Vielleicht sollten Wissenschaftler lieber keine Ratschläge geben, was vielleicht getan werden sollte, um die „regionale Polarisierung“ in Europa zu beenden. Jedenfalls nicht in einem so frühen Stadium der Forschung, in dem sich die Untersuchung der regionalen Ungleichheiten noch befindet. Vielleicht ist das der Grund, warum die Pressekonferenz zur Leipziger RegPol²-Konferenz so unkonkret und enttäuschend war.
Immerhin geht es um ein EU-Forschungsprojekt, finanziert mit 3,1 Millionen Euro. Und natürlich um die Hoffnung der geldgebenden Politik auf praktikable Antworten und Lösungsvorschläge.
Die es natürlich geben kann. Im Projekt ist das sogar das erklärte Ziel. Aber da haben die Projektmacher die notwendige Arbeit völlig unterschätzt. Denn all ihre Daten, die sie gesammelt haben, beschreiben erst einmal nur einen Zustand, das Ergebnis einer jahrelangen Fehlentwicklung, deren Ursache sie zu Recht in neoliberalem Politikverständnis verorten.
Das Forschungsprojekt beschäftigt sich zwar vorrangig mit Mittel- und Nordosteuropa. Ostdeutschland spielt auch eine Rolle.
Aber schon der simple Blick in die täglichen Nachrichten zeigt, dass es dieselben Probleme auch in Katalonien, Griechenland, Süditalien, Nordfrankreich gibt. Es sind keine politischen Empfindlichkeiten, sondern erlebte Realitäten, die die Menschen entweder fliehen lassen aus diesen abgehängten Regionen – oder eben zu Wählern radikaler Protestparteien machen. Dass diese Protestparteien fast alle stramm rechtsradikal sind, hat mit einem ganz zentralen Effekt neoliberalen Denkens zu tun: der Zentralisierung von Politik.
Und die EU steht exemplarisch für diese Zentralisierung und damit Anonymisierung von Politik. Irgendjemand trifft da oben in Brüssel oder anderswo Entscheidungen, die das Leben noch in der letzten Provinz beeinflussen. Aber der Jemand ist nicht greifbar. Er existiert nur als Projektionsfläche, die sich für alles Mögliche eignet. Auch für politischen Unmut, der aus ganz anderen politischen Ursachen herrührt. Denn die EU ist zwar institutionell extrem zentralisiert und kennt keine EU-Regionalregierungen. An deren Stelle gibt es noch die alten Nationalregierungen, die ihrerseits Zentral-Politik betreiben.
Und das ist die Stelle, an der die Analyse des Forschungsprojekts ins Leere führt. Denn wenn man als Ursache des europäischen Auseinanderdriftens den Neoliberalismus ausgemacht hat, dann muss man ihn in all seinen Wirkungen in der Politik untersuchen. Denn er wirkt in allen Politikfeldern, bis hinein in ein falsch verstandenes Wettbewerbsdenken – das sich (das ist das Verblüffende) in den Rettungsvorschlägen der Konferenz wiederfindet.
Thilo Lang, Forscher vom Leibniz-Institut für Länderkunde, nannte in der Konferenz ganz exemplarisch den Umgang mit Griechenland als falschen Umgang mit einer ganzen europäischen Region. Die Entscheidungen fällte eine von niemandem gewählte Troika, die das Land behandelte wie einen „Schuldner“ – und nichts anders. Die meisten Sachsen wissen, wie man dann behandelt wird. Sachsen gehört innerhalb Deutschlands zu den Bundesländern mit der höchsten Schuldnerquote. Und die Gründe dafür waren keine teuren Jachten, Häuserkäufe oder opulente Kunstankäufe, sondern in der Regel deprimierende Alltagssorgen: Arbeitslosigkeit, Krankheit, Scheidung usw. Und – nicht zu vergessen – hundsmiserabel niedrige Einkommen.
