Stimmen, abstimmen, zustimmen, bestimmen, übereinstimmen, mitstimmen, anstimmen, umstimmen, einstimmen, verstimmen: die Aktionen, die wir dem Wortsinn nach mit unserer Stimme ausführen können, sind vielfältig. Doch unsere Stimme ist zunehmend negativen Einflüssen ausgesetzt, denen schon Kinder und Jugendliche begegnen. Im schlimmsten Fall kann eine unzureichende Stimmentwicklung im Kindesalter dazu führen, dass die Kommunikationsmöglichkeiten im Erwachsenenalter eingeschränkt sind, so Professor Dr. med. Michael Fuchs, Leiter der Sektion Phoniatrie und Audiologie des Universitätsklinikums Leipzig im LZ-Interview.
Dr. Michael Fuchs ist der Richtige, wenn man nach jemandem auf der Suche ist, der einem die Wirkung vom richtigen Sprach- und Stimmerwerb auf ein ganzes Leben betrachtet, erläutern kann. Der Facharzt für Sprach-, Stimm- und kindliche Hörstörung weiß aus der Forschungspraxis, wie es unseren Stimmen geht, welchen Einflüssen sie ausgesetzt sind und wieso eine Investition in die eigene Stimme statt in unser Aussehen langfristig sinnvoller ist.
Herr Professor Fuchs, wie geht’s unseren Stimmen ganz global gesehen?
Bei allen positiven Entwicklungen und Möglichkeiten für eine gesunde, kindgerechte Entwicklung der Stimme: Es besteht schon ein zunehmendes Risiko durch eine Vielzahl an Einflüssen, dass die Kinder ihre Stimme weniger differenziert einsetzen können und es somit zu Stimmstörungen und Stimmentwicklungsproblemen kommt. Oft ist es die Kommunikationskultur in den Familien und peer groups, die dazu führt, dass man immer mit lauter Stimme und mit Geschrei seine Bedürfnisse kenntlich machen muss.
Mit Corona haben wir Probleme beim Nachwuchs mit Kinder- und Jugendchören. Es besteht eine gewisse Zurückhaltung, Kinder in einen Chor zu geben. Das sind schwierige Entwicklungen.
Wohin wird es führen, wenn wir die Stimme nicht mehr so einsetzen, wie es der Kommunikationsabsicht entspricht?
Ein gutes Wort hierfür wäre „attributionsgerecht“ – also der Klang meiner Stimme unterstützt in idealer Weise das Gesagte und meine Absichten. Lernt ein Kind während des Spracherwerbs diese Fähigkeiten nicht oder nur eingeschränkt, schränken sich seine Kommunikationsfähigkeiten ein, was bis in das Erwachsenenalter fortwirken kann.
Zum Beispiel wird bei Bewerbungsgesprächen auf Fertigkeiten in der verbalen und vokalen Kommunikation geachtet. Je stärker das verarmt, je weniger authentisch ich mit meiner Stimme wirke, desto schwieriger wird es. Politiker/-innen und Pädagog/-innen müssen ja mit ihrer Stimme überzeugen. Aber auch als Arzt muss ich beispielsweise gut erklären können, warum sich ein Patient operieren lassen muss – und dazu brauche ich meine Stimme.
Und die Frage ist außerdem: Kann ich in einem stimmintensiven Beruf stimmlich ein Berufsleben lang durchhalten? Gerade, wer seine Stimme im Beruf braucht, merkt oft erst, wenn die Stimme erkrankt, wie wichtig sie ist und wie behindert ich bin, wenn ich sie nicht benutzen kann.
In einer neuen Studie kümmern wir uns um die Stimmgesundheit von Pfarrerinnen und Pfarrern in der evangelischen Kirche. Diese erhalten keine Stimmausbildung im Studium. Oder denken Sie auch an die Callcenter-Angestellten. Die reden den gesamten Tag, obwohl sie nie eine Stimmausbildung genossen haben – und das ist auch ein Grund, warum diese sich regelmäßig mit Stimmstörungen in unserer Sprechstunde vorstellen.
Sie kritisieren die falsche Prioritätensetzung …
Na ja, mir fällt oft auf, wie viel Geld und Zeit Menschen in ihre äußere Schönheit investieren. Aber wie sie mit ihrer Stimme auf andere wirken, nehmen sie gar nicht wahr. Dort könnte man auch investieren.
Anfang September 2022 hat sich die 19. Ausgabe des Leipziger Symposiums zur Kinder- und Jugendstimme mit den vielfältigen Einflüssen auf die heranwachsenden Stimmen beschäftigt. Welche Einflüsse sind das denn ganz allgemein?
