LEIPZIGER ZEITUNG/ Auszug Ausgabe 86, seit 18. Dezember 2020 im HandelSeitdem sexuelle Übergriffe in Schulen, Internaten und anderen eigentlichen Schutzräumen für Jugendliche und Kinder aufgedeckt wurden, hat die Beschäftigung mit der Prävention sexueller Gewalt und damit auch der Beschäftigung mit Sexueller Bildung einen enormen Aufschwung erfahren. Lehramtsstudenten an der Uni Leipzig haben sich laut der im November veröffentlichten Ergebnissen einer quantitativen Studie klar für sexuelle Bildung in ihrem Studium ausgesprochen.
Bei Sexualwissenschaftler Heinz-Jürgen Voß von der Hochschule Merseburg rennen sie dabei offene Türen ein, denn bisher gibt es dahingehend keinerlei feste Strukturen und dass obwohl Lehrer genauso wie Eltern regelmäßig mit Sexualität konfrontiert werden.
Zu erkennen, wann sie oder Mitschüler schon Grenzen überschreiten, ist etwas, was sie dringend lernen sollten. An der Hochschule Merseburg werden seit Jahren Multiplikatoren für dieses Thema ausgebildet. Der Professor, der die Studie geführt hat, erläutert im LZ-Interview, was sexuelle Bildung für Lehramtsstudenten beinhalten sollte, warum es keine drei Kernthesen zu dem Thema gibt, wie sie strukturiert sein könnte und spricht über aktuelle Forschungsthemen wie Intersektionalität und Straftaten gegen sexuelle Mitbestimmung.
In der quantitativen Studie Sexuelle Bildung für das Lehramt, ein Gemeinschaftsprojekt der Hochschule Merseburg und der Uni Leipzig, haben 93 Prozent der Studierenden angegeben, dass Inhalte zur sexuellen Bildung im Lehramt nicht ausreichend vermittelt werden. Hat Sie das überrascht?
In dieser Größenordnung schon. Der Bedarf ist riesig. Und erst wenn Lehrkräfte auch gut in Themen zu Sexueller Bildung und zur Prävention von sexualisierter Gewalt ausgebildet sind, können sie auch die Kinder und Jugendlichen im schulischen Kontext wirksam unterstützen. Ohne Sexuelle Bildung fallen den Lehrkräften sexuelle Übergriffe mitunter nicht einmal auf.
Was sagt dies über die Befragten aus?
Über die Befragten sagt das nichts aus. Das Ergebnis weist auf die institutionellen Bedingungen hin. Die Institutionen – hier die Universitäten, die Lehrämtler/-innen ausbilden – sind dafür verantwortlich, dass die Ausbildung gut auf die Praxis vorbereitet. Das ist hinsichtlich Sexualität und sexueller Übergriffe bisher nicht der Fall. Aus meiner Sicht ist das grob fahrlässig.
Warum gibt es dies bis dato nicht?
Das liegt insbesondere daran, weil die Prävention sexualisierter Gewalt und damit Sexuelle Bildung insgesamt erst in der jüngsten Vergangenheit zentral in den gesellschaftlichen Blick gerückt ist. Erst seit den Aufdeckungen der sexualisierten Gewalt, der Kinder und Jugendliche in einigen Internaten und weiteren Einrichtungen ausgesetzt waren und die über Jahrzehnte stattfinden konnte, kommt Bewegung in die Sache.
Nun gibt es intensive gesellschaftliche Anstrengungen, dass Schulen Schutz gewährleisten sollen – und dafür ist es selbstverständlich nötig, nicht nur mit Fort- und Weiterbildungen Versäumtes auszugleichen, sondern direkt das Lehramtsstudium zu verbessern.
94 Prozent der Befragten sind der Meinung, dass sich Lehrkräfte intensiv mit sexueller Bildung auseinandersetzen sollen. Wie kann dieses Thema in ein Lehramtsstudium integriert werden?
