LEIPZIGER ZEITUNG/Auszug Ausgabe 79, seit 29. Mai im HandelEgal ob Quincy, Bones, Professor Boerne: Die Rechtsmedizin ist fester Bestandteil der Medienwelt. Seit 120 Jahren gibt es auch ein entsprechendes Institut in Leipzig, was einst dem Kultusministerium regelrecht abgeschwatzt werden musste. Spätestens seit 1961 ist das Institut eines der besten in Deutschland. Institutsleiter Prof. Jan Dreßler im Gespräch über seine medialen Ebenbilder, die tägliche Leichenarbeit und den Umgang mit den Grausamkeiten auf der Arbeit.
Die Universität feiert 120 Jahre Institut für Rechtsmedizin. Herr Professor Dreßler, nehmen Sie uns auf eine kurze Reise durch die Geschichte des Instituts mit?
Am Anfang des letzten Jahrhunderts ist es Herrn Prof. Kockel gelungen, das Sächsische Kultusministerium im damaligen Königreich Sachsen von der Notwendigkeit für ein eigenständiges Institut für Rechtsmedizin in Sachsen zu überzeugen. Das war am 5. Mai 1900, weswegen wir diesen Tag als Institutsgeburtstag ansehen. Das Pathologische Institut, an der Liebigstraße, Ecke Johannisallee, gab es damals schon.
Das Ministerium hatte dann bewilligt, dass an diesem Gebäude ein Erweiterungsbau erfolgen kann. Der wurde übrigens aber erst 1928 fertig. Es ging Sachsen und der Universität Leipzig darum, mit einem eigenen Institut für Gerichtliche Medizin als Bindeglied zur Justiz ungeklärte Todesfälle aufzuklären und nicht-natürliche Todesfälle, also Tötungsdelikte, zu untersuchen. Das war Herrn Prof. Kockel wichtig.
Im 2. Weltkrieg wurde das Institut stark zerstört. Die Tätigkeit ist damals durch Herrn Prof. Gottfried Raestrup weitergeführt worden. Nach dem Krieg hat es kommissarisch der Berliner Herr Prof. Otto Prokop geleitet und 1961 hat es Herr Prof. Wolfgang Dürwald übernommen und es in den fast 30 Jahre seiner Amtszeit zu hohem Ansehen geführt.
Wie schätzen Sie die deutschlandweite Relevanz des Instituts damals und heute ein?
In der damaligen DDR gab es zwei große Standorte für Gerichtliche Medizin: Zum einen Berlin mit der Charité an der Humboldt-Universität und Leipzig mit unserem Institut. Nach der Wende entstand eine Interimszeit mit kommissarischen Besetzungen des Lehrstuhls. Auf den dann Herr Prof. Kleemann aus Hannover 2000 berufen werden konnte. Nach dessem frühen Tod erhielt ich 2009 von Dresden aus den Ruf an die Leipziger Universität.
Das Institut ist auch heute eines der größten und modernsten Institute in der Bundesrepublik Deutschland. Bis 2015 wurde es grundlegend saniert, sodass wir jetzt in modernen Räumlichkeiten über eine recht gute technische Ausstattung, u. a. auch mit einem Computertomographen für die radiologische Untersuchung der Verstorbenen vor der Obduktion, verfügen. In unserer Abteilung für forensische Toxikologie können nahezu alle giftigen Substanzen, Arzneimittel und Drogen an Lebenden und Toten untersucht werden.
Außerdem haben wir auch eine leistungsstarke Molekulargenetik. Dort finden Vaterschaftsuntersuchungen statt und hauptsächlich Untersuchungen von DNA-Spurenmaterial, beispielsweise nach der Spurensicherung am Tatort oder bei einer Körperverletzung.
Was ist Ihr Steckenpferd?
Als Arzt habe ich mich über Jahrzehnte mit der Altersbestimmung von Verletzungen beschäftigt. Wenn jemand eine Hautwunde hat, spielt es bei der Aufklärung des Tatgeschehens eine wichtige Rolle, wann diese durch den Täter verursacht wurde. Der Verletze kann dazu mitunter keine präzisen Angaben machen oder ist verstorben.
Mittlerweile widme ich mich mehr den pathologischen Veränderungen nach Hirnverletzungen. Wenn jemand einen Schlag auf den Schädel bekommt, dann werden da verschiedene Proteine im Gehirn freigesetzt. Unsere Arbeitsgruppe hat deren Chronologie der Expression in den letzten Jahren untersucht.
Wie lange dauert eine derartige Analyse?
Wir untersuchen das Gewebe mit dem Mikroskop und analysieren das Serum und Hirnkammerwasser des verstorbenen Opfers. Das dauert dann wenige Tage, bis man die Ergebnisse zusammenfassend bewerten kann.
Wie groß ist das Institut und wie funktioniert die Zusammenarbeit mit der Polizei?
Das Einzugsgebiet unseres Institutes umfasst neben der Großstadt Leipzig die Regionen Nordsachsen, Döbeln, Freiberg, Chemnitz, Zwickau bis nach Plauen. Das sind die Polizeidirektionen Leipzig, Chemnitz, Zwickau. Sachsen hat vier Millionen Einwohner, unser Einzugsgebiet hat ca. 2,5 Millionen Einwohner. Die anderen 1,5 Millionen werden vom Institut für Rechtsmedizin der TU Dresden versorgt.
