Etwas Seltsames haben Leipziger Forscher in diesem Jahr über unser Sozialverhalten herausbekommen. Sozialverhalten kommt ja nicht ohne Vorstellungen von Richtig und Falsch aus. Und es gibt in sozialen Gruppen auch Regeln, wie diese Vorstellungen durchgesetzt und gelernt werden. Ganz kleine Kinder wissen noch nichts davon. Aber wenn sie dann fünf, sechs Jahre alt sind, dann wissen sie wirklich, wann es an der Zeit ist, einen Tunichtgut zu bestrafen.
Damit wir in Gemeinschaften zusammenleben können, müssen wir miteinander kooperieren. Aber das akzeptieren nicht alle Mitglieder unserer Gesellschaft. Das war auch schon vor 10.000 Jahren ein Problem. Und wahrscheinlich auch vor 1 Million Jahre. Es gibt immer wieder Individuen, die sich ganz bewusst nicht an die Regeln halten und damit die ganze Gruppe in Gefahr bringen. Da muss man nicht nur an Mörder und Vergewaltiger denken. Da darf man ruhig auch an Diebe, brutale Egomanen, Lügner und Betrüger denken.
Aber was tun mit diesen Typen, die auch nicht aufhören, wenn man an ihr Gewissen appelliert?
Um das friedliche Zusammenleben zu organisieren, geht es augenscheinlich ohne Strafe nicht. Zumindest nehmen das die Forscher an, die sich nun seit Jahren mit diesem Thema beschäftigen. Wir bestrafen Mitmenschen, wenn sich diese unkooperativ verhalten.
Sind wir wirklich voller Schadenfreude?
Aber dabei spielt natürlich auch die friedliche Gruppe eine Rolle. Wie geht die eigentlich damit um, wenn Bösbuben vor aller Augen ihre Strafe bekommen?
Bisher war unklar, wann sich in uns der Antrieb entwickelt, so ein delinquentes Verhalten zu bestrafen – und ob diese Eigenschaft eine rein menschliche ist. Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts (MPI) für Kognitions- und Neurowissenschaften und des MPI für evolutionäre Anthropologie – beide in Leipzig ansässig – haben nun herausgefunden, dass bereits sechsjährige Kinder und Schimpansen unsoziales Handeln rügen wollen – und dafür sogar bereit sind, Kosten und Mühen auf sich zu nehmen, um selbst dabei sein zu können, wenn derjenige bestraft wird.
Aber belastet uns so etwas nicht? Gerade wenn wir noch nicht hartgesotten und gefühllos sind? Wenn wir einen anderen leiden sehen, fühlen wir uns in der Regel unwohl und wollen ihm helfen.
Dieses Gefühl kann sich jedoch auch ins Gegenteil umkehren. Wenn sich eine Person zuvor unsozial verhalten hat, kann es sogar vorkommen, dass wir freudig beobachten, wie ihr Schmerzen zugefügt werden, stellen die Forscher fest. Aus früheren Studien ist bekannt, dass wir ihr Leid dann als verdiente Strafe und ein Mittel ansehen, ihr Fehlverhalten zu ahnden. Und nicht nur das: Wir empfinden Schadenfreude, wenn wir der Maßregelung zuschauen.
Einige von uns wollen tatsächlich, dass ertappten Bösewichten ganz öffentlich ein Leid zugefügt wird. Das scheint irgendwo in uns angelegt zu sein. Aber wo?
Bisher war nur wenig über den evolutionären Ursprung dieser Verhaltensweise bekannt. Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts (MPI) für Kognitions- und Neurowissenschaften aus der Abteilung Soziale Neurowissenschaften gingen daher gemeinsam mit Kollegen des MPI für Evolutionäre Anthropologie der Frage nach, in welchem Alter sich bei uns die Motivation entwickelt, einer aus unserer Sicht verdienten Strafe zuzusehen – und ob diese Eigenschaft sogar bereits bei Schimpansen als unseren nächsten Verwandten vorhanden ist.
Puppentheater als Experimentierbühne
Um das Verhalten der Kinder zu untersuchen, nutzten die Forscher ein Puppentheater, in dem nacheinander zwei Charaktere mit unterschiedlichen sozialen Rollen auftraten. Eine freundliche Figur, die ihnen ihr Lieblingsspielzeug zurückgab, oder eine bösartige Puppe, die es für sich behielt. Dazu ein Tier, das die strafende Rolle übernahm und vorgab, die beiden mit einem Stock zu schlagen. Die kleinen Zuschauer im Alter zwischen vier und sechs Jahren konnten nun entscheiden, ob sie die vorgetäuschten Schläge weiter mitverfolgen wollen, indem sie mit einer Münze dafür bezahlten. Oder ob sie lieber darauf verzichteten und das Geldstück in Sticker eintauschten.
