ein anderes Thema sind die Klassenstufen, in denen Ethik als Ersatzfach angeboten wird. Meine Kollegin Christina Wöstemeyer hat das alles vergleichend aufgearbeitet. In Hamburg, im Saarland und in Bremen gibt es in der Grundschule überhaupt keinen Ersatz. Wer also von Religion abgemeldet wird, der hat dann Ausfall, während die anderen bei Religion sind.
Das wurzelt noch in der Idee, dass das Ersatzfach Ethik ein rein philosophisches Fach ist, das man nur den älteren Schüler/-innen zumuten könne. Dass es Religionsunterricht auch eher gibt und wie man dort ein Alternativangebot machen könnte, fällt so komplett hinten runter.
Und wie stellt sich die Situation im Osten dar?
In den neuen Bundesländern ist das ganz anders. Es gab in Sachsen nach der Wende auch eine Debatte über die Regelung. Man wollte sich zuerst an Bayern mit dem Ersatzfachmodell orientieren. Den Politikern in Dresden ist dann aber relativ schnell klargeworden, dass das in einem Bundesland, wo 75 Prozent nicht der Kirche angehören, nicht die richtige Regelung sein kann. Dann fiel die Entscheidung: Wir lassen komplett wählen zwischen Ethik und Religion. So hatte die Regierung in Sachsen allerdings die Aufgabe, die Unterrichtsabdeckung von Ethik zu gewährleisten.
Welche Unterschiede gibt es zurzeit zwischen den Bundesländern bei der Vermittlung von Religionskunde in der Lehramtsausbildung?
Wie gesagt, auch das ist sehr disparat und von der Lage in den einzelnen Bundesländern abhängig. In Bayern beispielsweise war für Ethik bis 2021 gar keine grundständige Lehramtsausbildung möglich. Das hieß: Entweder es wurde gar nicht an Schulen angeboten oder ein Lehrer machte eine einwöchige (!) Weiterbildungsmaßnahme an einem Weiterbildungsinstitut, in dem vor allem Theolog/-innen den Unterricht anboten, oder ein Lehrer, der sich dazu bereiterklärte, unterrichtete Ethik fachfremd. Die Ausfallquoten waren entsprechend sehr hoch.
Also ist Religionskunde letztlich das Stiefkind in vielen Bundesländern oder wie kann ich diesen Einblick in die Studienergebnisse interpretieren?
Ja, und das in doppeltem Sinne: Ethik ist schon in einigen Ländern ein Stiefkind und die Thematisierung von Religion in diesen Fächern dann oft noch mal. Dabei haben wir herausgefunden, dass Religionskunde ein wichtiger Teil vieler Ethiklehrpläne ist, dass sich das aber weder in der Lehramtsausbildung widerspiegelt noch für den religionskundlichen Teil eine didaktische Professionalisierung stattgefunden hat.
Wenn über Religion gesprochen wird, dann ist das gruselig ungenau, viel zu stark reduziert oder zum Teil nicht zutreffend. Es ist kontraproduktiv zum Unterrichtsziel der Toleranzerziehung, wenn manche Religionen immer als exotisch dargestellt werden. Der Grundtenor, der in einer sehr veralteten Religionspädagogik verhaftet ist, lautet: Religionen sind monolithische Blöcke. Da ist überhaupt kein Platz für Vielfalt – da gibt es „das“ Christentum, „das“ Judentum oder „den“ Islam.
Und diese Blöcke werden dann in Lehrbüchern zum Teil erschreckend stereotyp und zum Teil rassistisch dargestellt. Muslima und Muslime werden phänotypisch fast immer als nicht-deutsch dargestellt und stets mit Kopftuch. Da findet eine Abgrenzung statt. Dass jemand mit deutschen Großeltern auch Muslim/-a sein kann, diese Vorstellung kommt gar nicht vor.
Das Gleiche gilt mit umgekehrten Vorzeichen für den Buddhismus. Buddhisten sind friedlich – dass religiöse Gewalt, etwa wie gerade in Myanmar, von Buddhisten ausgeht, passt nicht in das mit Meditationsmusik unterlegte Bild vom lächelnden Buddha.
