Das Coronavirus ist eigentlich kein Hexenwerk. Es benimmt sich wie andere Viren auch. Und die Wissenschaft hat genug herausgefunden darüber, wie sich das Virus verbreitet und wie es im Körper wirkt. Man kann also sehr gezielt gegensteuern und die Ausbreitung des Virus im Zaum halten. Sogar mit mathematischen Modellierungen kommt man weiter, wie jetzt ein Projekt an der HTWK Leipzig zeigt.
Wir leben inzwischen ein Jahr mit der COVID19-Pandemie – und wissen: Viren verbreiten sich vor allem auch durch Aerosole, also kleinste Schwebeteilchen, die durch Atmen, Lachen oder Reden in die Luft gelangen. Dort bleiben sie noch eine Zeitlang und verteilen sich. Daher bilden sie eine Ansteckungsgefahr in Räumen, in denen sich mehrere Personen aufhalten, selbst wenn diese den geforderten Mindestabstand einhalten.
Besonders kritisch ist das dort, wo viele Menschen zusammenkommen – in Schulen, Hörsälen und Seminarräumen zum Beispiel. Das tatsächliche Infektionsrisiko im konkreten Einzelfall – also unter Beachtung von Faktoren wie Raumvolumen, Abstand, Personenanzahl – ist jedoch schwierig abzuschätzen.
Eine Arbeitsgruppe der Fakultät Ingenieurwissenschaften der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig (HTWK Leipzig) hat deshalb ein genaues Modell zur Viruskonzentration durch Luftströmungen im Raum entwickelt. Es simuliert die durch Atmung bedingte Virusbelastung in geschlossenen Räumen mithilfe strömungsmechanischer Modelle – und zwar für jede einzelne Person im Raum.
Die Gruppe um Stephan Schönfelder, Professor für die Simulation energetischer und technischer Systeme, hat verschiedene Szenarien am Beispiel eines Seminarraums der Hochschule simuliert: jeweils mit bzw. ohne Belüftung durch Fenster sowie mit und ohne sprechende Lehrperson mit der Annahme, dass diese infiziert ist.
„Wir wollen mit neuen Berechnungsansätzen zur luftströmungsbasierten Viruskonzentration das Infektionsrisiko jeder Einzelperson in Innenräumen besser verstehen und so einen Beitrag zur Bekämpfung der Pandemie leisten. Unsere langjährige Erfahrung in Strömungssimulationen zur Raumluftqualität in Innenräumen war die Basis, um die Modelle auf die Berechnung von Viruskonzentrationen anzupassen“, sagt Schönfelder.
Berechnungen für unterschiedlichste Verhaltensweisen
Den ersten Modellen für einen Seminarraum liegen folgende Annahmen zugrunde, die variiert werden können: Die Lehrperson ist Infektionsquelle und steht vorn, der Abstand zur ersten Bank beträgt 1,5 Meter, der Raum ist 80 Quadratmeter groß bei drei Metern Deckenhöhe, und die Personenanzahl ist festgelegt – 16 Personen ohne Mund-Nasen-Schutz befinden sich in dem Raum, jeweils mindestens im Abstand der geforderten 1,5 Meter.
Die Annahme über die Partikelanzahl der Aerosole (basierend auf aktueller Literatur): Weniger als 500 Partikel bergen ein niedriges Ansteckungsrisiko, ab mehr als 500 Partikeln ist das Ansteckungsrisiko hoch, das bedeutet, eine Infektion ist wahrscheinlich. Anhand dieser Faktoren können konkrete Viruskonzentrationen über eine bestimmte Zeit berechnet werden.
In der Simulation wurden 90 Minuten Aufenthalt zugrunde gelegt – die Dauer eines Seminars. In der Anwendung bedeutet das: Wenn bekannt ist, welche Viruskonzentration kritisch ist, können maximale Kontakt- bzw. Aufenthaltszeiten in Innenräumen verschiedener Art genau bestimmt werden.
