Es geht nicht nur um SรผรŸigkeiten. Und auch nicht nur ums Stillsitzen in der Schule. Es geht eigentlich um die rationalen Grundlagen einer modernen Gesellschaft โ€“ um die Fรคhigkeit von Menschen, Gefรผhlen und Impulsen ganz bewusst nicht nachzugeben, wenn sie wissen, dass diese schรคdlich sind. Oder gar gefรคhrlich fรผr die Mitwelt. Eine Fรคhigkeit, die man im Kindesalter erwirbt. Leipziger Forscher wollen jetzt herausfinden, ob man diese auch im Gehirn lokalisieren kann.

Und natรผrlich geht es letztlich auch um die Sรผchte in unserer Gesellschaft, von denen es viel mehr gibt, als sie in Polizeiberichten auftauchen. Da hilft auch kein mit dem Finger auf die Leute zeigen, die mit illegalen Drogen scheinbar in Abgrรผnde stรผrzen, die andere, brave Gesellschaftsmitglieder gar nicht kennen.

Doch das ist immer nur eine Ausrede. Die entfesselte Konsumgesellschaft lebt und profitiert von Sรผchten โ€“ bei den einen ist es der Alkohol, bei anderen ist es der Kaufrausch, andere verfallen der Spielsucht, die nรคchsten dem โ€žRausch der Geschwindigkeitโ€œ.

Die Werbung erzรคhlt nicht von Selbstkontrolle und einem rational gestalteten Leben, sondern von Enthemmung und Suchtverhalten. Und nicht nur Nikotinwerbung mรผsste aus dem รถffentlichen Raum verschwinden, wenn das Thema wirklich ernst genommen werden sollte.

Die verlockenden SรผรŸigkeiten

Auch die Supermรคrkte sind allesamt so gestaltet, dass sie eben nicht nur โ€žKaufanreizeโ€œ bieten, wie das so hรผbsch umschrieben wird, sondern mit strategisch bewusst aufgebauten Regalen das Suchtpotenzial der Kรคufer direkt ansprechen. Und das betrifft in erster Linie die SรผรŸigkeiten, deren Verlockungspotenzial auch den Forschern des Max-Planck-Instituts fรผr Kognitions- und Neurowissenschaften zuerst einfiel.

โ€žManchmal kรถnnen wir einfach nicht widerstehen, die Verlockung ist zu groรŸ. Ehe wir uns versehen, ist die Familienpackung Gummibรคrchen leer oder unser Warenkorb prall gefรผllt. Kleinen Kindern fรคllt es noch deutlich schwerer als Erwachsenen, diesem Impuls zu widerstehenโ€œ, beschreiben sie diesen Moment der Unwiderstehlichkeit.

Doch wir kรถnnen den Impuls kontrollieren. Zwischen drei und vier Jahren macht diese Fรคhigkeit zur Selbstkontrolle einen entscheidenden Entwicklungssprung. Bislang war unklar, woran das liegt. Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts fรผr Kognitions- und Neurowissenschaften haben jetzt herausgefunden: In dieser Zeit reift ein zentrales Hirnnetzwerk heran.

Ein wesentliches Merkmal des Erwachsenseins

Als Erwachsene besitzen wir die Fรคhigkeit, unsere eigenen Gedanken, Emotionen und unser Verhalten zu kontrollieren. Wir haben eine Art inneres Stoppschild, das uns innehalten lรคsst und uns ermรถglicht, auch langfristige Ziele zu erreichen.

In der frรผhen Kindheit, besonders im Alter zwischen drei und vier Jahren, lรคsst sich bei Kindern ein regelrechter Sprung in der Fรคhigkeit zur Selbstkontrolle beobachten. Sie lernen, auf bestimmte Dinge zu warten und kรถnnen sich bereits fรผr eine Weile auf eine Sache konzentrieren.

Doch wie kommt es zu diesem Durchbruch im Vorschulalter? Und bedarf es fรผr das Stillsitzen und Konzentrieren der gleichen Fรคhigkeit wie dafรผr, dem Impuls zu widerstehen, verlockende SรผรŸigkeiten auf einmal zu essen?

Diesen Fragen ist eine neue Studie am Max-Planck-Instituts fรผr Kognitions- und Neurowissenschaften (MPI CBS) nachgegangen, die jetzt im Fachmagazin โ€žJournal of Neuroscienceโ€œ verรถffentlicht wurde.

