Das Leben auf der Erde ist zwar inzwischen Milliarden Jahre alt. Doch die ersten Milliarden waren vor allem von Einzellern geprägt. Bis wirklich komplexe Organismen entstehen konnten, brauchte es – an der Zeitspanne eines menschlichen Lebens gemessen – unendlich lange Zeiträume, in denen sich einzelne Bausteine des Lebendigen erst entwickeln mussten. Grundlagenforscher/-innen der Universität Leipzig haben ein Rätsel in der Evolution von bakteriellen Enzymen gelöst.
Durch die Rekonstruktion eines Kandidaten für eine spezielle RNA-Polymerase, wie sie vor etwa zwei Milliarden Jahren existierte, konnten sie eine bislang rätselhafte Eigenschaft der entsprechenden modernen Enzyme erklären. Im Unterschied zu ihren Vorfahren arbeiten sie nicht kontinuierlich und sind dadurch deutlich effektiver – Arbeitspausen als evolutionärer Fortschritt.
Die Rekonstruktion des Proteins aus der Vorzeit ist erst durch eine fachübergreifende Zusammenarbeit zwischen molekularer Biochemie und Bioinformatik gelungen. Die Forschungsergebnisse erschienen im renommierten Journal „Molecular Biology and Evolution“.
Blick in die Evolution der Enzyme
Bei den untersuchten Enzymen handelt es sich um tRNA-Nukleotidyltransferasen. Enzyme, die an kleine RNAs in der Zelle (sogenannte transfer-RNAs) drei Nukleotid-Bausteine in der Sequenzabfolge C-C-A anheften, damit sie anschließend Aminosäuren für die Proteinsynthese liefern können.
Durch Stammbaum-Rekonstruktionen hat ein Forscherteam um Prof. Mario Mörl (Biochemie) und Prof. Sonja Prohaska (Bioinformatik) einen Kandidaten für ein derartiges anzestrales – also auf den Vorfahren zurückgehendes – Enzym rekonstruiert, wie es vor etwa zwei Milliarden Jahren in Bakterien existierte. Das Forscherteam hat die Eigenschaften der rekonstruierten RNA-Polymerase anschließend mit denen eines modernen bakteriellen Enzyms verglichen.
Beide Enzyme arbeiten mit ähnlicher Präzision, weisen aber in ihrer Reaktion deutliche Unterschiede auf. Die Tendenz der modernen Enzyme, ihre Arbeit immer wieder zu unterbrechen, war bislang nicht als evolutionärer Vorteil zu erkennen und für die Biochemie deshalb über Jahrzehnte rätselhaft. Erst im Vergleich mit der Arbeitsweise des rekonstruierten Enzyms konnte das Rätsel jetzt gelöst werden.
Das anzestrale Enzym arbeitet prozessiv, also ununterbrochen in einem fort, entfernt dabei aber immer mal wieder bereits korrekt angefügte Nukleotid-Bausteine. Die Ergebnisse zeigen, dass aus Enzym-Rekonstruktionen viel über die Evolution und die Eigenschaften der modernen Enzyme gelernt werden kann und dass viele Fragestellungen nur durch das Zusammenspiel zwischen Bioinformatik und Biochemie in einem Hin und Her zwischen Computerberechnungen und Laborexperimenten gelöst werden können.
An den Verwandtschaftsverhältnissen in die Vergangenheit gehangelt
Anhand von Gen-Sequenzen lassen sich auch von Bakterien evolutionäre Stammbäume erstellen. Ausgehend von der heutigen, breit gefächerten Vielfalt von Organismen in einem Spezies-Baum kann der Evolutionsweg einzelner Gene entlang der Verwandtschaftsverhältnisse und Abzweigungen rekonstruiert und akribisch bis zu einem gemeinsamen Ursprung zurückverfolgt werden.
Die Rekonstruktion geschieht im Wesentlichen in drei Schritten. Zunächst werden Datenbanken nach entsprechenden modernen Enzymen durchsucht, um die Abfolge der Aminosäure-Bausteine untersuchen zu können.
Aus den erhaltenen Sequenzen kann dann zurückgerechnet werden, wie die ursprüngliche Sequenz ausgesehen haben müsste. Die entsprechende Gen-Sequenz, die für das alte Enzym codiert, wird dann in Labor-Bakterien eingebracht, sodass sie das gewünschte Protein bilden. Anschließend kann das Enzym detailliert auf seine Eigenschaften hin untersucht und mit modernen Enzymen verglichen werden.
„Als die Nachricht aus dem Labor kam, dass das rekonstruierte Enzym die C-C-A-Addition durchführt, und das sogar in einem breiteren Temperaturbereich als heutige Enzyme, war das der Durchbruch“, erinnert sich Sonja Prohaska.
Evolutionäre Optimierung: Arbeitspausen erhöhen die Effizienz
Wie Organismen, werden auch Enzyme durch Evolution optimiert. Die Arbeit (Katalyse), die ein Enzym verrichtet, läuft dabei in der Regel umso schneller und besser, je stärker es sein Substrat binden kann. Das rekonstruierte anzestrale Enzym macht genau das, es hält das Substrat, die tRNA, fest und hängt die drei C-C-A-Nukleotide nacheinander an, ohne abzusetzen.
Moderne tRNA-Nukleotidyltransferasen dagegen arbeiten distributiv, also etappenweise mit Pausen, in denen sie ihr Substrat immer wieder loslassen. Dennoch sind sie effizienter und schneller als ihr anzestraler Vorgänger. Das irritierte die Forschenden. Wieso fallen die modernen Enzyme immer wieder von ihrem Substrat ab?
Die Erklärung ist im Phänomen der Rückreaktion zu finden, bei der die eingebauten Nukleotide vom Enzym wieder entfernt werden. Während die starke Bindung des anzestralen Enzyms an das Substrat ein nachträgliches Entfernen zur Folge hat, wird die Rückreaktion bei modernen Enzymen durch das Loslassen des Substrates fast gänzlich verhindert. Dadurch können sie effizienter arbeiten als ihre Vorgänger.
„Wir konnten jetzt endlich erklären, warum die modernen tRNA-Nukleotidyltransferasen trotz distributiver Arbeitsweise so effizient arbeiten“, erklärt Mario Mörl. „Die Erkenntnis hat uns im Team völlig überrascht. Wir haben so etwas nicht erwartet.
Die Frage hatten wir schon vor 20 Jahren und können sie jetzt endlich mit den Rekonstruktionsmethoden der Bioinformatik beantworten. Diese enge Zusammenarbeit zwischen Bioinformatik und Biochemie besteht in Leipzig schon seit mehreren Jahren und hat sich nicht zum ersten Mal für beide Seiten als großer Vorteil erwiesen.“
Originaltitel der Veröffentlichung in „Molecular Biology and Evolution“: „Substrate affinity versus catalytic efficiency: Ancestral sequence reconstruction of tRNA nucleotidyltransferases solves an enzyme puzzle“
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