Grundsätzlich gibt es viele verschiedene Einflüsse, daher haben wir uns mit einer Auswahl beschäftigt, die dem Motto des Symposiums „Stimme – Medien – Umwelt“ gerecht wurde. Die Stimme ist unser Ausdrucksmittel, mit dem wir – gekoppelt an die Sprache – mit unserer Umwelt kommunizieren. In der Wissenschaft werden die Funktionen Sprache und Stimme als zwei verschiedene Dinge betrachtet: Sprache übermittelt Fakten, Stimme überträgt zusätzlich non-verbale Informationen. Sprache ist: Was sage ich? Stimme ist: Wie sage ich es?
Einerseits kennen wir förderliche Einflüsse, die dem Kind und Jugendlichen helfen, seine Stimme besonders differenziert einzusetzen, also z. B. ausdrucksvoll zu sprechen oder zu singen. Das ist oft ein Vorteil in der täglichen Kommunikation.
Wenn Kinder etwa bis ins 6. Lebensjahr Ihre Muttersprache(n) erwerben, dann hören und lernen sie von Mama und Papa oder anderen Bezugspersonen Vokale, Lautverbindungen, Wörter und ganze Sätze. Sie müssen aber auch lernen, wie es klingt, wenn ich traurig oder fröhlich bin. Ich kann ja Dinge wütend einfordern oder freundlich darum bitten.
Beim Spracherwerb wird also nicht nur das Sprachinventar erworben, sondern es geht auch darum, seine Stimme richtig einzusetzen, um dem Gesagten Authentizität und Nachdruck zu verleihen. Wir haben als Kommunikationspartner sehr feine Antennen, um herauszufinden, ob das Gesagte mit der Art, wie es gesagt wird, zusammenpasst.
Wir hören an der Stimme, was einen Menschen bewegt, wie es ihm oder ihr geht und je präziser ich dafür die Stimme einsetzen kann, umso besser.
Wie können Eltern dies ihren Kindern beibringen?
Wenn ich erreichen möchte, dass dies die Kinder genauso gut lernen, wie das Sprachinventar, dann sollte viel mit Kindern gesprochen werden. Man sollte sich im Familienalltag immer wieder Kommunikationspunkte suchen, wo man sich in Ruhe über Dinge austauschen kann: wie war der Tag in der Schule, im Kindergarten, auf Mamas oder Papas Arbeit?
Auch das Klären von Konflikten braucht Ruhe und das aufeinander Hören. Das wäre eine gute Voraussetzung, sich stimmlich zu entwickeln. In vielen Familien wird aber immer weniger darauf geachtet und die Kommunikationskultur leidet.
Welchen weiteren positiven Einfluss gibt es auf die Stimmentwicklung?
Das ist das Singen in Kindheit und Jugend. Es muss ja nicht jeder Junge ein Thomaner werden oder jedes Kind Mitglied in einem ambitionierten Chor sein. Aber das Singen ist für die Stimmentwicklung positiv zu bewerten. Wissenschaftliche Untersuchungen konnten deutliche Effekte eines regelmäßigen Singens im Kindes- und Jugendalter auf die stimmliche Leistungsfähigkeit und Qualität zeigen.
Kann das auch im Fußballstadion sein?
(lacht) Na ja. Letztlich sind die Stadiongesänge auch eine Art Synchronisierung einer großen Gruppe, die ein gemeinsames Interesse vokal zum Ausdruck bringt. Die Rahmenbedingungen sind aber nicht ideal für Kinder- und Jugendstimmen: Da wird mehr gegrölt. Das kann für eine Kinderstimme schon anstrengend sein und eine vorübergehende Heiserkeit hervorrufen. Aber davon nimmt sie nicht gleich dauerhaft Schaden.
Wichtig ist eine stimmliche Erholung danach. Wenn man aber dauerhaft zu laut spricht oder viel schreit, können die Stimmlippen tatsächlich Schaden erleiden.
2022 fand die 19. Ausgabe des Fach-Symposiums zur Stimmbildung statt. Wer nimmt daran für gewöhnlich teil?
Beim Symposium waren wir fast 400 Leute, davon kommen zwei Drittel aus den Bereichen Chorleitung, Stimmbildung, Gesangsunterricht, Schulmusik – also Teilnehmende, die mit den Kindern gemeinsam singen. Das andere Drittel sind Stimmärzt/-innen, Stimmtherapeut/-innen, HNO-Ärzt/-innen, die sich mit der Kinderstimme beschäftigen, wenn sie krank geworden ist.
Haben Sie auch über negative Einflüsse und Risiken gesprochen?
