Über Max Frischs Erzählung „Der Mensch erscheint im Holozän“ haben sich Leser, die ein bisschen was von der Menschwerdung und dem Stand der Paläontologie wussten, 1979 schon gewundert, als das Buch erschien. Aber das ist ja schriftstellerische Freiheit. Tatsache war: Auch damals galt schon die Erkenntnis, dass der moderne Mensch im Pleistozän erschien. Er brauchte nur noch ein bisschen, um auch noch die Zivilisation zu erfinden. Neue Forschungsergebnisse aus Leipzig machen ihn noch älter.
Was nicht überrascht. Gerade am Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie wurden so viele neue Nachweisverfahren systematisch in Anwendung gebracht, dass eigentlich kein hominider Fund weltweit mehr einer Neudatierung und Neueinordnung entkommen kann. Man arbeitet dabei direkt mit ähnlich gelagerten Forschungseinrichtungen in anderen Ländern zusammen. Und wenn sich wieder eine Chance andeutet, eine Fundstätte neu zu vermessen, dann packen die Leipziger Forscher ihre Koffer und fliegen hin.
Eine Fundstätte mit Geschichte
In diesem Fall nach Jebel Irhoud in Marokko. Das ist eine Fundstätte, die zwar schon seit den 1960er Jahren bekannt ist und erforscht wird. Aber jetzt gab sie ein paar neue Daten preis, die die Ursprungsgeschichte des Homo Sapiens – also unserer Menschenspezies – neu datieren und einordnen.
Denn die neuen Fossilien und Steinwerkzeuge aus Jebel Irhoud belegen den Ursprung des heutigen Menschen vor etwa 300.000 Jahren in Afrika. Diese Fossilien sind damit rund 100.000 Jahre älter als die ältesten bislang bekannten Homo-Sapiens-Funde und dokumentieren, dass bereits vor zirka 300.000 Jahren wichtige Veränderungen im Aussehen und Verhalten des modernen Menschen in ganz Afrika stattgefunden haben.
Was aber nur Erkenntnis Nr. 1 ist: Der Homo Sapiens wird damit 100.000 Jahre älter als gedacht. Wir haben also doch ein bisschen länger gebraucht.
Wikipedia kann also demnächst gleich mal den Satz korrigieren: „Ihr zufolge entstand der archaische Homo sapiens in der Zeitspanne zwischen 200.000 und 100.000 Jahren vor heute.“
Und den hier gleich mit: „Die ältesten bislang bekannten Funde des modernen Menschen in Afrika sind rund 195.000 Jahre (Omo 1 und Omo 2) bzw. etwa 160.000 Jahre alt (‚Homo sapiens idaltu‘) und stammen aus dem Nordosten des Kontinents; ob Homo sapiens auch in dieser Region entstand oder ob sein Ursprung im südlichen Afrika liegt, ist derzeit Gegenstand der wissenschaftlichen Diskussion.“
Was erst einmal stehen bleibt, ist die „Out of Africa“-Theorie. Denn die ist auch durch genetische Forschung recht stark belegt. Alles deutet darauf hin, dass der moderne Mensch in Afrika entstand und sich dann ungefähr vor 70.000 Jahren auf den Weg machte und sich auch über die anderen Kontinente ausbreitete.
Ganz Afrika rückt in den Blick
Nur sind jetzt die äthiopischen Funde eindeutig nicht mehr die ältesten.
Rund 300.000 Jahre alt sind die von dem internationalen Forscherteam unter der Leitung von Jean-Jacques Hublin vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie (Leipzig) und Abdelouaded Ben-Ncer vom Nationalen Institut für Archäologie (INSAP, Rabat, Marokko) in Jebel Irhoud (Marokko) gefundenen fossilen Knochen des Homo sapiens und damit die ältesten sicher datierten fossilen Belege unserer eigenen Art – 100.000 Jahre älter als die bis dato ältesten Homo sapiens-Funde in Äthiopien.
Man bleibt also erst einmal in Afrika. Aber nun rückt – nachdem lange Ostafrika als Wiege des modernen Menschen galt – Nordafrika in den Blick.
Die Fundstelle Omo Kibish in Äthiopien ist 195.000 Jahre alt, Herto wird auf 160.000 Jahre datiert. Die meisten Forscher gingen deshalb davon aus, dass alle heute lebenden Menschen von einer Population abstammen, die vor etwa 200.000 Jahren in Ostafrika lebte.