Daran hat sich (trotz aller Berliner Schönmalereien) nichts geändert. Auch deshalb gärt und wütet es in der sächsischen Provinz. Nicht einmal nur aus Armutsgründen, aber auch wegen eines eklatanten Gefühls fehlender politischer Partizipation und abgebauter Solidarität.
Ich erwähne es an der Stelle einfach mal: Genau dieselben Leiden haben alle europäischen Staaten.
Und da sich auch Jean-Claude Juncker so benommen hat wie Angela Merkel, schauen alle auf Brüssel und glauben, dort läge das Problem.
Liegt es aber nicht.
Deswegen werden auch alle Lösungsvorschläge, die die Leipziger Konferenz gemacht hatte (siehe unterm Text) nichts helfen, werden wieder nur Placebos sein und eine Politik kaschieren, die schlicht nicht funktioniert. Zumindest nicht im Sinn der EU-Bürger. Im Sinn anderer Leute funktioniert sie schon. Denn Neoliberalismus ist nun einmal ein radikales Wettbewerbsdenken, dem funktionierende Strukturen völlig egal sind.
Und nicht nur die EU-Kommission ist damit durchdrungen. Fast alle regionalen Regierungen sind es auch. Manche selbst gezwungenermaßen, wenn man an die Regierungen Osteuropas denkt – anders hatten sie überhaupt keine Chance, überhaupt auch nur einen Teil der europäischen Wirtschaftskraft in ihren zentralen Regionen anzusiedeln.
Mit fatalen Folgen. Denn das hilft dem gesamten Land nicht. Weite Teile dieser Länder sind weiterhin abgehängt, deindustrialisiert und zunehmend entvölkert, weil Menschen immer wirtschaftlich denken müssen. Sie müssen ihren Lebensunterhalt sichern und ziehen gezwungenermaßen dort hin, wo irgendwie (noch) die Chance besteht, eventuell einen Hausstand und eine Familie gründen zu können.
Oder mal so formuliert: Das radikale Wettbewerbsdenken in Europa hat nicht nur Regionen in einen harten Boxkampf gegeneinander geschickt, in dem man sich gegenseitig mit Löhnen und Steuersätzen unterbot, es hat auch dazu geführt, dass ein Heer von Billiglöhnern aufbrach, um irgendwie an einem der im Wettbewerb noch erfolgreichen Hotspots anzudocken.
Thilo Lang nannte die Polen, die in Spanien und England ihr Glück gesucht haben und nun ausgerechnet in England erleben, wie sich das Unbehagen der „Eingeborenen“ im Brexit gegen sie gekehrt hat. Da bleibt von der europäischen Freizügigkeit nichts übrig.
Aber wir müssen nicht nach England oder Polen schauen. Welche Sogwirkungen Wettbewerbsungleichgewichte ausüben, haben die Ostdeutschen gleich nach 1990 erlebt. Über 3 Millionen packten im Lauf der ersten zehn Jahre ihre Koffer und zogen der Arbeit hinterher in den Westen. In den letzten zehn Jahren fassten wichtige Metropolkerne wie Berlin, Leipzig und Dresden zwar wieder Tritt – aber jetzt wandern die jungen Landbewohner in diese Großstädte. Der Verlust an Hoffnung in den ländlichen Regionen wird immer spürbarer, denn wenn die jungen Familien fehlen, beginnt auch jedes Mal der Rückbau von Infrastrukturen: ÖPNV, Schulen, Kitas, Ärztepraxen usw.
Aber was diese reine demografische Entwicklung nicht zeigt, das ist die Macht, die dahintersteckt. Und diese Macht ist eine rigorose Umverteilung, die sich meist hinter politischen Frames wie Steuersenkung, Liberalisierung, Deregulierung verbirgt.