Genau das zeigt: Die Studierenden und Lehrkräfte wollen. Nun geht es darum, dass auch die Universitäten wollen – und das Thema obligatorisch in das Studium integrieren. Mehr ist nicht erforderlich. Es müssen sich nur die oft recht starren Hochschulstrukturen in Bewegung setzen – dann wären die Themen Sexuelle Bildung und Prävention von sexualisierter Gewalt schnell als obligatorische Angebote in das Curriculum integriert.
Welche Unterthemen würden Sie empfehlen und welchen zeitlichen Umfang?
Günstig wäre, wenn in der ersten Phase der Lehramtsausbildung eine Vorlesung und ein Seminar zu den Themen verankert wären. Darin sollte allgemein auf Themen der sexuellen Entwicklung eingegangen werden – zum Beispiel was alterstypisches Verhalten ist. Es müssten Themen zu geschlechtlicher und sexueller Selbstbestimmung, zu Vielfalt, zu Kindern und Jugendlichen mit Förderbedarfen, zu Medien, Nähe und Distanz, zu Professionalität integriert sein.
Davon ausgehend können auch die Themen Prävention und Intervention bei sexuellen Übergriffen in den Blick genommen werden. Ein wichtiger Bestandteil muss die Selbstreflexion sein. Im SeBiLe-Projekt haben wir ein umfassendes Curriculum entwickelt, das ab Ende Dezember auf www.sebile.de zu finden sein wird.
Darüber hinaus – und noch näher an der Praxis – müssen dann Angebote in die zweite Phase der Ausbildung, in das Referendariat. Und schließlich müssen bereits tätige Lehrkräfte fort- und weitergebildet werden – hier wären umfassende Initiativen der sächsischen Staatsregierung, speziell des Bildungsministeriums, und des zuständigen LASUB erforderlich.
Wer könnte die Vermittlung übernehmen?
An der Hochschule Merseburg bilden wir in den Studiengängen „Angewandte Sexualwissenschaft“ und „Sexologie“ Personen aus, die zum Beispiel für solche Lehraufgaben fit sind. Ein größerer Teil von ihnen lebt und arbeitet in Sachsen. Gerade in Sachsen wären damit die Bedingungen gut. In anderen Bundesländern trifft das nicht oder kaum zu, da sexualwissenschaftliche Studiengänge und Spezialisierungsrichtungen bisher an Hochschulen rar sind.
Während die befragten Studierenden einen hohen Bedarf an Aus- und Weiterbildung beim Thema Sexuelle Gewalt sehen, wollen Lehrkräfte eher mehr über Recht erfahren. Ist das ein Zeichen von Verunsicherung?
So sehr unterscheiden sich die Ergebnisse zwischen beiden Gruppen nicht. Lehrkräfte haben aus ihrer Praxis heraus schon einige Sicherheit für sich gewonnen – hier ist es wichtig, sie so zu aktualisieren, dass Kinder und Jugendliche die bestmögliche Unterstützung erfahren.
Sollten Sie eine Fortbildung in diesem Bereich anbieten, welche drei Kernformulierungen würden Sie den Lehrkräften beim Thema Recht und den Studierenden beim Thema Sexuelle Gewalt an die Hand geben?
So einfach möchte ich es nicht machen. Es geht darum, dass Lehramtsstudierende und Lehrkräfte sicher werden, auch über Themen der Sexualität zu sprechen. Das setzt Selbstreflexion und Haltung auch bezüglich dieses Themas voraus. Damit würden drei Kernformulierungen eher in die Irre führen – es bedarf tatsächlich einer ruhigen Beschäftigung in curricularem Rahmen.
Inwieweit können gut ausgebildete Lehrer beim Thema Erfassung von Sexueller Gewalt richtig handeln?
Gut ausgebildete Fachkräfte insgesamt – auch im Kontext Schule – wissen, wie sie mit Sexualität im Schulalltag, mit sexualisierter Sprache der Schüler/-innen etc. umgehen. Sie wissen, wo sie Rat bekommen – bei Fachberatungsstellen. Und sie wissen, wie sie in einem ersten Gespräch mit Kindern und Jugendlichen, in dem ein sexueller Übergriff thematisiert wird, gut und zum Wohl des Kindes agieren können.