„Wir dachten lange Zeit, dass die Wiege der Menschheit vor etwa 200.000 Jahren irgendwo in Ostafrika lag“, erklärt der Leipziger Paläoanthropologe Jean-Jacques Hublin. „Unsere Daten zeigen aber, dass sich Homo sapiens bereits vor etwa 300.000 Jahren über den gesamten Kontinent ausgebreitet hat. Lange bevor der moderne Mensch Afrika verließ, hat er sich bereits innerhalb Afrikas ausgebreitet.“
Die Fundstelle in Jebel Irhoud in Marokko ist bereits seit den 1960er Jahren für menschliche Fossilien und Steinwerkzeuge bekannt. Die Interpretation dieser Funde wurde allerdings durch eine unsichere Datierung erschwert. Da ist aber, was die technischen Möglichkeiten der Forscher betrifft, in den vergangenen 20 Jahren eine Menge passiert.
Neue Ausgrabungen seit dem Jahr 2004 führten zur Entdeckung weiterer Skelett-Reste des Homo sapiens in Jebel Irhoud – die Anzahl der Fossilien wuchs so von ursprünglich sechs auf 22 an. Die Funde von Jebel Irhoud umfassen die versteinerten menschlichen Überreste von Schädeln, Unterkiefern, Zähnen, und Langknochen von mindestens fünf Individuen und dokumentieren eine frühe Phase der menschlichen Evolution.
Das Team um den Geochronologie-Experten Daniel Richter vom Max-Planck-Institut in Leipzig (jetzt bei Freiberg Instruments GmbH) bestimmte das Alter erhitzter Feuersteine aus den archäologischen Fundschichten mithilfe der sogenannten Thermolumineszenzmethode auf rund 300.000 Jahre.
Daniel Richter erklärt: „Gut datierte Fundstellen aus dieser Zeit sind in Afrika außergewöhnlich selten. In Jebel Irhoud hatten wir Glück, dass so viele Steinwerkzeuge erhitzt worden waren. Deshalb konnten wir die Thermolumineszenzmethode anwenden, um die Fundschichten genau zu datieren“.
Darüber hinaus konnte das Team das Alter eines in den 1960er Jahren gefundenen Unterkiefers aus Jebel Irhoud neu berechnen. Dessen Alter war vor einigen Jahren mittels einer speziellen Elektronen-Spin-Resonanz Datierung auf 160.000 Jahre geschätzt worden. Eine Neuberechnung aufgrund von direkten Messungen der Radioaktivität in Jebel Irhoud ergab jedoch ein deutlich höheres Alter, das mit den Ergebnissen der Thermolumineszenz übereinstimmt.
„Für die genaue Altersbestimmung in Jebel Irhoud haben wir die modernsten Datierungsmethoden und die konservativste Berechnung eingesetzt“, erläutert Daniel Richter.
Die Menschen von Jebel Irhoud sahen uns ähnlich
Die Schädel heute lebender Menschen zeichnen sich durch eine Kombination aus Merkmalen aus, die uns von unseren fossilen Vorfahren und Verwandten unterscheiden: ein kleines Gesicht und einen runden Gehirnschädel. Die Fossilien von Jebel Irhoud haben einen modernen Gesichtsschädel und eine moderne Form der Zähne, und einen großen aber archaisch anmutenden Gehirnschädel. Hublin und sein Team konnten mit modernster Computertomografie (micro-CT) und statistischer Analysen der Schädelformen auf Basis von Hunderten von Messpunkten nachweisen, dass sich der Gesichtsschädel der Jebel Irhoud-Fossilien kaum von dem heute lebender Menschen unterscheidet.
Im Gegensatz dazu ist die Gestalt des Gehirnschädels der Jebel Irhoud-Fossilien allerdings eher länglich und nicht rund wie bei heute lebenden Menschen.
„Die Gestalt des inneren Gehirnschädels spiegelt die Gestalt des Gehirns wider“, erklärt der Paläoanthropologe Philipp Gunz vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig. „Das bedeutet, dass sich die Form der Gesichtsknochen bereits zu Beginn der Evolution unserer Art entwickelt hat. Die Evolution der Form, und möglicherweise auch der Funktion des Gehirns fand allerdings innerhalb Homo sapiens statt“, sagt Philipp Gunz.
Vergleicht man die DNA heute lebender Menschen mit der DNA von Neandertalern und Denisova-Menschen, zeigen sich Unterschiede in Genen, die das Gehirn und das Nervensystem beeinflussen. Evolutionäre Veränderungen der Gehirngestalt stehen daher vermutlich im Zusammenhang mit genetischen Veränderungen der Organisation, Vernetzung und Entwicklung des Gehirns, die den Homo sapiens von unseren ausgestorbenen Vorfahren und Verwandten unterscheiden.