Um diese Entwicklungssprรผnge zu untersuchen, nutzten die Leipziger Forscher verschiedene Aufgaben, mit denen sie die unterschiedlichen Formen der Selbstkontrolle testeten. Im โ€žBรคr-Drachen-Spielโ€œ erfassten sie die Fรคhigkeit der Kinder, bestimmte Handlungen zu unterdrรผcken.

Die Kinder werden dabei zunรคchst mit zwei Kuscheltieren bekannt gemacht: Dem โ€žlieben Bรคrโ€œ und dem โ€žbรถsen Drachenโ€œ. Wรคhrend des Spiels erhalten die Kinder verschiedene Anweisungen der beiden Figuren, wie โ€žKlatsch in die Hรคnde!โ€œ oder โ€žBerรผhre deine Nase!โ€œ.

Diese Anweisungen sollten sie jedoch nur dann umsetzen, wenn der โ€žliebe Bรคrโ€œ sie aufforderte โ€“ nicht aber, wenn der โ€žbรถse Dracheโ€œ die Anweisung gab.

Eine andere Aufgabe, auch bekannt als โ€žMarshmallow-Testโ€œ, erfasste wiederum die Fรคhigkeit der Kinder, einen emotionalen Impuls รผber lรคngere Zeit hinweg zu unterdrรผcken. Die Kinder sitzen dabei an einem Tisch, auf dem Gummibรคrchen oder Schokoriegel stehen.

Eine grรถรŸere Portion davon befindet sich, fรผr die Kinder sichtbar, in einer verschlossenen Kiste daneben. Die Versuchsleiterin teilt den Kindern mit, sie mรผsse jetzt fรผr kurze Zeit den Raum verlassen, stellt aber in Aussicht: โ€žWenn du wartest, bis ich zurรผckkomme, ohne die SรผรŸigkeit zu essen, bekommst du die groรŸe Portion.โ€œ

Planung und Steuerung

Es zeigte sich: Die Vierjรคhrigen schnitten in beiden Aufgaben deutlich besser ab als die Dreijรคhrigen, so wie es bereits frรผhere Studien gezeigt hatten. Anhand von MRT-Untersuchungen stellte sich zudem heraus, im Alter zwischen drei und vier Jahren reift das sogenannte kognitive Kontrollnetzwerk heran. Die GroรŸhirnrinde, der Cortex, wird dicker.

Dieses Netzwerk bestimmt bei Erwachsenen darรผber, wie gut wir in der Lage sind, unsere Impulse und Handlungen zu kontrollieren. Im ausgereiften Zustand umfasst es vor allem Regionen im Frontal- und Parietallappen des Gehirns, die wiederum durch Nervenfasern miteinander verbunden sind und so Informationen schnell und effizient austauschen kรถnnen.

Das Interessante dabei: Die unterschiedlichen Aufgaben zur Selbstkontrolle, der โ€žBรคr-Dracheโ€œ- und der Marshmallow-Test, standen mit unterschiedlichen Regionen innerhalb des kognitiven Kontrollnetzwerks in Verbindung.

Schnitten Kinder in ersterem gut ab, war der prรคfrontale Cortex weiter ausgebildet, der bei Erwachsenen insbesondere fรผr die Planung und Steuerung von Handlungen zustรคndig ist.

Machten sich die Kleinen besser im Marshmallow-Test, war der supramarginale Gyrus im Reifeprozess stรคrker vorangeschritten, der eher mit der Steuerung von Aufmerksamkeit verbunden ist.

โ€žIm Kleinkindalter kรถnnte also eine graduelle Entwicklung ihren Anfang nehmen, deren Ergebnis wir in der vollentwickelten Selbstkontrolle im Erwachsenenalter beobachtenโ€œ, sagt Philipp Berger, Postdoc am MPI CBS und Erstautor der Studie. โ€žDas heiรŸt auch, dass wir mรถglicherweise bereits in sehr jungen Jahren auf diese wichtige Fรคhigkeit Einfluss nehmen kรถnnen.โ€œ

Und die wir natรผrlich auch nehmen. Denn das tun ja die Eltern von kleinen Kindern. Manche bewusst, andere unbewusst. Nicht alle mit demselben Erfolg, was dann die Kinder in ihrem Leben erfahren, wenn sie merken, dass ihnen Selbstkontrolle unheimlich schwerfรคllt und Sรผchte verschiedenster Art ihr Leben bestimmen.

Originalpublikation: Philipp Berger, Angela D. Friederici and Charlotte Grosse Wiesmann (2022) Maturational indices of the cognitive control network are associated with inhibitory control in early childhood. Journal of Neuroscience.

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