Wann kam eigentlich diese Diskussion um die Nesthocker auf? Junge Leute, die nicht gleich mit 18 zu Hause ausziehen, wegziehen und sozusagen flügge werden? War es ein besoffener Soziologieprofessor? Ein publicity-versessenes Mietportal? Oder gar eine pr-trunkene Mietautobude? Jedenfalls wird über das Phänomen auch von ernsthaften Forschern geredet. Von denen des Leibniz-Instituts für Länderkunde (IfL) zum Beispiel.

Das ist in Leipzig zu Hause und stellt regelmäßig hübsche neue digitale Karten für den Nationalatlas her. Die Karten illustrieren sehr eindrucksvoll, wie unser Land ist, was Menschen wo tun, oder auch nicht.

Ausziehen zum Beispiel aus dem Elternhaus. Wie gesagt: Irgendwann in den letzten Jahren muss jemand das für eine ganz schreckliche Unart erklärt haben, wenn junge Menschen nicht gleich nach dem Schulabschluss ihre Siebensachen packen und in eine eigene Wohnung ziehen.

„Vor allem in Deutschlands Süden verlassen junge Erwachsene erst spät die elterlichen vier Wände“, meldet nun das Leibniz-Institut für Länderkunde. „In Thüringen, Bayern und im Saarland lebt mehr als ein Viertel der 25- bis 29-Jährigen noch zu Hause bei den Eltern. Spitzenwerte erreicht die Nesthocker-Quote in den bayerischen Landkreisen Freyung-Grafenau und Straubing-Bogen sowie im thüringischen Eichsfeld. Dort leben in dieser Altersgruppe die Hälfte der Männer und fast ein Drittel der Frauen noch im Elternhaus. In den Stadtstaaten und in Schleswig-Holstein logieren dagegen nur zwischen zehn und 15 Prozent der jungen Erwachsenen im Hotel Mama.“

Da haben wir die Nesthocker. Wikipedia verweist unterm Beitrag zu „Hotel Mama“ auf ein Themenblatt der Bundeszentrale für Politische Bildung: „Hotel Mama oder die Kunst erwachsen zu werden“. Das ist längst vergriffen, freilich noch digital abrufbar. Und die Bundeszentrale verweist auf ein Phänomen, das gern vergessen wird, wenn Edelfedern sich mal wieder über junge Leute ergötzen, die nicht erwachsen werden wollen.

„Betrachtet man die äußeren Zeichen des Erwachsenwerdens, so hat sich dieser Prozess von den ersten Indikatoren bis zu seinem Abschluss in den letzten Jahrzehnten ständig ausgeweitet – manche sagen auf bis zu 18 Jahre“, heißt es da. Und das hängt mit den immer längeren Wegen in eine existenzsichernde Erwerbstätigkeit zusammen. Wir erwähnen das, weil es das IfL vergessen hat zu erwähnen. Wenn man die seit den 1990er Jahren immer längeren Vorlaufzeiten einfach negiert, bevor junge Leute endlich so etwas wie einen vollwertigen Job bekommen, dann entstehen natürlich diese ganzen schrägen Nesthocker-Geschichten.

Dabei zeigt schon ein Phänomen, dass es beim Zuhause-Bleiben fast immer um simple wirtschaftliche Entscheidungen geht – um Ausbildung, Berufseintritt, Arbeitsmarktlage: „Auffällig ist in allen Bundesländern der deutliche Stadt-Land-Unterschied. Das liegt vor allem an der Konzentration der Hochschulen in den Städten, denn die Aufnahme eines Studiums ist ein wichtiger Auszugsgrund. Auszubildende bleiben dagegen häufig so lange im Elternhaus, bis sie einen festen Job haben oder eine eigene Familie gründen. Mit deutschlandweit 26 Prozent ist der Anteil der jungen Männer, die noch im Haushalt der Eltern leben, fast doppelt so hoch wie derjenige der jungen Frauen.“

Zu diesen Ergebnissen kommt Dr. Tim Leibert vom Leibniz-Institut für Länderkunde (IfL). Der Bevölkerungsgeograph hat für das Webangebot „Nationalatlas aktuell“ des IfL die Statistiken zu Haushalten und Familien erstmals auf Basis der Kreise und Kreisfreien Städte ausgewertet. Aktuelle Karten des IfL veranschaulichen die regionalen Unterschiede.

Eine profunde Arbeit. Aber auch er neigt zum Rätselraten.

„Ein Grund für den Geschlechterunterschied dürfte sein, dass Eltern Töchter oft stärker kontrollieren als Söhne und von ihnen auch mehr Mithilfe im Haushalt erwarten“, meint Leibert. Für junge Frauen bedeute der Auszug folglich einen größeren Autonomiegewinn als für junge Männer. Zudem hätten junge Frauen allgemein eine höhere Neigung zum Abwandern, so der Bevölkerungsgeograph.

Ein Punkt, an dem er vielleicht hätte stutzen sollen. Aber das Märchen von den verwöhnten männlichen Nesthockern sitzt tief. Und verstellt den Blick auf die Wirklichkeit, die auch das IfL schon öfter beleuchtet hat. Denn seit 1990 ist in vielen großen Statistiken nachweisbar, dass vor allem junge Frauen zuerst aus dem wirtschaftsschwachen Osten abgewandert sind. Sie gingen dorthin, wo die Chancen, eine auskömmlich bezahlte Tätigkeit, einen belastbaren Berufsseinstieg und die Grundlage für die Gründung einer Familie zu finden, größer sind. Das war in den 1990er Jahren immer nur der Westen.