Die Ergebnisse der HTWK-Simulation für den geschilderten und auf dieser Basis berechneten Fall: Wenn der Raum gelüftet wird und eine infizierte Lehrperson darin spricht, kann rund 40 Minuten unterrichtet werden, bevor erstmals eine hohe Ansteckungsgefahr für jemanden besteht.
Bei Belüftung, aber ohne Sprechen – z. B. in einer schriftlichen Prüfung – besteht erst nach rund 75 Minuten ein hohes Risiko.
Ohne Belüftung und mit Sprechen tritt das hohe Risiko für die erste Person bereits nach rund 30 Minuten ein, und ohne Lüftung und ohne Sprechen nach 50 Minuten.
Betrachtet man aber alle Personen im Raum, zeigt sich ohne Lüftung nach einer Stunde ein hohes Infektionsrisiko für alle, während mit Lüftung nach der gleichen Zeit nur sechs Personen betroffen sind (40 Prozent).
In der Prüfungssituation (Annahme: niemand spricht) besteht nach 90 Minuten ohne Lüftung für zwölf von 15 Studierenden zumindest eine hohe Infektionsgefahr, mit Lüftung nur für drei von 15.
Interessant ist auch, dass aufgrund der hier besonderen räumlichen Strömungsgegebenheiten ohne Lüftung sich nicht die Person ansteckt, die der Infektionsquelle am nächsten ist, sondern erst eine Person in der zweiten Reihe. Dies zeigt, dass es auch lokale Effekte in Innenräumen zu berücksichtigen gilt, wenn das Infektionsrisiko genau analysiert werden soll. Generell ist es jedoch erwartungsgemäß am besten, wenn man sich so weit wie möglich von der Infektionsquelle entfernt aufhält.
Ein gutes Bewertungsinstrument
„Risiken zu Infektionsgefahren werden derzeit in komplexen Modellen mit dennoch notwendigen Vereinfachungen abgeschätzt, dazu gibt es auch schon Rechner im Internet“, kommentiert Schönfelder die Ergebnisse.
„Dies sind ohne Zweifel gute Verfahren für eine übergeordnete statistische Bewertung der Situation, können aber ganz lokale Effekte in Innenräumen nicht abbilden. Wir können aber genau das mit unseren Modellen. Das heißt, für jeden einzelnen Quadratmeter im Raum können wir das Infektionsrisiko konkret abschätzen und auch, wie es sich mit der Zeit entwickelt. Das ist deutlich aufwendiger, da ganz konkrete Fälle berücksichtigt werden, liefert aber ein ergänzendes Verständnis für strömungsbedingte Infektionswege durch Aerosole in Innenräumen. Unsere Modelle sind prinzipiell übertragbar auf alle Szenarien – Theaterbestuhlungen, Klassenzimmer und den ÖPNV zum Beispiel.“
Das Fazit, das er zieht: Die „AHACL-Regel“ bleibt weiter wichtig. Ziel aller Modellberechnungen ist es letztlich, Infektionsrisiken besser zu verstehen, um wieder sicher in Präsenz lehren und prüfen zu können, Kinos und Konzerte zu besuchen, kurz: zu einem „normalen“ Alltag zurückzufinden. Im besten Fall tragen solche Modelle, neben den bestehenden Modellen und Daten, zu einer Perspektive bei, mit dem Virus – oder anderen Viren – zu leben.
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Keine Kommentare bisher
Klar ist, dass dann die HTWK anhand dieser hauseigenen Studie nicht gleich das kommende Sommersemester jubelnd wieder in Präsenz veranstalten wird – die Studenten quasi im Corona-Großversuch.
Aber ich halte es für wichtig, die Infektionsrisiken genau abzuschätzen und “Öffnungen” mit evidenzbasierter Vorsicht durchzuführen.
Übrigens führt die HTWK weiterhin Präsenzklausuren durch – in ihrer Turnhalle. Finde ich nachvollzieh- und sehr vertretbar.