„Manfred Weber wirbt für eine sozialere EU“, titelte die F.A.Z. am 28. Dezember. Einen Tag zuvor gab’s eine recht kritische Buchbesprechung: „Sachbuch ‚Game over‘: Bitte aufwachen zum Systemcrash“. Für eine wirtschaftsnahe Zeitung wie die F.A.Z. sind das durchaus schon zwei muntere Funken. Ein konservativer CSU-Mann wie Manfred Weber fordert mehr Sozialstaat, ein alter SPÖ-Genosse schreibt die Katastrophe herbei.

Und wird dann von der F.A.Z. auch noch zurechtgewiesen: „Erstaunlich ist, dass ein Autor, der die Politik lange professionell beobachtet und selbst betrieben hat, ernsthaft daran glauben kann, dass es in Demokratien – oder gar auf der ganzen Welt – möglich sein könnte, die ‚miteinander verzahnten‘ Krisen mit vergleichsweise schlichten Mitteln zu bewältigen, und das auch noch relativ schnell. Dass in Demokratien viel diskutiert wird und deshalb alles länger dauert, dass Entscheidungen meist Kompromisse sind, ist ja per se kein Systemdefekt: Es ist geradezu die Essenz einer Regierungsform, die auf Teilhabe, Deliberation und Machtbegrenzung beruht.“

Irgendwie klingt das so, als hätte sich im Frankfurter Zeitungsflaggschiff das Merkel-Gen dauerhaft festgesetzt. Als hätte sich, die ganze erstarrte Merkel-Zeit mitbescheidend, das Gefühl festgesetzt, dass Politik wirklich nicht schneller geht. Dass man auch in 15 Jahren nicht schafft, Dinge auf den Weg zu bringen. Oder – was die F.A.Z. dann gar nicht erwähnt – wenigstens Lösungsvorschläge vorzulegen. Vorschläge zum Umdenken und Umsteuern.

Sage keiner, dass das nicht geht.

Erinnert sei nur an das leidige Thema Finanztransaktionssteuer – wer hat da nur gebremst?

Wohnungsbaupolitik – kann es sein, dass es das konzertierte Versagen von Politikern ist, die nur noch „Markt“ denken können?

Müssen wir von der Dieselkrise reden, die das Ergebnis deutscher Bremserpolitik ist?

Man kann jedes Politikfeld begutachten und wird sehen, dass überall hätte gehandelt werden können, sogar recht schnell. Was natürlich mutigere Akteure braucht, denen der aktuelle Zustand der Welt wirklich unbehaglich ist. Und die mit Überzeugungen in der Politik unterwegs sind.

Und nicht nur den Glauben an die „Selbstheilungskräfte des Marktes“ pflegen. Die hat er nämlich nicht.

Denn „die Märkte“ sind gierige reiche Männer, die richtig ungemütlich werden, wenn man ihnen den Reibach beschneidet. Ist zwar schon ein Weilchen her, dass emsig über TTIP und CETA und die implementierten Schiedsgerichte diskutiert wurde. Das war vor Trump. Seit Trump liegen diese sogenannten Freihandelsverträge auf Eis. Aber wenn der nächste neoliberale Präsident kommt, wird die EU die Verträge wieder aus dem Schrank holen, die Konzernen das Recht geben, Staaten zu verklagen, wenn sie ihnen die Möglichkeiten zum Gewinnmachen beschneiden.

Und seien es lauter vernünftige Gründe.

So wie aktuell beim Stopp der Rüstungsexporte. Schwups, stehen unsere gehätschelten Rüstungskonzerne auf der Matte und drohen mit Klage.

Wie will man eine vernünftige Friedenspolitik machen können, wenn man gleichzeitig den Profiteuren des Krieges Klagerechte gegen genau diese Politik einräumt?

Da ist gewaltig etwas in Schieflage geraten. Und man ahnt, warum Angela Merkel so ungerührt daneben steht und lieber nichts sagt und nichts tut. Wahrscheinlich hat sie die Angst vor diesen renitenten Konzernen zutiefst verinnerlicht. Wer diesen smarten Herren, deren Lächeln so falsch ist wie ihre Reinigungssoftware, so viel Macht über politische Entscheidungen einräumt, sorgt dafür, dass Demokratie nicht mehr funktionieren kann. Der Staat ist nicht mehr Akteur, sondern erduldet nur noch, wie Manager sich anmaßen, politische Standards umzudefinieren.

