Wenn es eine Menschengruppe gäbe, die wirklich von sich behaupten könnte, der am längsten in Europa heimische Europäer zu sein, dann wäre das der Neandertaler. Einen Großteil der Eiszeit hat er in Europa überlebt. Erst vor 40.000 Jahren starb er aus und der moderne Mensch, der aus Afrika einwanderte, übernahm den Kontinent. Aber eine Untersuchung an ganz alten Knochen zeigt jetzt: Es könnte schon vorher vielleicht eine kleine Zuwanderung aus Afrika gegeben haben.
Aber dazu mussten die Wissenschaftler des Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig jetzt DNA aus Knochen sequenzieren, die mit 120.000 Jahren so alt sind wie noch kein solches zur Erbgutanalyse genutztes Neandertalter-Material.
Forschende des Instituts haben Teile des Erbguts von zwei etwa 120.000 Jahre alten Neandertalern aus Deutschland und Belgien sequenziert. Die Analysen dieser Erbgut-Sequenzen ergaben, dass die letzten Neandertaler, die vor etwa 40.000 Jahren lebten, zumindest teilweise von diesen etwa 80.000 Jahre älteren europäischen Neandertalern abstammen. Im Erbgut des 120.000 Jahre alten Neandertalers aus Deutschland fanden die Forschenden außerdem Hinweise auf eine mögliche Abstammung von einer isolierten Neandertalerpopulation oder von Verwandten des modernen Menschen.
Zeitlich gehören die Knochenfunde in die sogenannte Eem-Warmzeit, also in jene etwa 10.000 bis 15.000 Jahre dauernde Warmzeit zwischen den Vorstößen der Gletscher, in denen auch Mitteleuropa eisfrei war und den wandernden Neandertalern wieder Jagd- und Lebensraum bot.
Aber natürlich wollten die Forscher wissen, wie diese Eem-Warmzeit-Menschen mit den späteren Neandertalern vor 40.000 Jahren verwandt waren.
Forschende des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig haben deshalb Zellkern-DNA aus dem Oberschenkelknochen eines männlichen Neandertalers, der 1937 in der Hohlenstein-Stadel-Höhle in Deutschland entdeckt wurde, und aus dem Oberkieferknochen eines Neandertalermädchens gewonnen, das 1993 in der Scladina-Höhle in Belgien gefunden wurde. Beide Neandertaler lebten vor etwa 120.000 Jahren, sind also älter als die meisten anderen Neandertaler, deren Erbgut die Forschenden bisher analysiert haben.
Analysen der Zellkern-Genome der beiden Individuen ergaben nun, dass diese frühen Neandertaler aus Westeuropa enger mit den letzten Neandertalern verwandt waren, die rund 80.000 Jahre später in derselben Region lebten, als mit Neandertalern, die etwa zur selben Zeit wie die beiden Westeuropäer in Sibirien lebten.
„Das Ergebnis ist wirklich außergewöhnlich und steht in starkem Kontrast zu der turbulenten Evolutionsgeschichte des modernen Menschen, die durch Austausch, Vermischung und Aussterben von Populationen geprägt ist“, sagt Kay Prüfer, der die Studie leitete.
Im Gegensatz zum Erbgut aus dem Zellkern unterscheidet sich das mütterlicherseits vererbte mitochondriale Erbgut des Neandertalers aus der Hohlenstein-Stadel-Höhle deutlich von dem des späteren Neandertalers aus derselben Region. Außerdem unterscheidet es sich mit mehr als 70 Mutationen von den bekannten mitochondrialen Genomen anderer Neandertaler, wie eine frühere Studie zeigte.
Wenn es aber solche Unterschiede gibt, macht das die Forscher stutzig, dann werden sie zu Detektiven, den die Unterschiede deuten auf jemanden, den man bisher noch nicht kannte. Die Frage laute also: Wer war’s?
Die Forschenden vermuten, dass frühe europäische Neandertaler DNA von einer bisher noch nicht beschriebenen Population geerbt haben könnten. Aber von welcher?
„Bei dieser unbekannten Population könnte es sich entweder um eine isolierte Neandertalerpopulation handeln, die noch nicht entdeckt wurde, oder sie könnte von einer potenziell größeren Population aus Afrika stammen, die mit dem modernen Menschen verwandt ist“, erklärt der Leiter der Untersuchung Stéphane Peyrégne.
Die Suche nach diesen Unbekannten kann beginnen. Jetzt braucht man nur noch die richtigen Knochen aus der richtigen Zeit.
Ein Fund von 1980 entpuppt sich jetzt als frühester nachgewiesener Denisova-Mensch in Tibet
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