Wir haben an dieser Stelle schon mehrfach über Forschungsergebnisse aus dem Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) berichtet, in denen es um die Stabilität von Biosystemen ging. Das verkürzte Fazit: Je artenreicher ein Biotop ist, umso widerstandsfähiger ist es gegen Krisen. Und nun kommt ein Ökonom der HTWK Leipzig einfach mal forsch von der Seite und stellt fest: Für die Wirtschaft von Städten gilt das auch.
Eine Wirtschaftslandschaft als Biotop? So fern liegt der Gedanke ja nicht. Denn genauso wie Tiere und Pflanzen in einem natürlichen Lebensraum eine ganze Reihe von Synergien und Abhängigkeiten entwickeln, die einen davon abhängen, dass die anderen gute Lebensbedingungen haben, und alle in einem komplexen Stoffkreislauf unterwegs sind, so gilt das auch für die Wirtschaftseinheiten einer Region.
Eigentlich hätte Rüdiger Wink, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig (HTWK Leipzig) auch nach Chicago oder Detroit fahren können, um zu zeigen, was passiert, wenn Städte nur eine industrielle Monokultur besitzen. Wolfsburg wäre ja beinahe auch so ein Fall geworden.
Aber er hat sich lieber ein paar deutsche Großstädte ausgesucht, die nicht ganz so extrem sind, sich aber in der Vielfalt ihrer Unternehmenslandschaft deutlich unterscheiden.
Und ein Fazit, das nur auf den ersten Blick erstaunt: Die beiden Universitätsstädte Leipzig und Freiburg im Breisgau sind im Vergleich zu Dresden oder Stuttgart eher wirtschaftlich gestärkt aus der letzten globalen Finanz- und Wirtschaftskrise hervorgegangen. Selbst im Krisenjahr 2009 entwickelten sich hier das lokale Bruttoinlandsprodukt und die Erwerbstätigenzahl besser als in vergleichbaren Regionen.
Das Forscherteam um Rüdiger Wink führt dies in der Publikation “Wirtschaftliche Resilienz deutschsprachiger Regionen” auf eine vielfältig aufgestellte Wirtschaft, eine lebendige Zivilgesellschaft und attraktive Dienstleistungen in beiden Städten zurück. Diese Ergebnisse zur Resilienz (Krisenfestigkeit) von Regionen sind nun im Springer Gabler Verlag erschienen.
Der Begriff Resilienz begegnet einem heutzutage mittlerweile in verschiedensten Forschungsbereichen. In der Soziologie bezeichnet es zum Beispiel die Fähigkeit von “Gesellschaften, externe Störungen zu verkraften”. Übrigens genauso ein top-aktuelles Thema, wenn man an den völlig unterschiedlichen Umgang der europäischen Staaten mit der Flüchtlingskrise denkt. Am schlechtesten können ausgerechnet jene Staaten damit umgehen, in denen nationalistische Regierungen die Vielfalt gesellschaftlicher Auseinandersetzung drastisch beschnitten haben – Ungarn ist so ein Beispiel.
Und natürlich ist das Stichwort Resilienz auch eine Warnung: Staaten werden auch gesellschaftlich krisenanfälliger, wenn sie wieder auf das alte Strickmuster einer nationalen Homogenität setzen. Natürlich kennen auch Biologen, Juristen, Urbanisten und Psychologen den Begriff. Was man eigentlich gar nicht extra betonen müsste, denn Wirtschaft ist ja nun einmal zuallererst Psychologie. Und auch die Psyche eines Menschen ist widerstandsfähiger, wenn er über Handlungsalternativen und geistige Beweglichkeit verfügt. Die Materialwissenschaftler gehören auch hierher, denn sie brillieren seit Jahren mit immer neuen Komposit-Materialien, die völlig neue Widerstandseigenschaften aufweisen, die homogene Materialien in der Regel nie erreichen.
Eigentlich so richtig etwas fürs Stammbuch der Leute, die immer alles ganz einfach haben wollen und glauben, von Komplexität, Vielfalt und Veränderungen überfordert zu sein: Erst komplexe Systeme sind tatsächlich stabil und widerstandsfähig.
Und irgendwie scheint selbst die Leipziger Wirtschaft so ein System zu sein, auch wenn die großen Firmennamen fast gänzlich fehlen.
Insgesamt haben Rüdiger Wink und sein Forscherteam die Entwicklung von zehn deutschsprachigen Regionen seit 1990 untersucht. Die Krisenfestigkeit Leipzigs und Freiburgs lässt sich auf zwei entscheidende Ursachen zurückführen.