Vor allem sind sie aber nicht allein, weil sich ihre Schule ein gutes Schutzkonzept und ein gutes sexualpädagogisches Konzept gegeben hat, sodass sie Handlungssicherheit haben und nicht „aus dem Bauch heraus“ handeln müssen. Gute Ausbildung und gute Konzepte entlasten Fachkräfte erheblich, weil sie Handlungssicherheit geben und wichtige Entscheidungen von der einzelnen Person wegnehmen und auf das Team – das Kollegium – verlagern.
Des Weiteren ging es um den Bedarf an Weiterbildung bei den Themen Medienkompetenz, sexuelle Sozialisation mit Fokus auf Behinderung bzw. kulturelle/religiöse Herkunft. Was können Sie Lehrkräften adhoc bei diesen Themen raten?
Das ist ein ganzer Strauß an Themen. In Bezug auf Medien ist es für uns ältere Erwachsene insgesamt unabdingbar, uns von einer Vorstellung zu lösen, in der „digital“ und „analog“ nebeneinander gedacht werden. Der Alltag von Kindern und Jugendlichen verläuft nicht in dieser Trennung, vielmehr sind „digital“ und „analog“ untrennbar miteinander verbunden. Auch Sexualität und auch sexuelle Übergriffe tragen oft sowohl „digitale“ als auch „analoge“ Anteile.
In Bezug auf Kinder und Jugendliche mit Förderbedarfen gilt es, Inklusion ernst zu nehmen. Das gilt nicht nur in Bezug auf die Themen Sexuelle Bildung und Prävention von sexualisierter Gewalt. Über kulturelle und religiöse Fragen wird viel gesprochen. Eine Erfahrung aus der Sexuellen Bildung mit Kindern und Jugendlichen ist, dass Kinder und Jugendliche gleichen Alters dieselben Fragen zu körperlicher Entwicklung, körperlichen Vorgängen, Liebe, dem „Ersten Mal“ haben.
Insofern gilt es, Kinder und Jugendliche nicht stereotyp zu gruppieren, sondern vielmehr in der konkreten Bildungsveranstaltung die heterogenen Sichtweisen unter ihnen zum Arbeiten zu bringen – davon profitieren alle.
Eltern werden bei diesen Themen auch nicht ausgebildet. Gerade was Sexuelle Gewalt oder auch Medienkompetenz angeht, erscheint dies wichtig. Würden Sie dem zustimmen und wie können sich Eltern hier bilden?
Eltern sollten sich fit machen – und sich insbesondere für ihre Kinder interessieren. Es gibt sowohl zu Medien als auch zu Sexualität und zu sexuellen Übergriffen gute Literatur für Eltern – die zum Beispiel von der BZgA, der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, herausgegeben werden. Die Materialien sind oft richtig gut und elterngerecht.
Insgesamt erlebe ich Eltern auch als sehr interessiert – sie wollen die sexuelle und geschlechtliche Selbstbestimmung ihres Kindes fördern, es stark machen. Und sie wollen auch, dass es auch tolerant und grenzachtend mit anderen Kindern umgeht. Das ist schon ein gutes Herangehen – die nötigen Kenntnisse zu sexueller Entwicklung und zum Beispiel zu geschlechtlicher und sexueller Vielfalt können sie sich leicht aneignen.
Sie sind Mitherausgeber des Buchs „Sexuelle Gewalt in pädagogischen Kontexten: Aktuelle Forschungen und Reflexionen“. Welche Erkenntnisse konnten zu diesem Thema gewonnen werden?
Seit den Aufdeckungen von sexualisierter Gewalt sind seit dem Jahr 2010 einige Aktivitäten zur Prävention von sexualisierter Gewalt in institutionellen Einrichtungen auf den Weg gekommen. Einerseits wurden die Forschungen erheblich verstärkt, andererseits hat sich auch schon etwas in der praktischen Umsetzung getan.
Das Buch „Sexuelle Gewalt in pädagogischen Kontexten“ fasst die wissenschaftlichen Erkenntnisse zusammen, die in den vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projekten gewonnen werden konnten – für alle Wissenschaftler/-innen und Fachkräfte ist es damit lesenswert. Aktuell werden vom genannten Ministerium Transferprojekte gefördert, sodass die Erkenntnisse auch direkt in der Praxis ankommen.