Wie verhält sich dies mit dem Christentum?
Wenn von Christentum gesprochen wird, ist im ost-/norddeutschen Raum vorwiegend vom Protestantismus die Rede, Katholizismus wird aber auch genannt. Dass Orthodoxe, Baptisten, Adventisten oder Zeugen Jehovas auch Teil der christlichen Welt sind, wird nicht gesagt. Die stehen dann eher als Sekten in der Ecke.
Es werden also ganz klar „normale“ Formen von Religionen markiert: Wessen Religion ist ok, welche nicht. Das ist eine Erkenntnis, die wir auch im Handbuch festgehalten haben. Die Forschung spricht hier vom Weltreligionen-Paradigma. Das heißt kurz gesagt: Über die Weltreligionen muss man etwas wissen, der Rest kann weg.
Was werden aus Ihrer Sicht die Folgen dieser Entwicklung sein?
Die massivste Folge ist, dass wir ganz schlecht darauf vorbereitet sind, über Religion zu sprechen. Wenn Sie außerhalb von Schule oder Uni über Religion sprechen, wird es entweder persönlich oder politisch, positiv oder negativ. Entweder ist die Religion Ursprung allen Übels oder ein wichtiger Faktor für Demokratie. Zum Beispiel wird dann das Christentum zu einem Geburtshelfer der Bundesrepublik und der Islam zur Religion, die die Welt bedroht.
Was uns fehlt, ist eine Möglichkeit, über Religion als soziale, kulturelle Phänomene zu sprechen, die gute oder auch schlechte Wirkungen haben können, genauso wie andere Institutionen auch. Man kann Religion als soziales Phänomen genauso erfassen wie andere auch. Man muss nicht Angst haben, Gefühle zu verletzen, denn um diese Gefühle muss es nicht in Religionskunde gehen.
Sie erwähnten bereits ein Handbuch, in dem Sie Ihre Kenntnisse festgehalten haben. Für wen ist dieses Handbuch?
Natürlich für alle (lacht). Nein, im Ernst: Unsere Idealadressaten sind Leute, die sich mit Bildung beschäftigen, Lehrer/-innen genauso wie Bildungspolitiker/-innen und interessierte Leser/-innen, die zum Beispiel über die Entwicklung des Fachs Ethik in Sachsen in den 90er Jahren lesen wollen.
Es gibt 16 Bundesländer-Kapitel, in denen der Prozess der Entwicklung des Ethikunterrichts in jedem Bundesland und der aktuelle Status dargestellt wird. Außerdem gibt es einen historischen Teil, der bis ins Kaiserreich zurückreicht. Man kann unser Handbuch auch als Fallstudie darüber lesen, wie sich der deutsche Staat religionspolitisch formiert hat. Und das Beste: Das Buch steht als open-access-Version beim Verlag de Gruyter offen zur Verfügung.
Wenn Sie als Religionswissenschaftlerin Wünsche an das deutsche Bildungssystem hätten, welche wären dies?
Ich weiß nicht, ob derzeit, wo Lehrer überall fehlen, Wünsche diesbezüglich angemessen sind. Aber natürlich haben wir Wünsche. Zum einen wird uns das Wort „Ersatzfach“ viel zu oft benutzt. Das steht für eine andere Zeit. Denn das Fach Ethik – oder wie es in anderen Bundesländern auch heißen mag – spricht mittlerweile größere Teile der Bevölkerung an als einst in der alten Bundesrepublik.
Zudem ist uns wichtig, dass sich die Qualität der Religionskunde an den Schulen verbessert, dass Religion aus der Schmuddelecke kommt und als Gegenstand dieser Fächer produktiv eingebunden wird.
„Wenn über Religion gesprochen wird, dann ist das gruselig ungenau.“ erschien erstmals am 31. März 2023 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 111 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.
Es gibt 2 Kommentare
eine Muslima und viele Muslime, wbl. pl. lautet Musliminnen oder Muslimas
Oder Sie belassen es einfach ganz konsequent beim generisches Maskulinum. Geht ja bei den anderen Religionen auch ganz gut.
Die Trennung von Staat und Religion ist gruselig genau definiert.