Eigentlich forscht das Leipziger Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften direkt auf dem Nachbarfeld des ebenfalls in Leipzig heimischen MPI für evolutionäre Anthropologie. Die einen erforschen, wie wir zum Menschen wurden, die anderen beschäftigen sich mit dem, was uns zu Menschen macht: unserem Gehirn, diesem komischen Gedächtnis- und Planungsapparat.
Wobei das Wort Apparat natürlich falsch ist. So mechanisch geschieht das, was wir Denken nennen, nicht. Das merkt jeder spätestens, wenn er aus wilden Träumen erwacht oder verzweifelt versucht, sich an Dinge zu erinnern. Dabei leben wir von Erinnerung. Denn erst die im Gehirn „gespeicherten“ Bilder, Assoziationen und Verknüpfungen ermöglichen es uns überhaupt, uns an etwas zu „erinnern“. Wobei auch das ja schon zu kurz gegriffen ist. Denn Erinnerungen sind ja nicht einfach irgendwo in einer Schublade abgelegt, sondern werden bei der Aktivierung bestimmter Hirnareale immer wieder neu rekonstruiert.
Mit mehreren Ergebnissen. Das eine ist: Unsere Erinnerung ist ein Konstrukt. So ungefähr, wie es Nikolaus Weiskopf, seit Anfang April neuer Direktor am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften (MPI CBS), ausgedrückt hat: „Natürlich sind die irgendwie durch das Substrat vorgegeben. Man bekommt beispielsweise im Gespräch mit Anderen neue Informationen, die das Gehirn verarbeitet und sich dadurch auch weiter entwickelt. Das heißt, wir denken nie mit dem gleichen Gehirn wieder. Wenn man einmal etwas gedacht hat, hat es sich schon wieder verändert. Und daraus entstehen dann neue Ideen.“
Und logischerweise neue Erinnerungen. Denn unser Gehirn ist auch ein Verstärker: Dinge, die immer wieder neu aktiviert werden, werden verstärkt und verfestigt, andere aber werden neu verknüpft oder – wenn sie nur selten oder gar nicht wieder wachgerufen werden – wieder vergessen. Oder so verändert, dass sie mit dem ursprünglichen Erlebnis kaum noch etwas gemein haben. Wie schnell das geht, erleben Polizisten und Richter bei jedem Zeugenaufruf nach einem Unfall oder in einem Kriminalfall.
Aber gerade die Fähigkeit zum Vergessen ist augenscheinlich einer der wichtigsten Vorgänge, die dazu beitragen, unsere Selbstwahrnehmung zu bestimmen, das, was wir als unser Selbst begreifen.
Und augenscheinlich hat unser Gehirn eine ganze Reihe von Mechanismen entwickelt, mit denen wir sogar sehr absichtlich Vorgänge vergessen können, die uns in unserem Leben und Handeln hemmen und negativ beeinflussen. Eigentlich ein großes Glück, denn nur so werden wir nicht immer wieder aufs Neue von negativen Erfahrungen blockiert.
Das ist ein Thema, mit dem sich Roland Benoit, seit Anfang Mai Leiter der neu gegründeten Forschungsgruppe für Adaptives Gedächtnis am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften, beschäftigt. Dabei interessiert ihn nicht nur, wie sich ungewollte Erinnerungen unterdrücken lassen, sondern auch, wie wir uns aus Episoden der Vergangenheit unsere Zukunft simulieren.
Ein entsprechend ausführliches Interview ist auf der Website des Max-Planck-Instituts zu finden. Wir haben es unterm Text verlinkt.
Auch für alle, die immer wieder Angst haben, „das Wichtigste“ zu vergessen. Was normalerweise nicht geschieht, weil alle Dinge, an die wir immer wieder bewusst denken, auch immer aktiv in unserer Erinnerung bleiben. Das muss nicht unbedingt das Datum des Hochzeitstages sein. Und es ist in der Regel auch nicht der Inhalt des letzten völlig sinnlosen Ehekrachs. Zumindest bei Männern. Aber es können die schönsten Erlebnisse mit der Geliebten sein – der Tag im Restaurant, wie es Benoit als Beispiel aufführt. Das Problem ist meist nur: Man kann nicht immer umschalten auf die richtige Erinnerung und vergibt damit die Chance, Situationen sich anders entwickeln zu lassen, weil man statt aufs Positive, aufs Negative fixiert bleibt. Mit entsprechend dramatischen Folgen.
Wobei unser Gehirn, so Benoit, durchaus trainiert darauf ist, negativen Erinnerungen und ihrem neuerlichen Erinnern auszuweichen.
Denn: Vergessen ist keineswegs nur eine Schwäche oder ein Zeichen nachlassender Hirnleistung, sondern oft ein aufwendiger, aktiver Prozess. Und: Erinnerungen lassen sich gezielt löschen. Übrigens ein Vorgang, der sogar in diversen Lebensschulen als „Positives Denken“ bekannt ist.