Und tatsächlich: Im Falle der gutgesinnten Figur lehnten es die Kinder in der Regel ab, dabei zuzusehen, wie sie leidet. Ging es jedoch an den Bösewicht, verzichteten unter den Sechsjährigen signifikant viele auf die Sticker und investierten ihre Münzen lieber dafür, seine Bestrafung mitzuerleben. Und nicht nur das: Sie erlebten sogar regelrechte Freude, als sie ihn leiden sahen, ausgedrückt in ihrer Mimik. Bei den vier- und fünfjährigen Zuschauern zeigte sich dieses differenzierte Verhalten gegenüber den beiden gegensätzlichen Figuren noch nicht.
Schimpansen im Leipziger Zoo zeigen Mitgefühl
Ähnliches beobachteten die Wissenschaftler auch bei den Schimpansen. Deren Ambitionen, unsoziales Verhalten zu bestrafen, testeten sie im Forschungsbereich des MPI EVA des Leipziger Zoos mithilfe zweier Pfleger, die ebenfalls in die beiden gegensätzlichen sozialen Rollen schlüpften – die prosoziale und die antisoziale. Während der eine den Tieren stets ihr Futter gab, nahm der andere es ihnen wieder weg. Eine weitere Person gab daraufhin vor, beide mit einem Stock zu schlagen. Auch hier nahmen signifikant viele Schimpansen Mühe und Kosten auf sich, um mitzuerleben, wie der ungeliebte Pfleger bestraft wird. Sie hatten dafür eine schwere Tür zu einem Nebenraum zu öffnen, von wo aus sie die Szenerie beobachten konnten. Im Falle der freundlichen Person verzichteten sie hingegen darauf. Vielmehr protestierten sie sogar lautstark dagegen, dass ihm Schmerzen zugeführt würden.
Das Fazit
„Unsere Ergebnisse zeigen, dass bereits sechsjährige Kinder und sogar Schimpansen ungerechtes Verhalten bestrafen wollen und einen Drang verspüren zu beobachten, wie andere für ihr unsoziales Verhalten bestraft werden. Hier liegen also die evolutionären Wurzeln für diese Verhaltensweise, die ganz wesentlich ist, um das Leben in Gemeinschaften zu organisieren“, erklärt Natacha Mendes, Wissenschaftlerin am MPI CBS und eine der beiden Erstautoren der zugrunde liegenden Studie, die gerade im renommierten Fachmagazin „Nature Human Behaviour“ erschienen ist.
„Wir können zwar nicht eindeutig sagen, ob die Kinder und die Affen dabei tatsächlich Schadenfreude empfinden. Ihr Verhalten ist aber ein eindeutiges Zeichen dafür, dass sowohl Kinder ab einem Alter von sechs Jahren als auch Schimpansen den Drang haben, dabei zuzusehen, wie andere für ihr unkooperatives Verhalten bestraft werden“, ergänzt Nikolaus Steinbeis, ebenfalls Erstautor der Studie und Wissenschaftler am MPI CBS sowie des University College in London.
Was wir trotzdem nicht wissen
Natacha Mendez benennt zwar, „dass bereits sechsjährige Kinder und sogar Schimpansen ungerechtes Verhalten bestrafen wollen“ und irgendwie eine Befriedigung dabei empfinden, wenn die Bestrafung auch vor ihren Augen vollzogen wird. Aber dass es Menschenkinder genauso wie Schimpansen betrifft, sagt noch nichts darüber aus, woher diese Emotionen kommen, ob Gerechtigkeitsempfinden gar etwas Angeborenes ist oder zum größten Teil Ergebnis der frühen Sozialisierung in der Gruppe. Man weiß jetzt, dass es dieses Regulativ in den Gruppen von Menschenaffen und Menschen gleichermaßen gibt. Aber man weiß nicht, wie es in die Individuen kommt.
Was übrigens eine ganz moderne Frage ist. Denn man muss ja nur allerlei Sender anschalten oder Zeitungen aufschlagen, um zu sehen, wie viele Menschen augenscheinlich vor aller Augen gegen soziale Regeln verstoßen, ohne dabei ein schlechtes Gewissen zu haben. Es gibt also sichtlich Exemplare der Gattung homo, die überhaupt kein Gerechtigkeitsempfinden haben und die auch einer öffentlichen Bestrafung entkommen. Ist das ein Webfehler? Eine falsche genetische oder hormonelle Einstellung? Oder eher ein Versagen in der Sozialisation dieser Menschen?
Und – wenn das so ist: Wird das eigentlich schlimmer, wenn gerade Vorbildpersonen immer häufiger Regeln brechen und damit neue Normen setzen? Wird dadurch nur unser Gerechtigkeitsempfinden gestört oder verändert sich das Gleichgewicht in der ganzen Gruppe und die Menschheit ist gerade dabei, die Vorteile ihrer sozialen Regularien zu verlieren?
Nur so als Frage. Das könnte auch die heutige SPD in der mehr oder weniger kleinlauten Gerechtigkeitsdebatte interessieren.
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