Welches Potenzial die Genom-Analyse uralter Fossilien hat, das wird immer deutlicher, je öfter Forscher wie die vom Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie die sterblichen Überreste von Menschen aus den vorhistorischen Epochen untersuchen. Jetzt basteln sie gerade an einer Art Stammbaum für die letzten 45.000 Jahre.
Die Zahl 45.000 tauchte in Berichten aus dem Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie zuletzt häufiger auf: Das war ungefähr der Zeitpunkt, als der aus Nordafrika einwandernde moderne Mensch in den Mittelmeerregionen auf den Neandertaler stieß, der hier schon viele Jahrhunderttausende lebte. Doch es war nicht die letzte Ankunft aus Nordafrika. Auch wenn schon diese erste Ankunft augenscheinlich dazu führte, das allmähliche Ende der Neandertaler zu besiegeln. Und nicht nur das.
Der Aufgabe, den Stammbaum der Einwanderungen der letzten 45.000 Jahre zu zeichnen, hat sich ein internationales Forscherteam aus den Max-Planck-Instituten in Jena und Leipzig sowie der Universität Harvard gestellt: Es untersuchte die DNA von Menschen, die in der Zeit von der Erstbesiedlung des Kontinents bis zum Aufkommen der Landwirtschaft in Europa lebten. Die Befunde weisen auf Perioden langer Kontinuität und auf bisher unbekannte Bevölkerungsbewegungen hin. Darüber berichten sie in der „Nature“ vom 2. Mai 2016.
Das Aufkommen der Landwirtschaft wird meist mit der Zeit vor 8.000 Jahren gleichgesetzt, als die Ackerbauern und Viehzüchter aus der Schwarzmeerregion donauaufwärts zogen und auch Gebiete wie die fruchtbaren Flussauen im heutigen Sachsen besiedelten. Der Aufbruch dieser hochentwickelten Schwarzmeerkultur wird in jüngster Zeit mit dem gewaltsamen Durchbruch der Wassermassen aus dem Mittelmeer durch den heutigen Bosporus vor 7.500 Jahren in Verbindung gebracht – Folge des dramatischen Wasserspiegelanstiegs nach Ende der letzten Eiszeit.
Aber darum geht es hier nicht. Hier wurden die Jahrtausende davor beleuchtet.
Während die Neandertaler nach der ersten Begegnung mit dem modernen Menschen vor 45.000 Jahren nach und nach verschwanden, verblieben die neu angekommenen modernen Menschen bis in die heutige Zeit in Europa, selbst während der kältesten Phase der letzten Eiszeit, als große Teile des Kontinents unter einer Eisdecke lagen.
Mit hochempfindlichen Techniken, die maßgeblich in Deutschland entwickelt wurden, ist es nun einem internationalen Forscherteam erstmalig gelungen, die Genome von mehreren Dutzend modernen Menschen, die in den letzten 40.000 Jahren in Europa lebten, zu entschlüsseln. Die Aufbereitung der Daten erfolgte größtenteils in den Laboratorien der Max-Planck-Institute in Leipzig und Jena und an der Universität Harvard.
„Es war ein großes Privileg mit diesen sehr, sehr alten Knochen arbeiten zu können“, erzählt Qiaomei Fu, Erstautorin der in „Nature“ veröffentlichten Studie. „Und natürlich machte es gerade ihr Alter extrem aufwendig, qualitativ hochwertige Informationen aus ihnen zu gewinnen.“ Qiaomei Fu, die jetzt an der Chinesischen Akademie der Wissenschaften in Peking arbeitet, hatte die Arbeit an dieser Studie als Doktorandin in Leipzig begonnen und führte sie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin in Harvard fort.
Die erste Überraschung war: Die Neuankömmlinge vor 45.000 Jahren haben mit uns gar nichts zu tun. Die prähistorischen Genome zeigen, dass diese ersten modernen Menschen, die Europa besiedelten, keine direkten Vorfahren der heutigen Europäer sind.
Erst weitere Einwanderer aus dem Nahen Osten wurden tatsächlich zu den Vorfahren der heutigen Europäer. Davon erzählen Knochenproben aus der Zeit vor ungefähr 37.000 Jahren: Die hier untersuchten menschlichen Überreste gehören mindestens teilweise Vorfahren von heutigen Europäern. Und in den nächsten 20.000 Jahren gibt es dann trotz dramatischer Klimaschwankungen eine genetische Kontinuität bis zu den untersuchten 19.000 bis 14.500 Jahre alten Individuen, die nach der Hochphase der letzten Eiszeit Mitteleuropa wieder besiedelten.