Oder mal so formuliert: Konzernmanagements können alles Mögliche, aber garantiert keine zukunftsfähige Politik. Die Zielparameter decken sich nicht. Der Gewinn der einen ist – wie wir nicht nur an Hans-Peter Martins Dystopie sehen – der Verlust von Zukunft und Handlungsfähigkeit von allen.

Oder noch ein bisschen weiter gedreht: Der Wachstumsglaube ist der Balken im Auge unserer „Wirtschaftsweisen“.

Sie haben es tatsächlich gemerkt. Es hat sich herumgesprochen. Sogar in der EU-Kommission ist die dumme Vermutung aufgetaucht, dass dieser wilde Konsumexzess, den das Wachstumsdenken tatsächlich bedeutet, gerade mit unbarmherziger Geschwindigkeit unsere Lebensgrundlagen verschlingt.

Könnte man ja mal auslüften an den Hochschulen und sämtliche neoliberalen Lehrstühle ausräumen.

Wir haben ja schon mehrfach über wesentlich fundiertere und forschungsintensivere Ökonomie-Ansätze geschrieben, als es die neoliberalen sind mit ihren großen mathematischen Wundergleichungen, mit denen die Rechner glauben, den Fortschritt der Welt berechnen zu können.

Aber sie haben mittlerweile gemerkt, dass ihre Rechnungen nicht mehr aufgehen, dass das Wachstumsdenken in eine Sackgasse geführt hat. Selbst innerhalb des neoliberalen Denkgebäudes, was schon ein bisschen verblüfft. Denn ein Kernsatz dieser Lehre lautet: Wohlstand und Vollbeschäftigung gibt es nur mit immer mehr Wachstum. Nur mit immer mehr Wirtschaftswachstum kann man den Laden am Laufen halten. Sinkt das Wachstum des BIP, geraten die Steuereinnahmen ins Rutschen, sinken die Investitionsraten, steigen die Arbeitslosenzahlen – die Krise ist da.

Und wer die Schlagzeilen der letzten Wochen gelesen hat, las ja immer wieder, dass die üblichen Gurus in nächster Zeit eine gewaltige, weltweite Rezession fürchten. Das lesen sie aus den Börsenkursen.

Deswegen ist es durchaus interessant, dass das Institut für Wirtschaftsforschung (IWH) in Halle jetzt an einem millionenschweren EU-Forschungsprojekt zur Produktivität beteiligt ist. Denn Wachstum im Rahmen des BIP bedeutet ja, dass mit einem sinkenden Ressourcenaufwand (Material, Kapital, Arbeitskraft, Energie) immer mehr Güter produziert werden.

Das Verhältnis des Aufwands zum Produktionsergebnis nennt man Produktivität.

Normalerweise ist das eine rein betriebswirtschaftliche Kenngröße, die etwa im Autobau, in der Produktion von Textilien oder Kaffeemaschinen einen Sinn macht. Und schon dort sorgt die Fixierung auf diese Kenngröße oft dafür, dass sich Arbeitsbedingungen und Umweltbelastungen drastisch verschlechtern – denn wenn man Arbeits-, Gesundheits- und Umweltkosten externalisieren kann, erhöht das rechnerisch die Produktivität.

Noch schlimmer wird es, wenn man diese Betrachtungsweise auf Dienstleistungen anwendet. Dann werden die dienstleistenden Menschen selbst zum Optimierungsobjekt und werden in immer „produktivere“ Arbeitsabläufe gezwungen, in denen sie immer mehr in derselben Zeit leisten sollen. Darüber haben wir auch geschrieben.

Udo Köpke hat ja jüngst erst gründlich darüber geschrieben, was für fatale Folgen es hat, wenn unsere Wirtschaftslehrstühle allesamt von neoliberalem Wirtschaftsglauben besetzt sind, der die Welt rein aus betriebswirtschaftlicher Sicht sieht, als würde die Welt wie ein Konzern funktionieren.: „Die Vergötterung der Märkte“.

Das Ergebnis ist: Konzerne bekommen alle Freiheiten der Welt, sich unsere Gesellschaften regelrecht einzuverleiben, jeden staatlichen und privaten Bereich zu durchdringen, zu verwerten und letztlich auszuplündern. Denn nur so setzt man ja die Welt „in Wert“, verwandelt sie in Umsatz und Gewinn. Auch die EU-Kommission steckt in dieser folgenreichen Denkweise fest.

