Es war ein Fund vor zwei Jahren, der jetzt etwas ermöglichte, was sich auch Leipziger Forscher immer nur wünschen können, wenn sie Knochen unserer weit entfernten Vorfahren finden. Denn um ihr Antlitz wirklich authentisch zu rekonstruieren, reichen ein paar Kieferknochen nicht. Man braucht schon einen relativ gut erhalten Schädel. Aber 3,8 Millionen Jahre sind eine verdammt lange Zeit.
Doch unsere Ahnengalerie wird nun um ein Bild erweitert, nämlich um ein Konterfei von Australopithecus anamensis. Diese älteste bekannte Australopithecus-Art gilt als Vorfahr des Australopithecus afarensis – derselben Art, der die berühmte „Lucy“ angehörte. Doch bisher kannte man von A. anamensis nur fossile Kieferknochen und Zähne. Yohannes Haile-Selassie vom Cleveland Museum of Natural History und Stephanie Melillo vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig und ihre Kollegen haben den ersten Schädel eines A. anamensis beschrieben, der in Woranso-Mille in der Afar-Region Äthiopiens entdeckt worden war. Dies ermöglicht es ihnen nun auch, die Gesichtszüge des menschlichen Ahnen zu rekonstruieren.
Der 3,8 Millionen Jahre alte fossile Schädel repräsentiert den Zeitraum von vor zwischen 4,1 und 3,6 Millionen Jahren, als aus dem A. anamensis der A. afarensis hervorging. Anhand der morphologischen Merkmale des Schädels gelang es den Forschern, das Fossil einer Art zuzuordnen.
„Die Beschaffenheit des Oberkiefers und eines Eckzahns waren ausschlaggebend dafür, den Schädel der Art Australopithecus anamensis zuzuordnen“, sagt Melillo. „Es ist gut, dem Namen nun endlich auch ein Gesicht geben zu können.“
Zusammen mit anderen bisher aus der Afar-Region bekannten Fossilien belegt der MRD-Schädel zudem, dass Australopithecus anamensis und Australopithecus afarensis etwa 100.000 Jahre lang nebeneinander existiert haben. Diese zeitliche Überschneidung stellt nun die weit verbreitete Annahme infrage, dass es einen linearen Übergang zwischen diesen beiden frühen menschlichen Vorfahren gegeben hat.
Haile-Selassie sagt dazu: „Das verändert unser Verständnis der menschlichen Evolution während des Pliozäns grundlegend.“
Im Februar 2016 hatte das Team, das seit 15 Jahren Ausgrabungsarbeiten vor Ort in Äthiopien durchführt, den Schädel MRD-VP-1/1 („MRD“) entdeckt. Seitdem haben Paläoanthropologen umfangreiche Analysen des Schädels durchgeführt, während Geologen das Alter des Fossils bestimmten und den Lebensraum rekonstruierten.
Die Entdeckung des Schädels
Im Rahmen des Woranso-Mille-Projekts findet bereits seit 2004 Feldforschung in der Afar-Region Äthiopiens statt. Seitdem wurden mehr als 12.600 fossile Proben gesammelt, die etwa 85 verschiedene Säugetierarten repräsentieren. Darüber hinaus umfasst die Sammlung etwa 230 Fossilfunde von Homininen aus der Zeit von vor mehr als 3,8 bis vor etwa 3,0 Millionen Jahren. Zuerst wurde der Oberkiefer am 10. Februar 2016 von Ali Bereino, einem Arbeiter vom Volk der Afar, in Miro Dora im Bezirk Mille des Äthiopischen Regionalstaats Afar gefunden. Das Fossil war nicht von Sedimenten bedeckt und weitere Untersuchungen des Bereichs führten zur Entdeckung der restlichen Teile des Schädels.
„Ich habe meinen Augen nicht getraut, als ich den Rest des Schädels entdeckte. Es war ein Heureka-Moment, ein Traum wurde wahr“, sagt Haile-Selassie.
Beverly Saylor von der Case Western Reserve University und ihre Kollegen datierten Mineralien aus vulkanischen Gesteinsschichten nahe der Fundstelle und bestimmten so das Alter des Fossils auf 3,8 Millionen Jahre. Anhand von vor-Ort-Beobachtungen sowie der Analyse von chemischen und magnetischen Eigenschaften der Gesteinsschichten konnten die Forscher die datierten Schichten dem Fundort des Fossils zuordnen. Saylor und Kollegen kombinierten ihre Beobachtungen mit der Analyse mikroskopisch kleiner fossiler Überreste und konnten so rekonstruieren, wie Landschaft und Vegetation beschaffen waren und welche Wasservorkommen es zum Zeitpunkt des Todes von MRD gab.