Nicht zu vergessen die „strenge“ Seite des Neoliberalismus, die sich in „wettbewerbsschwachen“ Regionen sofort fatal auswirkt. Das ist die sogenannte Austeritätspolitik, die Städte, Regionen und Länder wie Schuldner behandelt und rigoros die „Schulden“ eintreibt bzw. die Zuwendungen und Förderungen kürzt. Denn wenn „der Staat“ sich scheinbar Dinge und Dienstleistungen „nicht mehr leisten kann“, werden sie gestrichen. In Sachsen fast in Reinform praktiziert, als Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) sein Ziel verkündete, das Landespersonal von 85.000 auf 70.000 eindampfen zu wollen. Die meisten Sachsen begriffen damals nicht einmal, dass es hier vor allem um Lehrer, Polizisten, Planer, Richter und Staatsanwälte ging.
Dass der Staat Sachsen heute nicht mehr richtig funktioniert, hat genau damit zu tun. Und dass weite Landstriche und große Bevölkerungsgruppen das Gefühl haben, abgehängt zu sein und keinen Einfluss mehr auf die Politik in ihrem Lebensumfeld zu haben, ist Ergebnis dieser Politik. Denn wenn Politik nicht mehr Gestaltungstraum der direkt von ihr Betroffenen ist, wird sie zu einem Raum der Unruhe und der haltlosen Wut.
Daher ist das, was die Geografen nun zusammengetragen haben, gerade einmal die Beschreibung eines demografischen Zustands, ohne die eigentlichen Ursachen wirklich zu erfassen. Entsprechend kleinformatig (und wohl auch unwirksam) sind die Vorschläge.
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Ergebnisse des Forschungsprojekts als knappe Ãœbersicht:
„In den vergangenen Jahren ist in Europa eine anhaltende Schieflage zwischen schnell wachsenden Städten und Regionen einerseits und häufig peripher liegenden strukturschwachen Regionen andererseits zu beobachten. Dies hat eine Reihe von Ursachen, die in dem Projekt „Socio-economic and Political responses to Regional Polarisation in Central and Eastern Europe“ (RegPol²) in den vergangenen vier Jahren in 8 Ländern untersucht wurden.
- In den strategischen Dokumenten der Europäischen Union (Lissabon-Agenda und Europa 2030) wird eine Verschiebung der Prioritäten von „sozialen Gesichtspunkten“ und „Beschäftigung“ zu „Wachstum“ und „Innovation“ beobachtet, mit dem Ziel, die Wettbewerbsfähigkeit Europas im globalen Kontext zu stärken.
- Damit einher geht, dass Kohäsionspolitik, die ursprünglich auf einen Ausgleich zwischen den Regionen und eine Umverteilung der Ressourcen ausgerichtet war, vor allem auf Wachstum fokussiert, was zu wachsenden regionalen Ungleichheiten führt.
- In peripheren Regionen vor allem der neuen EU-Mitgliedsstaaten führen einerseits fehlende Infrastrukturen und personelle Kapazitäten und andererseits unflexible, zentrale Entscheidungsmechanismen und der begrenzte Einfluss regionaler Institutionen dazu, dass innovative und experimentelle Lösungsmöglichkeiten in der Regionalentwicklung kaum stattfinden.
- Strukturschwachen ländlichen Räumen wird aufgrund ihrer geringen institutionellen Dichte eine geringere Innovationsfähigkeit zugesprochen. Die neoliberale Entwicklung führt auch dazu, dass die Regionen für Erfolg oder Misserfolg allein selbst verantwortlich gemacht werden, wobei strukturelle Nachteile ausgeblendet werden.
- Regionalentwicklung wird oft nicht ganzheitlich im Sinne der Gesellschaft betrachtet, sondern fokussiert lediglich auf die wirtschaftliche Wertschöpfung.
- Beispiel Ungarn: Konkrete Ungleichheiten z. B. im Wohnungsmarkt resultieren u. a. aus divergierenden Politiken, die zum einen den Besitz von Wohneigentum auf Basis privater Schulden und damit die besserverdienende Mittelschicht stark unterstützen, während der soziale Wohnungssektor für die unteren Schichten z. B. in Form von öffentlichen Wohnungsunternehmen, der Förderung von gemeinschaftlichen Wohnformen oder staatlichem sozialen Wohnungsbau sehr wenig unterstützt wird.
