Globalisierung? „Ein Plastikwort mit vielen Definitionen und vielen Nachteilen.“ Wenn überhaupt, dann spricht Prof. Dr. Matthias Middell lieber von „Globalisierungen“. Denn es gibt viele völlig unterschiedliche Entwicklungen, in denen menschliches Erleben auf einmal die ganze Erde umspannt. Und nicht jede ist bedrohlich. Auch wenn die neue Vielfalt viele Menschen erschreckt. Aber sie erschreckt auch, weil selbst Medien selten differenzieren und klar sagen, welche Globalisierung sie eigentlich meinen. Ein Handbuch aus der Uni Leipzig soll jetzt helfen dabei.
Zentrales Element bei dieser wichtigen Differenzierung von Globalisierung(en) sei dabei nicht das Überschreiten von Grenzen oder gar eine weltumspannende Reichweite, sondern eine „Neuverräumlichung der Welt“, betont Herausgeber Matthias Middell.
Außerdem gelte es, viel deutlicher über die Akteure des Globalisierens und deren Motivation zu sprechen. Middell, der an der Universität Leipzig unter anderem das Centre for Area Studies leitet, ist Herausgeber des neuen, 70 Beiträge umfassenden Handbuchs, das in internationaler Zusammenarbeit entstanden ist.
Das „Routledge Handbook of Transregional Studies“ finden Interessierte diese Woche auch am Stand der Universität auf der Leipziger Buchmesse (21. bis 24. März, Halle 3).
Die Debatten zu Globalisierung und Transnationalismus laufen seit Jahrzehnten.
„Anders als es meist dargestellt und wahrgenommen wird, handelt es sich aber nicht um einen alternativlosen Prozess, der uns handlungsohnmächtig macht. Zudem gibt es unzählige Fragmentierungen und Gegenbewegungen“, erläutert Professor Middell. „Mir geht es darum, herauszuarbeiten, wer globalisiert, aus welchem Interesse, mit welchen Mitteln, mit welchen Kosten. Globalisierung kommt ja nicht einfach über uns. Wenn wir über verschiedene Globalisierungen reden, dann können sich die Menschen äußern, positionieren, streiten, zum Beispiel zu Themen wie Migration, Exportorientierung und Rüstungsgeschäften.“
Oder zum Bau einer Ostsee-Pipeline.
„Man kann die Frage stellen, ob eine Pipeline durch die Ostsee gut oder schlecht ist, schon aus ökologischen Gründen. Man kann sie geopolitisch oder für den europäischen Zusammenhalt gut oder schlecht finden. Aber zuallererst müssen wir sie als Element der vielfältigen und sehr komplexen Neuverräumlichung verstehen, weshalb sich in so einem Projekt auch viele Akteure mit ihren Interessen treffen“, betont Middell.
Wer „macht“ eigentlich Globalisierung und was kostet sie?
Solche Formen der Neuverräumlichung fänden statt, „weil Politiker sie erlauben oder verbieten, weil Menschen sie akzeptieren oder nicht, weil Unternehmen daraus Profit schlagen können oder nicht.“ Middell möchte die Neuverräumlichung ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rücken. „Schließlich streift sich ein jeder von uns morgens beim Anziehen mit seinem T-Shirt einen ganzen Globalisierungsprozess über“, nennt er ein ganz anschauliches Beispiel. „Die Frage ist nicht, ob das so ist, sondern warum wir nicht gründlicher darüber reden, welche Kosten und welche Gewinne damit verbunden sind.“
Mit dem „Handbuch der transregionalen Studien“ machen die über 80 Autoren laut Middell ein Angebot, die „mindestens zwei größere Weltregionen verbindenden Entwicklungen“ neu zu sehen und zu erzählen.
„Solche Beziehungen sind wirtschaftlicher, politischer und kultureller Art. Sie schlagen sich in internationalen Organisationen nieder, sie beflügeln Mobilitäten und das Ziehen neuer Grenzen. Sie unterstützen neue Wertschöpfungsketten, aber auch den Aufstieg von Global Cities und international agierenden Nichtregierungsorganisationen“, betont Middell. Die Digitalisierung mache sie oftmals erst möglich, aber zugleich hätten viele transregionale Verbindungen lange historische Wurzeln.
Was natürlich sofort die Zahl der Konflikte erhöht: Denn wenn immer mehr weltumspannende Beziehungen entstehen – egal, ob politisch, militärisch oder digital – begegnen sich auf einmal auch Regionen, die vorher keine Nachbarschaften kannten, auf engstem Raum. Es kommt zum „clash of cultures“, dem „Kampf der Kulturen“.
Die Globalisierungen greifen ja nicht nur direkt ins Leben der besorgten Mitteleuropäer ein. Dasselbe passiert in den Städten Afrikas, im Nahen Osten, in China. Auf einmal stehen einst komplett regionale Lebenskonzepte virtuell in direktem Wettbewerb. Und das wird brandgefährlich, wenn Fundamentalisten mit den alten Regeln der territorialen Identität beginnen, ihre Vorstellungen weltweit und mit Gewalt zu artikulieren.
Oder so formuliert: Auch der moderne Terror ist eine Form der Globalisierung, wenn Terroristen aus Nahost mit Flugzeugen in die Türme des World Trade Centers fliegen oder Einwanderer aus Nordafrika in Paris Anschläge auf Diskotheken oder ein Satire-Magazin verüben.
Globalisierung hat viele Facetten – und überfordert nicht nur viele Deutsche.
Das Handbuch selbst sucht viele internationale Sichtweisen auf das Thema
„Fallstudien sind deshalb in dem Werk ebenso enthalten wie theoretische und methodische Überlegungen. Ich denke, dass es uns gelungen ist, sehr viele Experten, die dazu momentan arbeiten, zu versammeln und ihre unterschiedlichen Perspektiven aufzugreifen“, sagt Middell. „Dabei bedenken wir unsere eigene Rolle als Interpreten transregionaler Vorgänge, die von einem bestimmten Ort aus urteilen, immer mit und versuchen, sie auszubalancieren, indem wir Autoren aus anderen Erdteilen angemessen zu Wort kommen lassen. Es ist ein wichtiger Meilenstein für unsere Forschungen, aber natürlich auch ein Anfang für neue Untersuchungen.“
Matthias Middell hat das Buch mit vielen Leipziger Kollegen auf den Weg gebracht, vor allem Wissenschaftlern aus dem Sonderforschungsbereich 1199 „Verräumlichungsprozesse unter Globalisierungsbedingungen“. „Es ist ein Leipziger und zugleich ein ungemein internationales Buch“, sagt er.
Das Buch spiegelt „Veränderte Ordnungen in einer globalisierten Welt“ wider, wie der Titel eines der drei strategischen Forschungsfelder der Universität Leipzig lautet. Darin sind Wissenschaftler der Regional-, Kultur-, Sozial- und Geschichtswissenschaften vereint, unter anderem im genannten Sonderforschungsbereich und im „Forum for the Study of the Global Condition“, einem Kooperationsprojekt mit den Universitäten Halle-Wittenberg, Jena und Erfurt. Zudem bildet die Universität Leipzig mehr als 120 Doktoranden aus über 30 Ländern in der Graduiertenschule „Global and Area Studies“ aus. Aktuell läuft der Gründungsprozess für ein Zentrum für Globalisierungsforschung.
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