Das Institut für Rechtsmedizin der Universität Leipzig mit seiner Prosektur in Chemnitz hat 32 Mitarbeiter, darin eingeschlossen sind natürlich neben Ärztinnen und Ärzten auch Naturwissenschaftler, medizinisch-technische Assistenten, Präparatoren, Sekretärinnen und eine Fotografin. Wir haben auch einen 24-stündigen Bereitschaftsdienst. Der diensthabende Arzt wird durch die Polizei mehrfach am Tag gerufen.
Wie muss man sich den Arbeitsalltag für einen Mediziner an Ihrem Institut vorstellen?
Um 8 Uhr morgens beginnt der reguläre Dienst mit einer Morgenkonferenz, bei der die Fälle aus der Nacht vorgestellt werden. Anschließend beginnt die Tätigkeit im Sektionssaal. Daran schließen sich eine ganze Reihe von Zusatzuntersuchungen an. Nach den Zusatzuntersuchungen erhält die Staatsanwaltschaft das endgültige Sektionsgutachten.
Das ist aber nur ein Teil unserer Tätigkeit. Wir haben auch Räumlichkeiten, in die die Polizei Geschädigte bringt oder wir schauen uns in Kliniken Geschädigte an. Frauen können sich bei uns melden, wenn sie z. B. vergewaltigt worden sind und auch bei der mutmaßlichen Misshandlung von Kindern nehmen wir mit klinischen Kollegen alle erforderliche Untersuchungen und Dokumentationen von Verletzungsbefunden vor. Dazu kommt die umfangreiche Lehrtätigkeit für Medizin- und Jurastudenten und Polizeibeamte.
In der Rechtsmedizin wird ebenfalls geforscht. Was erarbeiten sich Ihre Mitarbeiter im Moment?
Neben der schon erwähnten forensischen Neuropathologie beschäftigt sich eine weitere Arbeitsgruppe um Herrn M. Schwarz mit den Möglichkeiten der Entomologie. Es ist uns gelungen, toxische Instanzen in Insekten, die den verstorbenen Menschen bei längerer Liegezeit im Freien besiedeln, nachzuweisen. Anhand des Generationswechsels der Insekten lässt sich natürlich auch die Liegezeit einer Leiche näher eingrenzen.
Außerdem haben wir in diesem Jahr durch die Anschaffung einer speziellen Kamera mit der Hyperspektralanalyse begonnen. Die Auswertung der Lichtwellen der Hyperspektralkamera ist ein neues optisches Verfahren, was wir in die Aufgaben und Fragestellungen der Rechtsmedizin integrieren wollen.
Durch die Auswertung der Lichtwellen, die auf den menschlichen Körper eintreffen, können rasch am Ort der Leichenschau Sekrete identifiziert werden, ob es sich beispielsweise um Blut oder Sperma handelt. Man kann diese Methode auch zum Nachweis von Schmauch an der Schusshand anwenden. Wir sind gespannt, ob die Methode belastbar ist und in der Routine Einzug halten wird.
Versuchen Sie mit der wissenschaftlichen Forschung immer auch ein Stück, potenziellen Mördern voraus zu sein?
Das ist scheinbar so. Aber die Begehung von Tötungsdelikten gleichen sich. Dass jemand erschlagen oder erstochen wurde, das hat es schon seit Menschengedenken gegeben. Es gibt nur sehr wenige Fälle, die ungeklärt bleiben.
Rechtsmediziner nehmen in vielen fiktionalen Medien eine Rolle ein. Finden Sie, die Berufsgruppe ist immer gut getroffen?
Das Medium Film, Hörspiel oder Literatur bereitet Inhalte mit künstlerischen Mitteln auf. Ich finde es generell für unser Fachgebiet gut, dass wir so medienpräsent sind. Es gibt kaum einen „Tatort“, wo nicht auch der skurrile Rechtsmediziner eine Rolle spielt. Sicher ist das etwas übertrieben, wenn ich zum Beispiel an Jan-Josef Liefers als Professor Boerne aus Münster denke. Wir haben durch die Medienpräsenz immer wieder auch Anfragen von Studierenden, die ein Praktikum oder eine Ausbildung in der Rechtsmedizin machen wollen. Ich schaue mir auch ganz gern mal einen Krimi an.
Sie haben täglich mit Mord und Totschlag zu tun. Wie halten Sie das von sich selbst fern?
Das stellt sich der Außenstehende immer etwas belastend vor, aber eine Rolle spielt, ob sie den Verstorben zuvor gekannt haben. Meine Mitarbeiter und ich haben ihn auch nicht im Vorfeld behandelt wie die klinisch tätigen Ärzte. Von daher bildet man im Laufe der Zeit eine eher analytisch-diagnostische Vorgehensweise an Fällen aus und versucht, das Schicksal nicht an sich heranzulassen. Es spielt auch ein gutes Arbeitsumfeld eine wesentliche Rolle. Wir sind eine tolle Truppe und mit angenehmen Hobbys kann man das gut verarbeiten.
Herr Professor Dreßler, haben Sie noch etwas auf dem Herzen?
Ja. Wir haben eine Gewaltopfer-Ambulanz am Institut. Da besteht prinzipiell die Möglichkeit, dass Frauen, die Opfer häuslicher Gewalt geworden sind, zu uns kommen können, ohne den Partner gleich anzeigen zu müssen. Wir kämpfen seit Jahren um die Finanzierung dieser Gewaltopfer-Ambulanz. Die Coronakrise könnte verstärkt für häusliche Gewalt gesorgt haben. Die Finanzierung der Gewaltopfer-Ambulanz sollte den Entscheidungsträgern im Freistaat Sachsen wichtig sein.
Die neue Leipziger Zeitung Nr. 79: Von Gier, Maßlosigkeit, Liebe und Homeschooling in Corona-Zeiten
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