Fingerzeig auch nach Südafrika
Die Gestalt und das Alter der Fossilien aus Jebel Irhoud bestätigen auch die Interpretation eines bis jetzt rätselhaften Schädelfragments aus Florisbad, Südafrika, als frühen Vertreter des Homo sapiens. Die Jebel Irhoud-Fossilien sind die derzeit besten Belege für die frühe Phase der Evolution des Homo sapiens in Afrika. Die ältesten Homo sapiens-Fossilien finden sich auf dem gesamten afrikanischen Kontinent: Jebel Irhoud, Marokko (300.000 Jahre), Florisbad, Südafrika (260.000 Jahre) und Omo Kibish, Äthiopien (195.000 Jahre). Dies deutet auf frühe Wanderungsbewegungen innerhalb Afrikas und eine komplexe Evolution unserer Spezies auf dem ganzen afrikanischen Kontinent hin.
„Nordafrika ist lange Zeit in der Debatte um den Ursprung unserer Spezies vernachlässigt worden. Die spektakulären Entdeckungen von Jebel Irhoud zeigen die engen Verbindungen des Maghreb mit dem Rest des afrikanischen Kontinents zum Zeitpunkt der Entstehung von Homo sapiens“, sagt Abdelouahed Ben-Ncer.
Feuersteinwerkzeuge verraten afrikanisches Netzwerk
Die Homo sapiens-Fossilien in Jebel Irhoud wurden gemeinsam mit Knochen von gejagten Tieren (vor allem Gazellen) und Steinwerkzeugen aus der Epoche der Afrikanischen Mittleren Steinzeit gefunden. In Jebel Irhoud gibt es keine großen Faustkeile, die typischen Werkzeuge älterer Fundstellen. Die Steinwerkzeuge aus Jebel Irhoud wurden mit der Levallois-Technik vor allem aus hochwertigem Feuerstein hergestellt. Dieses Rohmaterial wurde über weite Strecken transportiert. Vergleichbare archäologische Fundstellen mit Werkzeugen aus der Afrikanischen Mittleren Steinzeit sind aus ganz Afrika dokumentiert. Auch die Ähnlichkeit der fossilen Knochen aus Nord-, Ost-, und Südafrika spricht für Wanderungsbewegungen innerhalb Afrikas.
„Die Steinwerkzeuge aus Jebel Irhoud sind vergleichbar mit Fundstellen in Ostafrika und Südafrika“, erklärt Archäologe Shannon McPherron vom Max-Planck-Institut in Leipzig. „Wahrscheinlich hängt die technologische Entwicklung der Afrikanischen Mittleren Steinzeit mit der Entstehung des Homo sapiens zusammen.“
Die neuen Forschungsergebnisse von Jebel Irhoud werfen ein neues Licht auf die Evolution von Homo sapiens, welche früher begann als ursprünglich angenommen wurde. Die Ausbreitung des Homo sapiens vor 300.000 Jahren in ganz Afrika ist, so die Forscher, das Resultat einer Veränderung der menschlichen Biologie und des Verhaltens.
Dass die Forscher Nordafrika lange Zeit nicht sehr ernst genommen haben, liegt auch an der Sahara, die heute weite Teile Nordafrikas überdeckt. Aber das muss während der Eiszeit anders gewesen sein. Die Zeitspanne, in der der Homo Sapiens entstand, fällt in die Saale-Kaltzeit, die von der Forschung auf die Zeit vor 347.000 bis 128.000 Jahren datiert wird. Europa und Asien lagen damals zu großen Teilen unter einer dicken Eisdecke bzw. boten eher Steppencharakter, während heute zu Wüste gewordene Teile Afrikas deutlich wald- und wildreicher waren. Nordafrika war deutlich grüner.
Man darf sich wohl einen lebendigen, grünen Kontinent vorstellen, auf dem sich 200.000 Jahre lang die frühe Geschichte des vernunftbegabten Menschen abspielte, bevor er über den Nahen Osten aufbrach, mal nachzuschauen, was da weiter im Norden noch zu finden wäre.
Das Jebel Irhoud-Projekt wird gemeinsam von dem marokkanischen Institut National des Sciences de l’Archéologie et du Patrimoine und der Abteilung Humanevolution des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie Leipzig durchgeführt. Die Max-Planck-Gesellschaft finanzierte die TL-Analyse. Teile der ESR/U-Serie Forschung wurden durch ARC Discovery gefördert.
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