Eigentlich wissen es Wissenschaftler heute schon: So, wie unser Bildungssystem aufgebaut ist, ist es fürs Lernen höchst ungeeignet. Es versucht lauter Wissensbausteine in die kindlichen Köpfe zu pressen. Aber es berücksichtigt nicht, wie unser Gehirn Strukturen des Wissens entwickelt. Die Kognitionsforscher wissen es. Und legen jetzt einen neuen Forschungsbefund zum „gedanklichen Navigationssystem“ vor.
Denn genau darum geht es beim Wissen und rationalen Denken: um Orientierung. Um die Fähigkeit, die faszinierenden Möglichkeiten seines Gehirns auch bewusst nutzen und im Gewussten navigieren zu können. Was vielen Zeitgenossen nicht einmal klar ist. Wie auch?
Sie haben nie gelernt, ihre kognitiven Fähigkeiten bewusst zu nutzen. Was leider auch dazu führt, dass sie fast orientierungslos den Phänomenen unserer Welt gegenüberstehen, sie nicht einordnen und nicht strukturiert analysieren können. Sie werden zu reinen Konsumenten von lauter beliebigen Informationen, ohne aus ihnen ein strukturiertes Wissen bilden zu können.
Und unsere Schubladenschule befördert das leider.
Aber worum geht es genau?
Wie repräsentiert das Gehirn unser Wissen über die Welt? Hat es dafür eine Art Landkarte, ähnlich unserem Orientierungssinn? Und wenn ja, wie ist sie aufgebaut?
Dem gedanklichen Navigationssystem wieder eine Spur nähergekommen sind Stephanie Theves und Christian F. Doeller vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften. Anhand einer Lernstudie konnten sie erstmalig zeigen, dass neue Wissensinhalte im Hippocampus als Schaltzentrale des Gehirns entlang räumlicher Dimensionen in einer Art mentaler Landkarte gespeichert werden. Zusammen mit Kollegen vom Donders Institut der Radboud Universität in Nijmegen ist es ihnen gelungen, die Aktivitätsmuster im Gehirn aufzuzeichnen und so die Annahme zu stützen, dass das Lernen in unserem Gedankenraum über ähnliche räumliche Muster und Distanzen funktioniert wie die Orientierung in einem physikalischen Raum.
„Man muss sich das beim Erwerb von Wissen so vorstellen, dass wir als Menschen in der Lage sind, Gelerntes auf Neues oder ein vorher nicht direkt erlebtes Problem anzuwenden“, erklärt Studienautorin Theves. „Geht man zum Beispiel durch die Stadt, in der man wohnt, kann man eine Abkürzung nehmen, ohne sie je vorher ausprobiert zu haben, weil im Gehirn die räumlichen Orientierungswege in der Stadt repräsentiert sind. So ähnlich ist es beim Erwerb von Wissen auch: Wir haben ein Konzept davon im Kopf, was einen Rennwagen von einem LKW unterscheidet. Wenn wir nun ein neues Fahrzeug sehen, können wir anhand der Relation relevanter Eigenschaften wie zum Beispiel Motorleistung und Gewicht beurteilen, um welchen Fahrzeugtyp es sich bei diesem zuvor noch nie gesehenen Exemplar handelt. Wir folgern also unbewusst indem wir das neue Exemplar in unserer mentalen Landkarte verorten.“
Wie wurde experimentiert?
Die Teilnehmer in ihrer Studie haben über zwei Tage ein neues Konzept erworben, indem sie lernten, zuvor noch nie gesehene abstrakte Bilder anhand bestimmter Merkmale in zwei Kategorien einzuordnen. Im Anschluss an diese Lernphase wurde dann im MRT-Scanner getestet, ob unser Gehirn die für das neu zu lernende Konzept relevanten Merkmals-Dimensionen kombiniert und in einem raumähnlichen Format abspeichert, in welchem einzelne Exemplare lokalisiert werden können.
„Wir sind daran interessiert, dass die Probanden neue Konzepte lernen, weil wir dann die Distanzen innerhalb des konzeptuellen Raumes messen können, während Wissen erworben wird“, so Theves. Die Wissenschaftlerin und ihre Kollegen aus den Niederlanden finden heraus, wie nah gezeigte Objekte einander im gedanklichen Raum sind, indem sie die Signale des Hippocampus aufzeichnen. „Interessant ist, dass wir so eine exakte Skalierung der Objekte im Raum sehen können, woraus wir schließen, dass die Informationen im Gehirn kartenartig repräsentiert sind.“
Dass wir Menschen so flexibel bei der Anwendung von neuem Wissen agieren können, liege mit großer Wahrscheinlichkeit an dieser Organisationsstruktur, schlussfolgert Stephanie Theves. Langfristig könnten ihre Ergebnisse dazu beitragen, zentrale Aspekte menschlicher Intelligenz zu erklären – wie zum Beispiel die Fähigkeit, zu schlussfolgern oder zu generalisieren.
Das Verständnis, wie Wissensrepräsentationen erworben werden und im Gehirn organisiert sind, könnte außerdem genutzt werden, um Unterrichtsmethoden für effizientes Lernen zu optimieren, stapelt das Institut an dieser Stelle etwas tief. Denn das, was an unseren Schulen an „Wissensvermittlung“ praktiziert wird, lässt sich nicht optimieren, nur korrigieren oder reformieren.
Denn nichts anderes bedeuten ja diese Erkenntnisse über die Landkarte in unserem Gehirn: Um dessen Möglichkeiten wirklich zu entwickeln, muss Lernen in unseren Schulen weg vom Bausteinsystem, hin zum vernetzten Weltenschaffen. Klingt zu groß?
Ist aber genau das, was fällig ist. Der einzige Weg, der Mehrheit der Schüler endlich die vielen Misserfolge zu ersparen in einem Rastersystem, das auf die eigentlichen Strukturen unseres Gehirns keine Rücksicht nimmt.
Originalpublikation: Stephanie Theves, Guillén Fernandez, Christian F. Doeller (2019) „The hippocampus encodes distances in multidimensional feature space“
Warum unser Gehirn das Falsche lernt, wenn es nicht mehr empathisch und neugierig sein darf
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