Die Sache klingt paradox: Weltweit schrumpft die Artenvielfalt in alarmierendem Tempo. Doch auf lokaler Ebene können viele Studien keinen großen Verlust an Tier- und Pflanzenarten feststellen. „Das heißt aber nicht, dass dort keine bedenklichen Entwicklungen im Gange wären“, sagt der Geobotaniker Prof. Dr. Helge Bruelheide von der MLU.
Schließlich komme es auch darauf an, um welche Arten es sich handelt. Werden beispielsweise in einem Moor oder auf einem Magerrasen die speziell angepassten Überlebenskünstler von Allerweltspflanzen verdrängt, bleibt die Zahl der Arten in der Bilanz häufig gleich. Trotzdem geht damit ein Stück Vielfalt verloren, weil sich die einst sehr unterschiedliche Vegetation verschiedener Lebensräume immer ähnlicher wird.
Doch wie stark ist dieser Trend in Deutschland? Um das herauszufinden, hat das Team eine Fülle von lokalen Studien zusammengetragen. Zahlreiche Fachleute haben dafür Daten von mehr als 7.700 Flächen zur Verfügung gestellt, deren Pflanzenbestand zwischen 1927 und 2020 mehrfach erfasst wurde.
Diese bisher zum Teil unveröffentlichten Untersuchungen decken eine breite Palette an Lebensräumen ab und liefern Informationen über insgesamt fast 1.800 Pflanzenarten. Das ist etwa die Hälfte aller Bärlappe, Farne und Samenpflanzen, die in Deutschland vorkommen.
„Solche Zeitreihen können sehr wertvolle Informationen liefern“, sagt Dr. Ute Jandt von der MLU. Denn auf den oft nur zehn oder zwanzig Quadratmeter großen Flächen könne die botanische Volkszählung sehr genau erfolgen. „Die Wahrscheinlichkeit, dass Pflanzen dort unbemerkt verschwinden oder neu auftauchen, ist gering.“
Die Analyse der Daten zeigt bei 1.011 der untersuchten Arten einen negativen und bei 719 einen positiven Bestandstrend. Es gab in den letzten einhundert Jahren also 41 Prozent mehr Verlierer als Gewinner. „Überraschender war aber, dass sich die Verluste viel gleichmäßiger verteilen“, sagt Helge Bruelheide.
Das hat das Team mit Hilfe des Gini-Koeffizienten herausgefunden, mit dem man normalerweise die Verteilung von Einkommen und Eigentum analysiert. Dieser Index zeigt zum Beispiel, dass in etlichen Ländern der Erde die wenigen Reichen immer reicher und dafür viele Arme immer ärmer werden.
Und einen ganz ähnlichen Trend gibt es auch in Deutschlands Pflanzenwelt: Die Verluste sind gleichmäßiger auf viele Verlierer verteilt, während sich die Gewinne auf wenige Gewinner konzentrieren.
Zu Letzteren gehören zum Beispiel die Spätblühende Traubenkirsche und die Roteiche, die beide aus Nordamerika stammen, inzwischen aber auch viele Wälder in Deutschland erobert haben. Auch die frostempfindliche Europäische Stechpalme hat im Zuge des Klimawandels immer mehr Terrain gewonnen.
Im großen Lager der Verlierer finden sich dagegen viele Ackerwildkräuter wie die Kornblume, Wiesenbewohner wie die Acker-Witwenblume und Feuchtgebietsarten wie der Teufelsabbiss.
Das stärkste Ungleichgewicht zwischen Gewinnen und Verlusten gab es der Studie zufolge zwischen Ende der 1960er Jahre und dem Beginn des 21. Jahrhunderts. „Eingeläutet wurde diese Phase durch die starke Intensivierung der Landnutzung“, erklärt Helge Bruelheide.
„Inzwischen aber zeigen sich auch die Erfolge von Naturschutzmaßnahmen, sodass sich der nach wie vor anhaltende negative Trend etwas abgeschwächt hat.“
Ob das auch für andere Regionen der Erde gilt, weiß bisher niemand. Deshalb plädiert das Team dafür, ähnliche Datensätze aus aller Welt zu sammeln und auszuwerten. Denn die ungleichmäßige Verteilung von Gewinnen und Verlusten kann ein frühes Warnzeichen für einen Wandel der biologischen Vielfalt sein, der letztendlich zum Aussterben von Arten führt.
Die neue Studie geht auf die Arbeit des Projekts „sMon – Biodiversitätstrends in Deutschland“ zurück, das am Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig koordiniert wird. Im Rahmen dieser Initiative werden deutschlandweit belastbare Daten zur Entwicklung der Artenvielfalt zusammengestellt und analysiert. Hierfür kooperieren Forscherinnen und Forscher mit öffentlichen Einrichtungen sowie mit Naturschützerinnen und -schützern.
Studie: Jandt U., Bruelheide H. et al. More losses than gains during one century of plant biodiversity change in Germany. Nature (2022). doi: 10.1038/s41586-022-05320-w
Der Datensatz, der der neuen „Nature”-Studie zugrunde liegt, wurde kürzlich in „Scientific Data“ veröffentlicht und ist damit für jeden Interessierten zugänglich: Jandt U., Bruelheide H. et al. ReSurveyGermany: Vegetation-plot time-series over the past hundred years in Germany. Scientific Data (2022). doi: 10.1038/s41597-022-01688-6
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