Das erscheint mir auch sehr nötig: Schon in der Vergangenheit war es oft so, dass wissenschaftlich – und auch aktivistisch – viele gute Materialien, Lehrpläne etc. entwickelt wurden, die nach Ende der Projektlaufzeit kaum weiterverfolgt wurden. Gerade jetzt ist es wichtig, dass die Ergebnisse gut in die praktische Umsetzung gelangen.
Ihr neuestes Buch befasst sich mit Intersektionalität. Ein Begriff, der mir persönlich noch nie begegnet ist. Was hat es damit auf sich?
Ja. Und auch das Buch „Intersektionalität: Von der Antidiskriminierung zur befreiten Gesellschaft?“, das ich gemeinsam mit Salih Alexander Wolter und Christopher Sweetapple verfasst habe, nimmt im zentralen zweiten Kapitel Ergebnisse der Forschungen zur Prävention sexualisierter Gewalt auf. In Interviews ist deutlich geworden, dass Personen, die sowohl von sexualisierter als auch von rassistischer oder antisemitischer Gewalt betroffen sind, Schwierigkeiten haben, Unterstützung zu finden.
Diese Personen machen die Erfahrung, dass sie sowohl in staatlichen Institutionen als auch in Frauenhäusern von rassistischer oder von antisemitischer Diskriminierung betroffen sein können – und nehmen daher vorhandene Angebote teilweise nicht wahr. Hier muss sich in den Institutionen etwas ändern!
Und Personen aus solchen Gruppen, die von Diskriminierung und Gewalt bezogen auf verschiedene Merkmale betroffen sind, haben teilweise eigene Projekte gegründet, die zum einen Empowerment ermöglichen, zum anderen Ratsuchenden Unterstützung bieten und schließlich auch Bildungsarbeit und politische Arbeit ermöglichen. Die Finanzierung der Projekte ist oft desolat. Auch hier muss einiges passieren!
Daher auch der intersektionale Schwerpunkt, wobei Intersektionalität die Überschneidung der verschiedenen Herrschaftsverhältnisse – Klassenverhältnis, Geschlechterverhältnis, Rassismus – bezeichnet. Im deutschsprachigen Raum geht intersektionale Arbeit auf die Schwarze deutsche Frauenbewegung zurück, bedeutend angestoßen durch den wichtigen Band „Farbe bekennen“, der 1986 erschien.
Und inwieweit ist es als Bürger, aber auch als Lehrer relevant?
Auch in der Bildungsarbeit, wie auch in der gesamten Gesellschaft, sind Rassismus und Antisemitismus verbreitet, ebenso zweigeschlechtlicher Sexismus. Intersektionalität ist ein bedeutsames Analyse-Instrument, das eine Reflexion ermöglicht und es möglich machen kann, dass Diskriminierung und Gewalt in der Gesellschaft verringert wird. Entsprechend wird Intersektionalität, das zeichnet sich auch schon ab, als wichtiges Analyse-Instrument größere Verbreitung erfahren. Unser Band liefert dazu einen Beitrag.
Und zu guter Letzt arbeiten Sie noch bei der Dunkelfeldstudie mit, die sich mit Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung befasst. Woher kommt der Name und wie weit sind ihre Forschungen gediehen?
Die „Partner 5 Studie“, die sich auch in größerem Maß dem Dunkelfeld von sexualisierter Gewalt zuwendet, läuft aktuell teilweise noch. Die Erwachsenenerhebung ist bereits abgeschlossen – mehr als 4.000 Personen haben daran teilgenommen. Derzeit sind wir bei der Auswertung und es zeichnen sich einige interessante und gesellschaftlich bedeutsame Ergebnisse ab.
Im Januar oder Februar 2021 sind wir so weit, sie einer größeren Öffentlichkeit vorzustellen. Die Jugenderhebung, bei der wir 16- bis 18-Jährige befragen, läuft aktuell noch. Hier sind alle interessierten Jugendlichen dazu eingeladen, sich zu beteiligen. Informationen finden sich auf www.ifas-home.de.
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