MRD wurde in den sandigen Ablagerungen eines Deltas gefunden, wo ein Fluss in einen See mündete. Der Fluss hatte wahrscheinlich im Hochland von Äthiopien seinen Ursprung, während sich der See in einem niedriger gelegenen Gebiet herausbildete. Fossile Pollenkörner und chemische Überreste fossiler Pflanzen und Algen, die in den Sedimenten aus dem See- und Delta-Gebiet erhalten geblieben sind, liefern den Forschern Hinweise auf die damaligen Umweltbedingungen.
Demnach muss die Wasserscheide des Sees größtenteils trocken gewesen sein. An den Ufern des Deltas oder entlang des Flusses, der das Delta und das Seensystem speiste, hat es aber auch bewaldete Gebiete gegeben. „MRD lebte in der Nähe eines großen Sees in einer trockenen Region. Um den Lebensraum von MRD, vergangene Klimaveränderungen und deren mögliche Auswirkungen auf die Evolution des Menschen im Detail zu erforschen, sind weitere Analysen der Ablagerungen geplant“, sagt Ko-Autorin Naomi Levin von der University of Michigan.
Ein neues Gesicht in der Menge
Australopithecus anamensis ist das älteste bekannte Mitglied der Gattung Australopithecus. Aufgrund des seltenen nahezu vollständigen Zustandes des Schädels identifizierten die Forscher zudem noch nie dagewesene Gesichtsmerkmale dieser Art.
„Bei MRD finden sich sowohl einfache als auch komplexere Gesichts- und Schädelmerkmale, die ich in dieser Kombination nicht erwartet hatte“, sagte Haile-Selassie. Einige Merkmale ähneln denen späterer Arten, während andere Merkmale an noch frühere und primitivere menschliche Vorfahren wie Ardipithecus und Sahelanthropus erinnern. „Bis jetzt gab es zwischen den frühesten bekannten menschlichen Vorfahren, die etwa sechs Millionen Jahre alt sind, und Arten wie ,Lucy‘, die zwei bis drei Millionen Jahre alt sind, eine große Lücke. Einer der spannendsten Aspekte unserer Entdeckung ist, wie sie die Lücke zwischen diesen beiden Gruppen überbrückt“, sagt Melillo.
Evolutionäre Verzweigungen
Zu den wichtigsten Ergebnissen gehört die Schlussfolgerung des Teams, dass Australopithecus anamensis und seine Nachkommen der Art Australopithecus afarensis, über einen Zeitraum von mindestens 100.000 Jahren hinweg nebeneinander existiert haben. Dieser Befund widerspricht der langjährigen Annahme, dass es zwischen diesen beiden Taxa eine anagenetische Beziehung gibt und spricht stattdessen für ein verzweigtes Evolutionsmuster.
Melillo erklärt dazu: „Früher dachten wir, dass Australopithecus anamensis mit der Zeit allmählich zu Australopithecus afarensis wurde. Wir gehen noch immer davon aus, dass beide Arten in einer Vorfahren- und Nachkommenbeziehung zueinander stehen. Unsere neue Entdeckung deutet aber jetzt darauf hin, dass die beiden Arten tatsächlich eine ganze Weile lang in der Afar-Region zusammengelebt haben. Das verändert unser Verständnis des evolutionären Prozesses und wirft neue Fragen auf: Konkurrierten diese beiden Arten um Nahrung oder Lebensraum?“
Die Schlussfolgerung der Forscher basiert auf der Zuordnung der 3,8 Millionen Jahre alten MRD zur Art Australopithecus anamensis und des 3,9 Millionen Jahre alten Schädelfragments eines Homininen, allgemein bekannt als Belohdelie frontal, zur Art Australopithecus afarensis. Dieses Schädelfragment wurde 1981 von einem Paläontologen-Team im Mittleren Awash in Äthiopien entdeckt. Sein taxonomischer Status wurde seitdem jedoch infrage gestellt.
Der „neue“ MRD-Schädel ermöglichte es den Forschern nun auch erstmals, die Schädelmerkmale von Australopithecus anamensis zu charakterisieren und zwischen ihnen und den Merkmalen zu unterscheiden, die für Belohdelie frontal und andere Schädelfunde von „Lucys“ Art typisch sind. Die aktuelle Studie bestätigt, dass Belohdelie frontal einem Individuum gehörte, das „Lucys“ Art angehörte. Somit ist nun belegt, dass die bisher bekannten frühesten Vertreter des A. afarensis schon vor 3,9 Millionen Jahren gelebt haben, während die letzten Vertreter der Art A. anamensis noch vor 3,8 Millionen Jahren gelebt haben. Beide Arten haben also wenigstens 100.000 Jahre lang denselben Lebensraum geteilt.
SJ/SM, PG
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