Wie weit ist Rassismus in staatlichen Institutionen verbreitet – und was kann dagegen getan werden? Ein neues Forschungsprojekt, an dem sich auch Angehörige der Universität Leipzig federführend beteiligen, soll diese Fragen klären. Gegenüber der LZ verrät Prof. Dr. Gert Pickel, einer der Verantwortlichen, mit welcher Haltung er an das sensible Thema herangeht – und wo er Chancen und Fallstricke bei dem Forschungsvorhaben sieht.
Hintergrund: Seit 1. Oktober läuft die zunächst auf drei Jahre angelegte Großstudie „Rassismus als Gefährdung des gesellschaftlichen Zusammenhalts im Kontext ausgewählter gesellschaftlich-institutioneller Bereiche“, die vom „Forschungsinstitut für gesellschaftlichen Zusammenhalt“ durchgeführt wird. Auftraggeber ist das Bundesinnenministerium. Das Projekt geht möglichem Rassismus und dessen Erscheinungsformen in staatlichen Institutionen nach.
Sechs von 22 Teilprojekten sowie die Gesamtleitung werden durch Forscherinnen und Forscher der Universität Leipzig übernommen. Prof. Dr. Gert Pickel (Jahrgang 1963) ist einer der beiden Studienleiter. Der studierte Soziologe und Politikwissenschaftler hat in Leipzig den Lehrstuhl für Religions- und Kirchensoziologie inne. Über seine Beschäftigung mit den Themen Muslimfeindlichkeit und Antisemitismus ist er auch mit Fragen des Rassismus in Berührung gekommen. Außerdem war er zuletzt an der Leipziger Autoritarismus-Studie beteiligt.
Herr Prof. Pickel, waren Sie selbst im Alltag schon mal mit rassistischen Vorfällen konfrontiert?
Man muss es so sagen: Es waren keine Übergriffe oder im ersten Moment Auffälliges, aber zum Beispiel Umgangsweisen. Wenn eine Kassiererin einem schwarzen Menschen die Wörter so in die Länge zieht, als würde sie mit jemandem sprechen, der nicht versteht, was sie sagt. Obwohl das überhaupt nicht zu schließen ist. Solche Geschichten kenne ich jede Menge. Auch im Zug kriegt man es mit. Ich pendle mit meiner Frau, und wenn Polizisten den Zug betreten, richtet sich ihr Blick häufig schnell auf Personen, die nicht weiß sind, wo es an einer Offensichtlichkeit festgemacht wird. Da fragt man sich, warum das so ist.
Ich kenne auch mehrere Personen mit muslimischem Hintergrund, die berichten: „Wenn ich im Bus bin, da war irgendwas, die kommen rein, dann bin ich immer der Erste, der befragt wird.“ Das ist etwas, was vermutlich jeder schon mal gesehen hat. In Ostdeutschland haben wir diese Kontakte ein bisschen weniger. Aber wenn Sie zum Beispiel in Duisburg unterwegs sind, wo die Diversität höher ist, oder in Berlin, da kann man das sehr häufig beobachten.
Alltagsrassismus hat viele Formen
Ab wann stufen Sie ein Verhalten als rassistisch ein?
Da kann man natürlich streiten und da wird in der Forschung auch gestritten. Aber, ich glaube, als Grundfeste könnte man sagen: Wenn man wen aufgrund einer äußeren Zuschreibung anders behandelt. Wenn es also allein dadurch begründet wird und nicht dadurch, dass derjenige etwas getan hat. Zum Beispiel: Ich schätze die Person anders sein, weil ich denke, sie könnte muslimisch sein oder kommt von irgendwo anders her. Da sind wir bereits im Feld dessen, was man als Alltagsrassismus bezeichnet.
Das wirkt im ersten Moment gar nicht so problematisch und vielleicht kann man mit vielem zurechtkommen. Aber wenn man mit betroffenen Personen spricht, sagen sie: „Ich fühle mich die ganze Zeit unwohl, weil ich fast schon erwarte, dass so etwas passiert.“
In Berlin haben wir in der jüdischen Bevölkerung geforscht, da gab es auch im Gespräch die Rückmeldung: „Ich mache mich quasi unsichtbar. Ich setze keine Kippa auf, dann erkennt mich niemand und ich werde nicht angemacht oder anders behandelt.“ Diese Andersbehandlung ist das, was wir als Alltagsrassismus sehen.
„Man muss überzeugen, dass man nichts Böses will“
Nun soll es um Rassismus in staatlichen Institutionen gehen. Wie kam es zu diesem Projekt und gab es nicht auch Widerstände?