Das war ein Schwerpunktthema in diesem Jahr, konkret die Gefahren durch verschiedene Außeneinflüsse. Wir haben den Medienkonsum der Kinder beleuchtet. Sie konsumieren mehr Musik, singen aber nicht selbst. Viel schlimmer sind aber die zunehmenden Nutzungszeiten zahlreicher elektronischen Endgeräte, weil Kinder und Jugendliche dadurch im Schnitt weniger miteinander kommunizieren. Es gibt Familien, wo jedes Kind ein eigenes TV-Gerät hat und man sich viel zu selten verbal und vokal ausgetauscht.
Oder wenn ein Kind einer Familie gezwungen ist, seine Bedürfnisse durch lautes Schreien deutlich zu machen, dann ist die Gefahr groß, dass es seine Stimme überfordert. Die Stimme entsteht im Kehlkopf durch Schwingungen der Stimmlippen. Das sind sehr zarte und kleine Strukturen – z. B. bei Grundschulkindern nur ca. 8 mm lang.
Wenn da eine zu große mechanische Belastung wirkt, dann können als Reaktion auf die Überlastung Stimmlippenknötchen entstehen, die zur Heiserkeit führen, weil sie die Schwingung der Stimmlippen behindern.
Ist Heiserkeit so problematisch?
Ja, und zwar aus mehreren Gründen: Hinter der Heiserkeit können behandlungspflichtige organische Ursachen stecken, die fachärztlich durch eine Kehlkopfuntersuchung abgeklärt bzw. ausgeschlossen werden müssen. Zum Glück sind diese aber selten, viel häufiger finden wir Heiserkeiten durch Überlastungen der Stimme und falschen Stimmgebrauch.
Aus großen Studien wissen wir, dass Kinder mit einer heiseren Stimme von Gleichaltrigen und Erwachsenen schlechter bewertet werten und sie leiden darunter. Deswegen ist es nicht egal, ob Kinder heiser sind. Oft fällt es den Bezugspersonen der Kinder gar nicht auf, dass diese heiser sind.
Eine englische Kollegin hat ca. 7.400 acht Jahre alte englische Kinder untersucht. Sechs Prozent davon waren heiser, hatten also eine klinisch gestörte Stimme. Aber: Nur einem Fünftel der betroffenen Eltern ist die Heiserkeit ihrer Kinder überhaupt aufgefallen.
Im Zentrum des Symposiums standen auch Ergebnisse der langfristig angelegten LIFE-Child-Studie der Universität Leipzig. Welche Erkenntnisse lieferte die Studie zu diesem Thema?
Es wurde zum Beispiel darüber berichtet, dass es eine stetig zunehmende Endgeräte-Nutzungsdauer und dadurch auch einen Mangel an Kommunikationszeit gibt. Natürlich spielt auch Corona eine Rolle. Eine von außen aufgezwungene Isolation mit zunehmender mehr oder weniger gelungenen Nutzung von Online-Angeboten war einerseits für viele Kinder eine schwierige Zeit – insbesondere für bildungsferne und wirtschaftlich schwächere Familien. Im Vergleich dazu haben wir bei Kinder- und Jugendchören erlebt, wie sehr sich Chorleiter engagiert haben, die Chorgemeinschaft beizubehalten.
Ein Kollege aus Köln hat ein wunderbares Online-Projekt präsentiert, in dem Kinder und Jugendliche während der Corona-Zeit ein Musical als Video produziert haben. Kinder, die Mitglieder in einem Chor sind, hatten oft nicht selten einen Vorteil, weil sie bessere Angebote hatten, um ihre Stimme zu entwickeln.
Was passiert mit den Kindern, deren Stimme in jungen Jahren zu wenig ausgeformt wird?
Weniger Training bedeutet eingeschränkte Möglichkeiten. Das ist wie bei einem Muskel, der trainiert wird. Ist ihre Stimme trainiert, dann haben sie mehr Kraft. Je stärker die Stimme genutzt wird, desto größer sind meine stimmlichen Möglichkeiten.
Und auch für die individuelle Stimmentwicklung bis in das Erwachsenenalter hat das Relevanz: Kranke und heisere Erwachsenen-Stimmen haben wiederum einen negativen Einfluss auf die Stimmentwicklung von Kindern. Insbesondere kleine Kinder ahmen heisere Stimmklänge, z. B. von Familienmitgliedern, nach. Musikalische Vorbilder für Kinder und Jugendliche sind auch nicht immer als Vorbild für die Kinderstimme geeignet. Auch hier werden oft heisere, raue Stimmklänge beim Singen nachgeahmt.
Aber viel schlimmer sind kranke Stimmen bei Erzieher/-innen und Lehrer/-innen. Sie können zu schlechteren Lernleistungen führen, weil die Schüler nicht gern zuhören oder die Lehrer ihre Vorträge nicht spannend gestalten können.
Vielen Dank für das spannende Gespräch.
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