Eine Meldung aus dem Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig liegt jetzt schon ein paar Tage hier herum und bereitet Kopfzerbrechen. Weil auf den ersten Blick nicht wirklich klar ist, was die Forscher da herausgefunden haben. Und das beginnt schon mit dem ersten Satz: „Wie wir auf Menschen in Not reagieren, zeigt sich bereits daran, wie wir als Babys auf ängstliche Gesichter reagiert haben.“

Tatsächlich? Der Zweifel liest von Anfang an mit.

Aber so zeige es eine Studie des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig und der Universität von Virginia in Charlottesville, USA, schreibt das Institut, in dem vor allem erforscht wird, wie wir eigentlich denken und warum wir so denken, wie wir denken.

Das ist nämlich die Ur-Frage. Die meisten Leute denken nicht mal drüber nach, bleiben bestenfalls bei dem Spruch „Cogito ergo sum“ hängen, der das von Descartes geprägte „ego cogito, ergo sum“ auch noch verknappt. Der Spruch wird meist flapsig mit „Ich denke, also bin ich“ übersetzt, müsste aber laut Rudolf Carnap richtiger heißen: „Ich denke, also gibt es etwas Denkendes“.

Der Denkende kriegt mit, dass da etwas denkt. Dass seine Wahrnehmung von der Welt und von sich selbst das Ergebnis eines Prozesses ist, der in seinem Kopf stattfindet.

Und da alles, was wir sehen und wahrnehmen, durch unseren Kopf muss, dort als „Bild“ erst einmal entziffert und gespeichert werden muss, hat auch Altruismus etwas mit diesem Prozess im Kopf zu tun. Und da ist man dann bei der Überlegung: Kann es sein, dass wir Menschenliebe und Hilfsbereitschaft in frühester Kindheit lernen? Und zwar so früh, dass wir später gar nicht mehr wissen, dass es ein Lernprozess war? Und dass er bei manchen von uns zu falschen Ergebnissen geführt hat?

Und da kommen wir jetzt zum Text.

„Altruistisches Verhalten wird als eine der wesentlichen Voraussetzungen für Kooperation in menschlichen Gesellschaften gesehen. Altruismus bezeichnet dabei ein soziales Verhalten gegenüber einer anderen Person, mit der wir weder verwandt sind noch in einem anderen engen sozialen Verhältnis stehen, ohne dass wir einen direkten persönlichen Nutzen oder Gegenwert erwarten.

Dennoch variiert diese Tendenz, sich altruistisch zu verhalten, zwischen einzelnen Menschen sehr stark. Während es bei einigen besonders deutlich ausgeprägt ist, etwa bei jenen, die einem Unbekannten eine Niere spenden, scheint es bei anderen, etwa antisozialen Psychopathen, kaum vorhanden zu sein“, schreibt das Institut zum Ergebnis der jetzt vorgelegten Studie.

So weit so einfach. Die Mehrzahl der Menschen ist fähig zu Mitgefühl und Nächstenliebe. Das ist die Grundlage unseres sozialen Zusammenlebens.

Aber ein nicht wirklich kleiner Teil hat da augenscheinlich einen Filter im Kopf, bringt überhaupt kein Mitgefühl auf und walzt selbst da egoistisch durch die Landschaft, wo andere Menschen eigentlich seine Hilfe brauchten.

„Bisher war wenig darüber bekannt, wann im Laufe des Lebens sich welche Tendenz herausbildet. Frühere Studien haben jedoch bereits belegt, dass Menschen, die sensitiver auf angstverzerrte Gesichter reagieren, sich gleichzeitig prosozialer verhalten – und das bereits im Vorschulalter. Damit scheint die unterschiedliche Reaktion von Kindern auf ängstliche Gesichter eine Möglichkeit zu sein, die Vorstufen altruistischen Verhaltens zu untersuchen“, beschreibt das Institut den Ansatz der Studie.

„Um dieser Frage nachzugehen, nutzte ein Team des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften (MPI CBS) in Leipzig und der Universität von Virginia in Charlottesville, USA, das sogenannte Eye Tracking. Dabei werden die Blickbewegung der Kleinen gemessen, während sie ängstliche, fröhliche oder wütende Gesichter zu sehen bekommen. Die Forscher beobachteten zunächst, wie Babys im Alter von sieben Monaten auf diese Gesichter reagierten.