Man muss sich ein bisschen ehrlich machen: Wir sind wahrscheinlich nicht so stark durch Aktivismus aufgefallen, sondern es ist mehr auf uns zugekommen. Es war sozusagen ein Element der großen Ausschreibung, das vom Bundesinnenministerium übernommen wurde, wenn ich das so sagen darf. Es haben ja verschiedene Ministerien Teile davon übernommen, um die sie sich kümmern.
Jetzt kann man vermuten, die haben das nicht ganz umsonst getan, sondern die haben den Hintergrund. Es war ja die Nachfrage, Rassismus in der Polizei oder auch der Bundeswehr zu untersuchen. Da wollte man vermutlich ein bisschen die Kontrolle haben. Unsere Aufgabe war zu zeigen, dass man als Wissenschaftler wirklich offen herangeht. Ein wichtiger Punkt ist es, nicht nur zu schauen, ob wir Rassismus finden, sondern auch zu klären, wie es dazu kommt.
Um beim Beispiel der Kassiererin zu bleiben, was ja aber auch in Behörden passieren kann: Dann wäre der Punkt, mit demjenigen zu reden, ein Gefühl zu vermitteln: „Mach das lieber nicht, frage erst einmal normal, du kannst immer noch umschalten, wenn derjenige dich tatsächlich nicht versteht, wo es dann aber nicht an der Hautfarbe begründet ist.“
Das ist die Linie und man konnte sehen, dass schon Interesse im Ministerium vorherrscht. Politisch gesehen ist es natürlich ein nicht ganz ungefährliches Feld, gerade die Polizei ist da ganz heikel. Die wird bei uns auch eine Rolle spielen, aber mit einer gewissen Vorsicht. Die Begründung war, dass es auch eine Polizei-Studie gibt, in Münster.
Man merkt schon, dass es Vorsichts-Riegel gibt und dann muss man im Diskurs überzeugen, dass man nichts Böses will. Aber es ist überall so: Wo Risiken drinstecken, muss man Überzeugungsarbeit leisten und eine gewisse Vertrauensbasis aufbauen. Wenn ich die habe, kann ich sagen: „Wir haben was gefunden, aber wir wollen euch jetzt nicht in die Pfanne hauen und morgen in die Zeitung schreiben, es gibt so und so viele Rassisten in der Kommunalverwaltung x.“
Sondern es soll darum gehen, dass man damit umgehen kann und dass es nächstes Mal wirklich nur noch Einzelfälle sind und kein strukturelles Problem, das sich durch einen Umgang mit bestimmten Personengruppen ergibt.
„Nur durch Fragebögen wird man nicht in die Ziellinie kommen“
Gerade Polizeibehörden sind nicht für übermäßige Offenheit bekannt. Denken Sie dennoch, dass Sie da ein Stück weit vordringen können?
Wenn ich keinen Zugang kriege, ist es sehr schwer zu erforschen. Das muss man glasklar sagen. Daher geht es darum, eine Situation hinzukriegen – und das gilt nicht nur für die Polizei, auch andere Behörden sind da sicher zurückhaltend – in der man vermittelt: „Ihr habt auch was davon. Wir helfen euch, besser zu werden.“
Das ist eine zentrale Aufgabe, sich auf der Ebene den Zugang zu gewährleisten. Darüber haben wir diskutiert, es war einer der zentralen Punkte unter uns Forscherinnen und Forschern. Wir können ja auch nicht in teilnehmender Beobachtung rein und abwarten, ob sich mal was tut. Obwohl wir wahrscheinlich einen breiten Mix an Methoden anwenden werden, um klug zu Ergebnissen zu kommen, die auch weiterführen.
Aber selbst wenn man einen Zugang findet, ist es nochmal eine ganz andere Frage, wie man Rassismus dann „messen“ will – mit ein paar Fragebögen?
Nur durch Fragebögen wird man wahrscheinlich nicht in die Ziellinie kommen. Deswegen werden wir einen methodischen Mix antreten: Beobachtung, aber Aktenstudium ist auch vorgesehen, es wird Fällen nachgegangen, es wird auch mit Betroffenen gesprochen, dass man verschiedene Seiten und Blickwinkel hat.
Das ist sozusagen das Zusammenspiel, dass man Verbindungen unterschiedlicher methodischer Zugänge kriegt. Wir haben Akten, über die kann man was rekonstruieren, man kann nochmal nachfragen, man hält ein Interview, fragt bei Betroffenen. So wird das aussehen. Das Bild kann man sich dann letztlich aus dem Mix verschiedener Informationsquellen machen.