Um diese Entwicklung der wachsenden Ungleichheiten in Europa zu stoppen, bedarf es einer gemeinsamen Anstrengung von Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Konkret bedeutet dies:
- Die Regionen sollten gegenüber der Zentralmacht der Regierungen in Mittel- und Osteuropa gestärkt werden im Sinne einer aktiven Mitsprache bei politischen Entscheidungen und einem wirklichen Austausch zwischen den Entscheidungsebenen.
- Die Maxime „Wachstum durch Innovation“ ist nicht unbedingt für jede Region die geeignete. Es gibt keine Musterlösung, jede Region hat ihre eigenen spezifischen Stärken, die für eine nachhaltige Entwicklung genutzt werden müssen.
- Kohäsionspolitik sollte sich wieder auf eher traditionelle Felder wie Infrastruktur in weniger entwickelten Regionen, Soziales oder Umweltschutz konzentrieren, während die wirtschaftliche Entwicklung der europäischen Länder durch Innovationspolitiken adressiert wird.
- Zivilgesellschaftliche Akteure sollten stärker in Regionalentwicklung und Regionalpolitik einbezogen werden. Projekte einer nachhaltigen Entwicklung z. B. der Aufbau von Erneuerbaren Energien oder Sozialunternehmen sind nur dann langfristig für die Gesellschaft erfolgreich, wenn diese an der Gestaltung und den Erträgen der Unternehmen beteiligt ist. Dies sollte sich auch in der EU-Regionalförderung widerspiegeln, die derzeit noch zu investiv ausgerichtet ist. Förderinstrumente für lokal verankerte Entwicklungsprojekte und soziale Innovationen sollten weiter ausgebaut werden.
- Auch Räume außerhalb der Agglomerationen müssen als Innovationsräume wahrgenommen werden. Unternehmen in peripheren Regionen sind dann erfolgreich, wenn sie auf breites internes Wissen sowie auf Wissensnetzwerke auf unterschiedlichen Ebenen zurückgreifen können. Demzufolge ist es unabdingbar, den Auf- und Ausbau solcher Netzwerke z. B. durch Förderung und Organisation gemeinsamer Messeauftritte oder den Ausbau der digitalen Infrastruktur zu unterstützen. Ein koordiniertes Vorgehen von Unternehmen, Wirtschaftsförderern, Kammern, Verbänden und Bildungseinrichtungen ist für einen langfristigen Erfolg unabdingbar.
- Die Möglichkeit neue Wege zu gehen, sollte in allen Bereichen (Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft) durch flexibel handhabbare Regelungen und lokale/regionale Budgets in Eigenverantwortung unterstützt werden. Von Vorteil wäre die Ausweitung von Experimentierklauseln, um neue Ansätze ausprobieren zu können. Die dezentralen Organisations- und Entscheidungsstrukturen in Deutschland und Sachsen bieten dafür gute Bedingungen.
- Allerdings scheitern neue Ansätze häufig an den geringen personellen und finanziellen Spielräumen der Verwaltung in strukturschwachen Regionen. Diese sollten daher in ihrer Projekt- und Antragskompetenz unterstützt werden und bei der Identifikation von alternativen Entwicklungspotenzialen, die über investive Maßnahmen und die Infrastrukturförderung weit hinausgehen.
- Es ist wichtig, nicht nur die Probleme einer Region zu sehen, sondern strukturschwache Regionen stärker als Möglichkeitsräume wahrzunehmen und zu vermarkten, in denen alternative Entwicklungsansätze ausprobiert werden können und Innovationen in allen Bereichen möglich sind. Dabei ist neben der Fremd- auch die Binnenwahrnehmung von besonderer Bedeutung.
- Charismatische Führungspersönlichkeiten und eine aktive Imagegestaltung bringen für strukturschwache Regionen die Möglichkeit, Stigmatisierung und Marginalisierung entgegenzutreten und zu überwinden.
- Trotz allem muss Regionen und Kommunen, die vor besonderen finanziellen Herausforderungen stehen, in besonderer Weise geholfen werden.“
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