Der Osten hat darunter bitter gelitten, denn das bedeutete nicht nur lauter junge Männer, die ohne große Auswahl möglicher Lebenspartnerinnen dastanden – bis hin zu den Ängsten, die heute in ostdeutschen Provinzen umgehen. Untersucht hat das noch niemand – was einfach verblüfft: Was passiert eigentlich in Regionen, aus denen die jungen, gut ausgebildeten und heiratsfähigen Frauen verschwinden und gerade junge Männer mit dem Gefühl leben, dass ihnen etwas Wesentlichen genommen wurde?

Und – ehrlich mal: Junge Frauen, mit denen man Familien gründen kann, sind lebenswichtig!

Aber interessiert das Jemanden, der sich heute – 20 Jahre später – über diese dumpfen ostdeutschen Provinzen aufregt?

Ganz zu schweigen davon, dass dasselbe jetzt auch westdeutschen Provinzen passiert. Denn was in den Dörfern, Klein- und Mittelstädten zuerst wegrationalisiert wurde, waren Arbeitsplätze für Frauen.

Wir haben die bestausgebildetste Generation junger Frauen in Deutschland – aber ihre Arbeitsplätze in den ländlichen Regionen wurden einfach abgeschafft. Sie wandern ab in die Großstädte, zumeist zum Studium, denn attraktive Frauenjobs brauchen heute einen Bachelor, Master, ein Diplom oder einen Doktor.

Logisch, dass Leiberts weitere Analysen ergaben, dass in den ländlichen Gebieten Ostdeutschlands der Anteil der im elterlichen Haushalt lebenden Frauen zwischen 20 und 24 Jahren besonders niedrig ist. Und statt das Offensichtliche zu sehen, fällt er auf das Nesthockermärchen rein.

Verantwortlich sei das niedrigere Erstgeburtsalter in den neuen Ländern und damit ein deutlich höherer Anteil der Frauen, die Anfang 20 allein, als alleinerziehende Mutter oder in einer nichtehelichen Gemeinschaft leben.

„Dies unterstreicht die Wechselwirkungen zwischen Auszugsverhalten, Bildungs- und Familienbiographie“, meint Leibert. Und verwechselt Ergebnis mit Ursache.

Denn auch Alleinerziehenden-Status oder nichteheliche Partnerschaften haben wirtschaftliche Gründe. Geheiratet wird von vernünftigen Menschen in der Regel erst dann, wenn beide sich auf finanziell festem Boden fühlen. Was viele junge Menschen heute meist erst Mitte 30 schaffen. Das ist zwar ökonomischer Blödsinn – politisch aber so gewollt, wie es aussieht. Gerade HochschulabgängerInnen erleben, wie schön es sich in deutschen Marginalbeschäftigungen arbeiten lässt. Die Frage ist eher: Warten die jungen Frauen, bis sie 40 sind, um endlich Kinder zu bekommen? Oder gehen sie den Wahnsinn ein und bekommen sie sie doch lieber mit Mitte 20? Mitten in ganz prekären Lebenszuständen?

Die meisten entscheiden sich zum Glück für den Wahnsinn. Sonst würden wir nämlich noch viel schneller aussterben. So als Volk betrachtet, das wir nicht sind. Wir sind ja nur noch Humankapital.

Und es erstaunt zumindest, dass das Humankapital ab und zu noch Familien gründet und Kinder bekommt. Der Auszug aus dem Elternhaus markiert indes nicht immer den Beginn einer eigenständigen Wohnbiographie, stellt das IfL dann noch fest. Laut Schätzungen kehrt in Deutschland jeder Zehnte der 18- bis 32-Jährigen wieder zu den Eltern zurück, nachdem er oder sie eine Zeitlang alleine, mit Partner oder in einer WG gewohnt hat.

Was Leibert dann so interpretiert: „In Phasen erhöhter Unsicherheit und des sozialen Abstiegs dient der Haushalt der Eltern als Sicherheitsnetz.“ Und so kommt dann doch noch eine Einsicht ins richtige Leben am Ende: Viel spreche nach seiner Einschätzung dafür, dass die Mehrzahl der Nesthocker aus ökonomischer Notwendigkeit im Hotel Mama residieren und nicht, wie oft behauptet wird, weil sie von Vati und Mutti umsorgt werden.

Womit er sich zwar von dem ganzen Nesthocker-Blödsinn distanziert, aber nicht weit genug geht. Stichwort: Haus und Hof. Gerade in ländlichen Räumen sind Elterngenerationen darauf angewiesen, dass die Kinder den Hof übernehmen, wenn die ihre Ausbildung zum Betriebswirt oder zur Agrarökonomin hinter sich haben. Das ist eher kein Rückfallnetz, sondern der letzte Rettungsanker für ländliche Regionen.

Wenn diese Höfe nicht weiter bewohnt und bewirtschaftet werden, kann man gleich ganze Dörfer von der Landkarte streichen.

Eher zeigt die Analyse, wie weltfremd heutige Demografie-Politik ist. Die sieht immer nur die alten 100-jährigen Knacker. Die jungen Leute mit all ihren Sorgen um Arbeit, Einkommen, Stabilität und Zukunft – die kommen in den politischen Sonntagsreden nicht mal mehr vor. Man ahnt nur, was sie tun, wenn man solche Wanderungsbewegungen sieht. Es ist nicht alles „stupid business“, wie es unter Bill Clinton mal hieß. Das ist die stupide Politik alter reicher Knacker.

Aber es ist knallharte wirtschaftliche Existenz, um die es geht, wenn junge Leute die Entscheidung fällen müssen: Hierbleiben oder Weggehen, da hin, wo es eine Chance auf eine Zukunft gibt?

Die Karten zeigen, was sie tun. Und das Drama der ländlichen Regionen ist tatsächlich, dass es immer weniger „Nesthocker“ gibt.

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