Egal, wo man hinschaut, werden die Folgen eines ziemlichen radikalen Denkens sichtbar, das sämtliche gesellschaftlichen Funktionen glaubt, dem Sparprinzip unterwerfen zu müssen. Die vielen Kreis- und Funktionalreformen auch in Sachsen gehören dazu. Das Ergebnis ist ein rapider Bedeutungsverlust vieler Kleinstädte – und eine wachsende Distanz der Bürger zur eigenen Demokratie. Was jetzt auch Karten aus dem IfL Leipzig zeigen.

In fast jeder dritten deutschen Stadt zwischen zehn- und zwanzigtausend Einwohnern hat sich das Angebot öffentlicher Dienstleistungen seit der Jahrtausendwende verschlechtert. Vor allem Kleinstädte in Ostdeutschland sind von der Schließung wichtiger Einrichtungen aus den Bereichen Verwaltung, Bildung, Kultur und Gesundheitswesen betroffen. Aber auch Hessen gehört im Ländervergleich zu den Verlierern. Darauf weist eine Studie hin, die das Leibniz-Institut für Länderkunde (IfL) jetzt in seinem Webangebot „Nationalatlas aktuell“ veröffentlicht hat.

Von 478 in die Untersuchung einbezogenen Kleinstädten haben in den vergangenen Jahren 148 Städte an zentralörtlicher Bedeutung verloren. Lediglich 46 Städte verzeichneten einen Bedeutungsgewinn. Für 269 Städte ergab sich keine Veränderung. Das zeigt der Vergleich der aktuellen Auswertung mit den Ergebnissen einer IfL-Studie aus dem Jahr 2001. Typisiert wurden die Städte in beiden Erhebungen über die Ausstattung mit Einrichtungen, die über die allgemeine Grundversorgung der Bewohner hinausgehen. Als Indikatoren verwendeten die IfL-Wissenschaftler Amtsgerichte und Kreisverwaltungen, Gymnasien und Volkshochschulen sowie Krankenhäuser beziehungsweise Kliniken mit stationärer Behandlung.

Die Bedeutungsverluste vergleichsweise vieler Kleinstädte in Ostdeutschland führen die Autoren der Studie zu einem guten Teil auf die jüngste Kreisgebietsreform zurück. Betroffen sind Sachsen-Anhalt und Sachsen sowie in besonderem Maß Mecklenburg-Vorpommern mit dem deutschlandweit stärksten Rückgang von zentralörtlichen Funktionen in Kleinstädten. In Sachsen fand die große Funktionalreform 2008 statt, als zum Beispiel die Landkreise Torgau-Oschatz und Delitzsch zum Großkreis Nordsachsen zusammengelegt wurden.

Die sächsische Staatsregierung, die diese Kreisfusionen forcierte, versprach sich davon massive Einsparungen. Da diese „Kreisreform“ aber parallel lief mit Schulschließungen und der radikalen „Polizeireform 2020“ im Jahr 2011, bekamen die betroffenen Menschen vor Ort gleich mehrfach zu spüren, wie sich die Lebensqualität in ihrem Umfeld verschlechterte und wichtige Dienstleistungen verschwanden.

Im ländlich geprägten Mecklenburg-Vorpommern verloren zwei Drittel der Städte zwischen zehn- und zwanzigtausend Einwohnern ihren Kreissitz, viele Amtsgerichte wurden geschlossen. Auffällige Verluste fanden die Wissenschaftler zudem in den hessischen Städten, wo sich die Zahl der Amtsgerichte um die Hälfte und die Zahl der Gymnasien um ein Drittel verringert hat. Ihre Funktion als regionale Zentren stärken konnten vor allem Kleinstädte in Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg, hauptsächlich durch den Ausbau von Bildungseinrichtungen.

Letzteres auch in Sachsen ein Streitthema bis heute. Den Rückzug des Staates aus der Fläche bezeichnen die Autoren der Karte zu Recht als bedenklich. „Dies ist umso bedenklicher, als eine der wichtigsten gesellschaftspolitischen Zukunftsaufgaben die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in ganz Deutschland ist. Dabei kommt es aus Sicht der Raumordnung und Landesplanung insbesondere auf die zentralörtliche Ausstattung von Kleinstädten in ländlichen Räumen an. Eine bürgernahe Verwaltung, gut erreichbare hochwertige Bildungsangebote und eine umfassende medizinische Versorgung sind grundlegend für die Realisierung dieses politischen Handlungsziels.“

Und natürlich für die Entscheidung von Menschen, sich anzusiedeln und Familien zu gründen. Das tut man immer mit Rücksicht auf die Nähe von wichtigen Strukturangeboten – vom Arzt über die Kita, die Schule bis hin zu Polizei und Amtsverwaltung.

Der Wegfall wichtiger Versorgungsangebote in Kleinstädten beruht nach Auffassung der IfL-Wissenschaftler zu einem guten Teil auf politischen Entscheidungen. Sie stünden oft im Widerspruch zu der wichtigen gesellschaftspolitischen Aufgabe, gleichwertige Lebensverhältnisse in allen Teilräumen herzustellen. Dazu sei es notwendig, die Lebensqualität in den Kleinstädten zu fördern und zentralörtliche Versorgungseinrichtungen in den ländlichen Regionen auszubauen.

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