Das wird kein, um es so zu sagen, „lupenreines“ realistisches Bild sein, aber wir hoffen, dass es nicht nur ganz „moderne Kunst“ ist, sondern man wenigstens Konturen erkennen kann. Und das wäre sicherer, als immer nur zu spekulieren. Das Problem ist ja, wenn man ein Vorkommnis hat, weiß man nicht: Ist es ein Einzelfall, oder ist es keiner? Weil wir die Grundlage nicht haben. Da wollen wir vorankommen.
Systematische Erforschung ist Neuland
Das ist dann auch das Neue – die Systematik zu erforschen?
Genau. Im europäischen Raum ist das bislang mäßig. Großbritannien hat damit angefangen, das ist aber auch ein bisschen ins Stolpern geraten, weil das dann schwierig war mit dem Vertrauensverhältnis. Wer deutlich weiter ist, sind die USA. Aber auch dort, ganz klar, ist das nicht problemfrei. Aber man muss den verschiedenen Formen nachgehen. Für Deutschland ist das, glaube ich, wirklich neu.
In den letzten Jahren haben wir rassismuskritische Debatten gehabt, die sich meistens an Einzelereignissen aufgezogen haben – durchaus auch zu Recht. Mit Verweisen, wenn ich mir das immer anschaue, da graut es einem. Gleichwohl wusste man nicht: Wie kann ich das jetzt übertragen? Und in der Hinsicht ist das tatsächlich Neuland.
Gehen Sie völlig offen an die Arbeit oder haben Sie zumindest grobe Erwartungen?
Wenn man als Wissenschaftler eine solche Studie macht, muss man offen herangehen. Dass wir im Hintergrund Probleme haben – es wäre ja überraschend, wenn wir davon nicht ausgehen würden. Sonst würden wir die Studie nicht machen. Ich finde es durchaus auch lobenswert, dass eine Regierung selbst bezahlt, mal nachzuschauen, ob es nicht eine Problemlage gibt. Das ist in den letzten Jahren glücklicherweise besser geworden, dass man sagt: Wir müssen Wissenschaftler beauftragen, nachzuschauen. Und uns damit auch auseinandersetzen.
Es können ja durchaus Ergebnisse herauskommen – und das wird sicherlich da und dort auch der Fall sein – die nicht so attraktiv sind, wie man sich das gedacht hat. Gleichwohl sind wir als Wissenschaftler verpflichtet, es auch zu sagen, wenn wir in der Tiefe mehr finden. Da kommt man nicht dran vorbei. Dazu haben wir jetzt die Freiheit und die Möglichkeit und müssen sehen, wie gut wir das hinkriegen.
Es muss jetzt etwas geschehen
Aber hätte das Ganze nicht schon viel eher stattfinden können und müssen?
Sagen wir so: Rassismuskritische Forschung hätte viel früher kommen müssen, und wahrscheinlich würde ich Ihnen auch zustimmen, dass man schon früher hätte dran denken können. Aber das ist bei vielen Sachen so. Wenn ich Debatten zum Antifeminismus aufnehme oder auch Themen wie die Gleichberechtigung von Frauen, da können wir uns heute nichts anderes vorstellen. 1970 hat da kein Mensch dran gedacht.
Wenn ich meinen Studierenden sage, wie lange Männer den Frauen noch ihren Arbeitsplatz kündigen konnten, ohne dass diese Mitspracherecht hatten, schauen die mich an, als wäre ich aus einer längst vergangenen Zeit. Aber so längst vergangen ist sie dann gar nicht. Da sagt man natürlich: Das hätte man auch viel früher machen müssen. Ich glaube, wichtig ist, dass man es jetzt macht.
Dadurch, dass wir nicht das einzige Projekt sind, dass bei DeZIM auch was Größeres läuft – und das ist ja wiederum flankiert von anderen Projekten und auch in der Zivilgesellschaft tut sich was – kriegt man jetzt vielleicht ein deutlich besseres Bild. Dass hier und da Problemlagen auftauchen werden, halte ich jetzt für, sagen wir mal, nicht ganz unwahrscheinlich. Gleichwohl muss man es justieren und zum Schluss dann schauen: Was kann ich machen?
Was müsste passieren, damit Sie am Ende von Erfolg sprechen?
Von Erfolg zu sprechen, ist in der Wissenschaft schwierig. Was ist jetzt Erfolg – wenn ich sieben Artikel dazu gemacht habe? Erfolgsbemessung ist ein schwieriges Set. Ich würde aber sagen, dass es generell ein Erfolg ist, wenn man sich mit dem Thema beschäftigt und wenn wir es schaffen würden, ein paar Grundlagen zu setzen, über die man diskutieren kann. Alles, was eine Grundlage für den Diskurs bietet, was mehr hergibt als „Einzelfall“ oder eigene Positionen. Das wäre auf jeden Fall ein Gewinn und für uns natürlich ein Erfolg.
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