„Wir vermuten, dass sich die ursprüngliche Bevölkerung Europas während des Letzteiszeitlichen Maximums in Refugien in Südwesteuropa zurückzog und von dort aus am Ende der kältesten Phase der Eiszeit West- und Mitteleuropa wieder besiedelte“, erläutert Johannes Krause, Direktor am MPI für Menschheitsgeschichte, die neuen Daten.
Nach der Eiszeit aber kamen auch wieder die Wanderbewegungen aus dem Süden in Gang. Einen bislang unbekannten Wandel der Bevölkerung fanden die Forscher in der Epoche vor ungefähr 14.000 Jahren. Von da an besteht zwischen Europäern und den heute im Nahen Osten lebenden Menschen eine genetische Verwandtschaft.
Bisher gingen wir davon aus, dass mit der Einführung der Landwirtschaft vor zirka 8.500 Jahren, als Bauern aus dem Nahen Osten nach Mitteleuropa einwanderten und die Jäger und Sammler verdrängten, eine genetische Durchmischung erfolgte, aber unsere Daten deuten auf eine weitere 6.000 Jahre frühere Einwanderung hin“, betont Cosimo Posth vom MPI für Menschheitsgeschichte diesen neuen Punkt in der europäischen Zuwanderungsgeschichte.
Wobei die Forscher noch über zwei Erklärmuster nachdenken: Entweder sind damals Menschen aus dem Nahen Osten nach Europa eingewandert. Oder dieselbe Menschengruppe, die damals nach Mitteleuropa einwanderte, wanderte gleichzeitig in den Nahen Osten ein. Woher sie genau kamen, wollen die Forscher in den nächsten Jahren untersuchen, wenn sie menschliche Überreste insbesondere aus Südosteuropa und dem Nahen Osten unter die Lupe nehmen.
Und irgendwie steht am Ende dieser Untersuchung der Neandertaler ziemlich traurig da: Er hat sich zwar in den ersten tausend Jahren mit den Neuankömmlingen vermischt. Aber sein Erbgut war irgendwie nicht wirklich wettbewerbsfähig.
„Über einen Zeitraum von 30.000 Jahren ist der Anteil der Neandertaler-DNA im Genom der modernen Menschen kontinuierlich zurückgegangen, ohne dass eine nachweisbare Vermischung mit Menschengruppen ohne Neandertaler-DNA stattgefunden hat. Dies lässt schließen, dass der Rückgang auf Grund natürlicher Selektion erfolgte“, sagt Svante Pääbo vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie. „Es scheint, dass viele genetische Varianten die in den Neandertalern vorkamen für den prähistorischen modernen Menschen nachteilig waren“.
Eine andere Forschung in diesem Zusammenhang beginnt jetzt gerade erst.
Denn bislang beruhte die Einordnung von prähistorischen Bevölkerungsgruppen primär auf archäologischen Funden. Die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen oder gleichen Kulturen besagt jedoch nicht zwingend, dass die Menschen unterschiedlichen bzw. der gleichen genetischen Gruppe angehörten.
Deswegen sind die Forscher jetzt einmal anders vorgegangen und haben die untersuchten menschlichen Überreste zunächst ausschließlich anhand der Genomdaten gruppiert. Erst danach haben sie nach der Zugehörigkeit zu verschiedenen Kulturen geschaut. In einigen Fällen gab es da Übereinstimmungen: Die Kulturgruppe war mit der Genom-Gruppe identisch – wie bei der als „Mammutjäger Osteuropas“ bekannten Bevölkerungsgruppe, die vor 27.000 Jahren Europa besiedelte und die der sogenannten Gravettien-Kultur zugeordnet werden konnte.
Während eine Gruppe in Westsibirien, die kulturelle Ähnlichkeiten zu den Gravettien-Leuten aufweist (das reichliche Vorkommen der berühmten Venus-Statuetten etwa) genetisch nicht besonders nahe mit den Mammutjägern in Osteuropa verwandt war.
Die Forscher wollen jetzt ihre hochempfindlichen Methoden auf Funde aus weiteren Regionen Europas und angrenzenden Teilen der Welt anwenden, um noch mehr über Wanderungen und Verwandtschaften herauszufinden.
„Wir sind erst am Anfang. Wir haben quasi das genetische Geschichtsbuch der Steinzeit erst aufgeschlagen“, summieren Johannes Krause und Svante Pääbo, die die Arbeiten in Jena und Leipzig leiteten, ihre Ergebnisse.
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