Da verblüfft es nicht, dass sie bereit ist, 3 Millionen Euro dafür auszugeben, das Sinken der Produktivitätsrate in den Industrieländern untersuchen zu lassen. Und so gibt man die Rätselaufgabe aus: Kann es sein, dass wir die Produktivität falsch berechnen?

Und so fragt das IWH in Halle, das mitforschen darf: „Verliert das Produktivitätswachstum in den Industrieländern an Schwung? Und wenn ja, warum? Mit diesen Fragen, die für die gesamte Wirtschaft von zentraler Bedeutung sind, befasst sich das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) ab Jahresbeginn 2019 als Koordinator eines neuen EU-Projekts. Unter dem Titel MICROPROD arbeiten Ökonomen und Statistikexperten neun europäischer Partner für drei Jahre zusammen. Mit einem Gesamtbudget von knapp drei Millionen Euro ist es das bislang größte EU-Projekt am IWH.“

Und da auch das IWH die neoliberale/betriebswirtschaftliche Denkweise von Wirtschaft pflegt, hält man auch an den Stereotypen dieses Denkens fest: „Die westliche Welt steht nicht nur politisch unter Spannung. Verteilungskämpfe innerhalb der Gesellschaft gewinnen an Schärfe, wenn die jährlichen Produktivitätszuwächse in der Wirtschaft nicht mehr groß genug ausfallen. Es ist deshalb auch ein Beitrag zum gesellschaftlichen Zusammenhalt, den das Leibniz-Institut für Wirtschafts­forschung Halle (IWH) mit seinem neuen Forschungsprojekt zum Produktivitätswachstum leistet.

Unter dem Titel MICROPROD leitet das IWH als Projektkoordinator ab 1. Januar 2019 einen Verbund aus neun europäischen Partnern. Die Europäische Union finanziert das Vorhaben über drei Jahre im Rahmen des EU-Forschungsprogramms Horizont 2020 mit knapp drei Millionen Euro. Es handelt sich um das größte EU-Projekt am IWH seit der Gründung des Instituts im Jahr 1992.“

Ob das ein „Beitrag zum gesellschaftlichen Zusammenhalt“ wird, darf wohl bezweifelt werden.

Die Vermutung liegt nahe, dass der Glaube, unsere Wirtschaft könne die Produktivität ins Unendliche steigern, ein Kinderglaube ist.

Aber es glauben sichtlich jede Menge Männer in Instituten, Redaktionen und Führungsetagen daran.

Das IWH: „Gerade vor dem Hintergrund der digitalen Revolution und der Integration in weltweite Wertschöpfungsketten hätte man mit spürbaren Produktivitätszuwächsen in den letzten Jahrzehnten rechnen müssen. Klassische Produktivitätskennzahlen legen nun jedoch nahe, dass das offenbar ausgeblieben ist.“

Nicht erst „nun“. Das Fallen der Rate der Produktivitätszuwächse beobachtet die OECD seit über 20 Jahren. Mit immer höherem Investitionsaufwand werden immer geringere Produktivitätszuwächse erzielt, damit immer geringere Arbeitsplatzzuwächse. Nur der Kapitalstock ist dafür überproportional gestiegen.

Erstaunlich ist nun die Aufgabenstellung: „Untersucht wird im Projekt daher zunächst, ob das Produktivitätswachstum tatsächlich lahmt oder ob die Zuwächse statistisch nicht richtig erfasst werden. Moderne Volkswirtschaften produzieren immer mehr Dienstleistungen und komplexe, schlechter messbare Werte, etwa in Form von Lizenzen und Patenten oder Zulieferketten und Vertriebswegen. MICROPROD wird deshalb unter anderem bislang nahezu ungenutzte Daten von nationalen Statistikämtern aus Europa auswerten. Ziel ist hierbei, die Messung von Produktivität statistisch und methodisch weiterzuentwickeln. Das Statistische Bundesamt in Wiesbaden ist Teil des Projektteams.

