Eine bislang sehr beliebte These zur Einwanderung des Homo sapiens nach Europa können die Forscher jetzt wohl aus den Lehrbüchern streichen: Als diese modernen Menschen vor 46.000 Jahren erstmals aus dem östlichen Mittelmeerraum nach Europa einwanderten, war es keineswegs schön warm und freundlich. Im Gegenteil: Sie wanderten ein, obwohl es ziemlich kalt und ungemütlich war. Ein Forschungsergebnis aus Leipzig.
Anhand der Analyse stabiler Sauerstoffisotope im Zahnschmelz von in der Bacho-Kiro-Höhle (Bulgarien) von Menschen geschlachteten Tieren, zeigen Forschende des Leipziger Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie und des Nationalen Instituts für Archäologie mit Museum der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften in Sofia, Bulgarien, dass Menschengruppen, die während einer frühen Ausbreitungswelle unserer Spezies Europa erreichten und die Höhle vor etwa 46.000 bis 43.000 Jahren bewohnten, mit sehr kalten klimatischen Bedingungen konfrontiert waren.
Bei den archäologischen Funden aus der Bacho-Kiro-Höhle handelt es sich um die ältesten derzeit bekannten Überreste des Homo sapiens aus dem Jungpaläolithikum in Europa. Sie geben einzigartige Einblicke in die Zeit, als unsere Spezies die Levante zu verlassen begann und sich in den mittleren Breitengraden Eurasiens zu etablieren, als Teil eines archäologischen Phänomens, das als „Initial Upper Paleolithic“ bezeichnet wird.
Der Prozess, wie sich unsere Spezies in der Vergangenheit neue Umgebungen erschloss, stellt einen wichtigen evolutionären Wendepunkt dar, der letztlich dazu führte, dass Homo sapiens alle Kontinente und eine große Vielfalt von Klimazonen und Umgebungen besiedelte. Die Mechanismen, die anfängliche Ausbreitungswellen begünstigt haben könnten, sind nach wie vor umstritten.
Die meisten Modelle, die auf der Korrelation archäologischer Stätten mit räumlich entfernten Klimaarchiven beruhen, deuteten bisher jedoch darauf hin, dass Menschen auf wärmere Klimabedingungen angewiesen waren, um sich in neue, nördlichere Umgebungen auszubreiten.
Anhand von Belegen direkt aus den archäologischen Schichten der Bacho-Kiro-Höhle konnte das Max-Planck-Team nun hingegen zeigen, dass Menschen mehrere tausend Jahre lang sehr kalte klimatische Bedingungen überdauert haben, die im Vergleich eher für das heutige Nordskandinavien typisch wären.
„Wir konnten belegen, dass diese Menschengruppen flexibler in Bezug auf die von ihnen genutzten Umgebungen und anpassungsfähiger an unterschiedliche klimatische Bedingungen waren als bisher angenommen“, sagt Erstautorin Sarah Pederzani, Forscherin am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie und der Universität Aberdeen.
Jean-Jacques Hublin, Direktor der Abteilung für Humanevolution am Max-Planck-Institut, fügt hinzu: „Auf der Grundlage dieser neuen Erkenntnisse müssen nun neue Modelle für die Ausbreitung unserer Spezies über Eurasien erstellt werden, die ihre größere klimatische Flexibilität berücksichtigen.“
Archäologische Funde aus der Bacho-Kiro-Höhle in Bulgarien
Durch die direkte Verwendung von archäologischem Material – wie zum Beispiel den Überresten von Tieren, insbesondere Pflanzenfressern, die von den damals in der Höhle lebenden Menschen geschlachtet wurden – um Klimadaten zu generieren, konnte das Paläoklima-Forschungsteam unter der Leitung von Pederzani und Kate Britton, die ebenfalls am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie und an der Universität Aberdeen forscht, eine sehr robuste Aufzeichnung lokaler klimatischer Bedingungen erstellen, die sich speziell auf die Zeit bezieht, in der Menschen die Bacho-Kiro-Höhle bewohnten.
„Diese Technik ermöglicht eine zuverlässigere Zuordnung des lokalen klimatischen Kontextes als die üblicherweise verwendete chronologische Korrelation zwischen archäologischen Daten und Klimaarchiven verschiedener Orte, die die Grundlage für einen Großteil der bisherigen Forschung zur klimatischen Anpassungsfähigkeit des Menschen bildete – sie gibt uns wirklich einen Einblick in das Leben ‚vor Ort‘“, sagt Britton.
„Aufgrund der zeitaufwendigen Analyse und der Abhängigkeit von der Verfügbarkeit bestimmter Tierreste sind Sauerstoffisotopenstudien oder andere Techniken, Klimadaten direkt aus archäologischen Stätten zu gewinnen, für den Zeitraum, in dem sich der Homo sapiens erstmals in Eurasien ausbreitete, jedoch nach wie vor rar.“
In der Tat ist diese Max-Planck-Studie die erste dieser Art, die im Zusammenhang mit dem Initial Upper Paleolithic durchgeführt wurde und konnte daher so überraschende Ergebnisse liefern.
Aufzeichnung vergangener Temperaturen über mehr als 7.000 Jahre
Pederzani verbrachte ein Jahr mit Laborarbeiten, von der Bohrung von Probensequenzen aus Tierzähnen über die nasschemische Aufbereitung bis hin zur stabilen Isotopenmassenspektrometrie, um alle notwendigen Daten zusammenzutragen. „Durch diese zeitintensive Analyse, die insgesamt 179 Proben umfasste, war es möglich, eine sehr detaillierte Aufzeichnung vergangener Temperaturen zu erstellen, einschließlich Schätzungen der Sommer-, Winter- und Jahresmitteltemperaturen für den Aufenthalt von Menschen in der Höhle über einen Zeitraum von mehr als 7.000 Jahren“, sagt Pederzani.
Die von einem internationalen Team unter der Leitung von Nikolay Sirakov vom Nationalen Institut für Archäologie in Sofia und Jean-Jacques Hublin, Tsenka Tsanova und Shannon McPherron vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie durchgeführten Ausgrabungsarbeiten in der Bacho-Kiro-Höhle wurden 2015 erneut aufgenommen und ergaben eine Fülle an Informationen über menschliche Aktivitäten in der Höhle: dazu zählen auch die Überreste früherer Bewohner der Höhle, der ältesten bisher bekannten Vertreter des Homo sapiens aus dem europäischen Jungpaläolithikum.
Die Ablagerungen im unteren Teil der Fundstätte enthielten eine große Anzahl von Tierknochen, Steinwerkzeugen, Anhängern und sogar menschlichen Fossilien und bildeten die Grundlage für die Klimastudie zur Untersuchung der Umweltbedingungen, denen die Menschen ausgesetzt waren, als sie sich erstmals von der Levante aus nach Südosteuropa ausbreiteten.
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