Prinzipiell scheint es zwei Mechanismen zu geben, um Erinnerungen aktiv aus unserem Gedächtnis zu streichen: Das direkte Unterdrücken der ungewollten Erinnerung und das Ersatz-Erinnern, bei dem der ungewollte Gedächtnisinhalt durch einen anderen ersetzt wird.
Aber die Mechanismen sind nicht nur wichtig, wenn es darum geht, sich von beladenden Erinnerungen zu trennen und möglicherweise auch die Folgen einer traumatischen Erfahrung zu überwinden.
Denn dieser große Assoziations-und-Bilder-Automat in unserem Kopf ist ja eigentlich dazu da, die Zukunft zu antizipieren. Was ja eigentlich das größte Problem der Menschen ist: Sie können sich alle möglichen Zukünfte ausmalen. Eigentlich ist das genau der Riesenvorteil, den die Menschen im evolutionären Prozess gewonnen haben. Doch während die einen diese Fähigkeit nutzen, Zukunft zu planen, Erfindungen zu machen, Dinge aufzubauen und gleich ganze Generationen in die Zukunft voraus zu denken (Kinder kriegen, Haus bauen, Baum pflanzen …), scheinen andere geradezu in Ängsten vor einer als bedrohlich empfundenen Zukunft zu schwelgen. Und Letztere scheinen heute mit ihrer Unfähigkeit, Zukunft positiv zu denken, die ganze Welt in Raserei versetzen zu wollen.
Da rächt sich augenscheinlich, dass eine Menge Leute nie gelernt haben, ihr Gehirn produktiv zu nutzen, sondern sich von negativen Emotionen und miserabler Hollywood-Inszenierung regelrecht in die Irre treiben zu lassen.
„Im Grunde ist unser Gedächtnis nicht für die Vergangenheit, sondern für die Zukunft gemacht. Dabei darf man es sich nicht als etwas Passives wie ein Video vorstellen, auf dem ich mir genau anschauen kann, was passiert ist“, sagt Benoit. „Vielmehr erinnern wir uns meist nur an einzelne Teile unserer Erlebnisse und füllen unbewusst die Lücken mit unserem allgemeinen Wissen aus. Erinnern ist also ein konstruktiver Prozess. Unsere Fähigkeit, sich die Zukunft vorzustellen, beruht genau auf diesem konstruktiven Gedächtnis. Wie würde es beispielsweise aussehen, mit einer bestimmten Person in einem bestimmten Restaurant essen zu gehen? Um uns diese Situation vorzustellen, können wir Erinnerungen an das Restaurant mit solchen an die Person verknüpfen, um uns so ganz neue Erlebnisse auszumalen und darüber entscheiden, ob wir uns wirklich mit dieser Person in diesem Restaurant treffen wollen.“
Nur scheint das eben doch bei vielen Menschen weder ein bewusster, noch ein konstruktiver Prozess zu sein.
Das Dilemma ist Benoit durchaus bewusst. Deswegen will er genau hier ansetzen.
„Denn zum einen können wir dadurch zwar weitsichtigere Entscheidungen treffen. Zum anderen ist es jedoch nicht immer vorteilhaft, sich ständig die Zukunft vorzustellen“, sagt er. Denn wenn man sich die „falsche“ Zukunft vorstellt, kann das nicht nur für persönliche Entscheidungen fatal sein.
Roland Benoit: „Wenn wir beispielsweise Angst vor bestimmten Situationen in der Zukunft haben, könnten solche Zukunftssimulationen die Ängste weiter verstärken und noch plausibler erscheinen lassen. In diesen Momenten könnte es also besser sein, nicht dauernd die Zukunft durchzuspielen, sondern diese Gedanken zu unterbrechen. Hier möchte ich genauer untersuchen, ob wir Mechanismen der Verdrängung auch nutzen, um unsere Zukunftssimulationen zu stoppen.“
Womit er eigentlich den Forschungsbereich des Framing berührt. Denn Erinnerungen sind Bilder, und zwar emotional aufgeladene Bilder, die jedes Mal aufgerufen werden, wenn die entsprechenden Stichworte oder Metaphern benutzt werden. Auf diese Weise beeinflussen wir unser Denken über die Zukunft selbst. Dinge treten dann nicht etwa ein, weil sie „selbstprophezeiend“ gewesen wären, sondern weil wir uns mit starken Emotionen selbst darauf fixiert haben – wir sind (um Benoits Bild aufzugreifen, das er im Interview verwendet) mit voller Geschwindigkeit auf die negative „Erinnerung“ zugerast, ohne zu bremsen. – Und wir haben die Chance nicht ergriffen, stattdessen eine positive „Erinnerung“ zu setzen. Obwohl wir ja nun so langsam wissen, dass Zukunft immer nur ein Konstrukt aus unseren Erinnerungen ist. Und dass wir selbst dafür sorgen, wie Zukunft tatsächlich wird – doch wie wir das tun, das bestimmt das Bild, das wir im Kopf präsent haben.
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