Im zweiten Schwerpunkt will MICROPROD die Determinanten von Produktivitätswachstum besser verstehen. Die Forscher fokussieren dabei die wirtschaftliche Mikroebene, also einzelne Firmen und Personen – daher der Projektname MICRO­PROD. Aus diesen Erkenntnissen wollen sie dann politikrelevante Erkenntnisse für gesamte Volkswirtschaften (Makroebene) gewinnen. Ein zentraler Aspekt ist dabei, ob es trotz Fachkräftemangel und Niedrigzinspolitik weiterhin gelingt, dass Arbeitskräfte und Kapital zu den produktivsten Betrieben wandern.

Aus dem Projekt können sich Antworten unter anderem auf folgende Fragen ergeben: Wie entsteht Produktivitätswachstum im 21. Jahrhundert? Wie stark behin­dern niedrige Zinsen und in Schieflage geratene Banken den Marktaustritt unproduktiver Betriebe? Welche Anpassungslasten für die Beschäftigten entstehen durch Globalisierung und technologischen Wandel? Und welche Rahmenbedingungen müssen gesetzt werden, damit gute Ideen auch die nötigen Ressourcen erhalten?“

Allein über den Satz zur Produktion von Dienstleistungen könnte man eine Menge schreiben. Als wäre Dienstleistung auch wieder nur ein Produktionsbetrieb für Konsumwaren: Patente, Lizenzen und dergleichen.

„Mit besseren Daten wollen wir in ein neues Zeitalter der Produktivitätsmessung vorstoßen“, sagt Steffen Müller, Leiter der Abteilung Strukturwandel und Produktivität am IWH und Projektleiter von MICROPROD. Durch das Vorhaben werde die Forschung am IWH gestärkt und die Vernetzung nach Brüssel ausgebaut.

Institutspräsident Reint E. Gropp ergänzt: „Es ist ein Riesenerfolg, dass das IWH dieses Projekt federführend koordiniert. Das Thema steht im Zentrum unserer Forschungsagenda, weil Produktivität für alle Bereiche der Wirtschaft von großer Bedeutung ist.“

Wer sich Schulen, Gerichte, Hochschulen, Krankenhäuser, Arztpraxen, Pflegedienste usw. anschaut, weiß, dass hier seit über 30 Jahren die „Produktivität“ gesteigert wurde und immer weniger Leute dieselbe Arbeit leisten müssen – überall mit sehr seltsamen Ergebnissen. Die Vermutung liegt nahe, dass sich Projektausschreiber und IWH irren, dass die Fixierung auf „Produktivität“ das größte Problem im derzeit herrschenden Wirtschaftsverständnis ist und dass Staaten sogar beginnen zu zerrütten, wenn sie die betriebswirtschaftliche Fixierung auf Produktivität zum alleinigen Maßstab für Wirtschaftshandeln machen.

Und dann teilt das IWH auch noch mit: „Den Transfer der wissenschaftlichen Erkenntnisse in Politik und Öffentlichkeit verantwortet im Projektteam der Brüsseler Thinktank Bruegel.“

Das ist wieder so ein typisches Brüsseler Konstrukt aus staatlich-privater Partnerschaft. Staaten sitzen mit Banken, Konzernen und Wirtschaftsinstituten an einem Tisch. Betriebswirtschaft vermischt sich mit Volkswirtschaft. Wachstumsglaube mit der seltsamen Überzeugung, „Arbeitskräfte und Kapital“ müssten unbedingt „zu den produktivsten Betrieben“ wandern. Das tun sie ja sowieso, denn die „produktivsten Betriebe“ werfen ja die größten Renditen ab.

Die Arbeitskräfte aber fehlen da, wo die wirklich gesellschaftlich notwendigen Arbeiten verrichtet werden. Und sie leiden unter der schlichten Tatsache, dass die politisch geforderte Produktivitätssteigerung immer auf ihre Knochen und ihre Gesundheit geht.

Wir leben im falschen Wachstumsglauben. Und der Glaube, man könne Produktivitätszuwächse immer weiter erzeugen, dürfte sich als eine gewaltige Schimäre erweisen.

Partner des EU-Forschungsprojekts MICROPROD („Raising EU Productivity: Lessons from Improved Micro Data“):

Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH), Deutschland (Leitender Projektkoordinator)
Aarhus Universitet, Dänemark
Università Commerciale Luigi Bocconi, Italien
Bruegel, Belgien
Magyar Tudományos Akadémia Közgazdaság– és Regionális Tudományi Kutatóközpont, Ungarn
École d’Économie de Paris, Frankreich
Stichting VU, Niederlande
Statistisches Bundesamt, Deutschland
University College London, Großbritannien

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