Sieben Monate später untersuchten sie wiederum in einem Test, wie prosozial sich die Kleinen verhalten – und ob es dabei möglicherweise einen Zusammenhang mit ihrer Reaktion auf die Gesichter gibt. Dazu ließ der Versuchsleiter einen Gegenstand vom Tisch fallen und wartete ab, ob ihm das Kleinkind zu Hilfe eilt, um ihn wieder aufzuheben“, geht die Beschreibung weiter.

„Und tatsächlich: Anhand der Reaktion der Kleinen auf ängstliche Gesichter im Alter von sieben Monaten konnten die Wissenschaftler voraussagen, wie hilfsbereit sich die Kinder sieben Monate später zeigen würden. Und nicht nur das: Diese Unterschiede spiegelten sich sogar in ihren Hirnaktivitäten wider. Babys, die stärker auf die ängstlichen Gesichtsausdrücke reagierten und sich demzufolge einige Monate später als prosozialer herausstellten, zeigten andere Muster im sogenannten dorsolateralen präfrontalen Cortex als die weniger prosozialen. Diese Zusammenhänge zeigten sich wiederum nicht, wenn sie mit fröhlichen oder wütenden Gesichtern konfrontiert wurden.“

„Unsere Ergebnisse offenbaren, dass bereits in unserer sehr frühen Entwicklung anhand unserer Reaktion auf hilfebedürftige Menschen und unserer Hirnaktivitäten erkennbar wird, wie unterschiedlich stark sich altruistisches Verhalten bei uns später ausprägen wird“, kommentiert Tobias Grossmann, Studienleiter und Erstautor der zugrunde liegenden Studie, die aktuell im Fachmagazin „PLOS Biology“ erschienen ist. „Außerdem wissen wir nun, dass unsere Reaktion auf Menschen mit Angst eine Vorstufe von altruistischem Verhalten bildet.“

Das heißt: Die Gehirnareale, die altruistisches Verhalten befördern, bilden sich früh aus – irgendwann zwischen Geburt und siebentem Lebensmonat. Irgendwann in dieser Zeit lernen Kinder emotional auf bestimmte Gesichtsausdrücke zu reagieren. Was ja auch vielen nicht bewusst ist: Wir lernen in frühester Kindheit das Lesen von Gesichtern. Darauf sind wir zwingend angewiesen, denn der Gesichtsausdruck anderer Menschen zeigt uns, ob wir uns in Acht nehmen müssen, ob wir auf Abwehr stoßen oder Freude, auf Bosheit oder auf Hilfebedürftigkeit.

Und es deutet einiges darauf hin, dass manche Kinder eben in diesen frühen Monaten etwas Falsches lernen. Was einen an die Analyse von Anne Kratzer in der „Zeit“ erinnert: „Warum Hitler bis heute die Erziehung von Kindern beeinflusst“.

Denn wenn Eltern gelernt haben, auf ihre Kinder falsch zu reagieren – zum Beispiel, weil ein Staat die starken emotionalen Bindungen früh schon unterbinden will – dann stimmt das, was die Babys in diesen ersten Monaten lernen, nicht mit den wirklichen Empfindungen, die sie später sehen, überein. Dann entwickeln sie keine Empathie, wenn eigentlich Empathie gebraucht wird. Und das Gelernte ist so grundlegend, dass sie auch dann nicht reagieren, wenn Hilfe und ihr Einfühlungsvermögen für andere Kinder ganz selbstverständlich sind.

Nicht alle werden dann rücksichtlose Narzissten oder Homophobe (wobei der Verdacht naheliegt, dass gerade sie an diesem Lerndefekt leiden), viele werden auch zutiefst verunsicherte Menschen, die zwar entsprechende Gefühle der Hilfsbereitschaft haben, aber gleichzeitig das mitgelernte „Obacht! Halt dich lieber zurück!“ als Bremse im Kopf.

Die Kognitionsforscher haben hier also eigentlich ein riesiges Forschungsfeld erst einmal aufgetan, auf dem sie möglicherweise wirklich die Lernprozesse erkennen, die uns zu sozialen und vor allem altruistischen Wesen machen. Und auf dem wohl auch zu lernen ist, warum manche Menschen diesen Zugang zu vertrauten Gefühlen nicht finden, möglicherweise auch die zugehörigen starken Emotionen nicht abrufbar haben. Und was das auch mit Eltern zu tun hat, die selbst schwierige Kindheiten durchgemacht haben.

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