“Beide Städte verfügen über einen vergleichsweise hohen Anteil lokaler Dienstleistungen, die weniger von internationalen Krisen betroffen sind“, meint Rüdiger Wink. “Dazu tragen auch die vielen gut und vielseitig ausgebildeten Arbeitskräfte in der Kreativwirtschaft bei.“
Daneben, so die Analyse des Volkswirtschaftsprofessors, seien die wirtschaftlich relevanten Branchen in Leipzig und Freiburg im Unterschied zu Standorten wie Dresden oder Stuttgart viel weniger miteinander verbunden. In der Krisensituation kam es daher zu weniger Ansteckungseffekten. Heißt: Wenn eine Branche durch die Turbulenzen am Weltmarkt in Mitleidenschaft gezogen wurde, hat das nicht gleich die komplette lokale Wirtschaft mit nach unten gezogen, sondern nur die direkt angedockten Zuliefer- und Dienstleisterbetriebe.
Der “Rest” der Wirtschaft hat einfach weitergemacht, hat neue Kooperationspartner gesucht, auch Auftraggeber und Kunden sind ausgewichen.
Im Vergleich mit anderen Stadtregionen in Deutschland identifizierten die Forscher wiederkehrende Reaktionsmuster auf Krisen. Für Leipzig zeigte sich: Egal ob Konjunktur- oder Branchenkrise, Naturkatastrophe oder Systemveränderung – stets halfen die starke städtische Zivilgesellschaft und die wirtschaftliche Vielfalt bei der Krisenbewältigung. Freiburg profitierte zudem von seiner frühzeitigen Orientierung an ökologischer Stadtentwicklung und einer starken Bürgerbeteiligung. Ein Faktor, den Leipzig noch immer sträflichst vernachlässigt, obwohl den ökologischen Aspekt OBM Burkhard Jung seit 2007 in all seine Programme schreibt.
Was ist aus den Analysen für die Bewältigung künftiger Krisen zu lernen?
„Man muss stets mit positiven und negativen Schocks rechnen“, betont Rüdiger Wink. „Beispielhaft zeigt sich dies an der Entwicklung der Einwohnerzahlen in Leipzig: Um die Jahrtausendwende diskutierten alle über die ‚schrumpfende Stadt‘, nun haben wir eine gegenteilige Diskussion um ausreichenden und preiswerten Wohnraum in der neuen ‚Schwarmstadt‘. Solche Entwicklungen lassen sich nicht genau vorhersehen – allerdings können Politik und Verwaltung zur Krisenprävention bereits heute strukturelle Schwächen identifizieren und abbauen. Während der Krise fehlt die Zeit für neuartige strukturelle Anpassungen. Die Voraussetzungen, um eine Krise bewältigen oder gar als Chance nutzen zu können, müssen bereits vorher erworben werden.“
Was ja wohl heißt: Leipzig wäre gut beraten, jetzt alle ökologischen Weichenstellungen vorzunehmen und nicht zu warten, bis der Weihnachtsmann anklopft. Heißt: Jetzt muss die ökologische Energiegewinnung ins Zentrum rücken, jetzt muss das Verkehrsnetz der Zukunft gebaut werden, jetzt muss der soziale und energetische Wohnungsbau starten.
Die Analysen basieren auf mehreren Studien, die das Team um Rüdiger Wink von 2011 bis 2014 mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft, des Europäischen Parlaments und der Forschungseinrichtung ESPON der Europäischen Kommission durchgeführt hat. Grundlage der Studien sind Befragungen, Workshops mit Praktikern der Wirtschaftsförderung, statistische Auswertungen und Literaturauswertungen.
Die Ergebnisse sind nun im Buch „Wirtschaftliche Resilienz deutschsprachiger Regionen“ erschienen. Die untersuchten Regionen sind: Leipzig, Chemnitz, Dresden, Stuttgart, Pforzheim, Freiburg i. Br., Dortmund, Gelsenkirchen, Uckermark, Burgenland (Österreich).
Rüdiger Wink, Laura Kirchner, Florian Koch, Daniel Speda “Wirtschaftliche Resilienz deutschsprachiger Regionen”, Wiesbaden: Springer Gabler Verlag 2016. ISBN 978-3-658-09822-3.
Ebenfalls frisch im Springer-Verlag erschienen ist der von Rüdiger Wink herausgegebene Sammelband „Multidisziplinäre Perspektiven der Resilienzforschung“. Der Sammelband reflektiert den Begriff „Resilienz“ aus verschiedenen wissenschaftlichen Blickrichtungen und zeigt auf, dass das Resilienzkonzept das Potenzial eines neuen wissenschaftlichen Paradigmas birgt. Dieses Buch wird im Springer-Verlag die wissenschaftliche Reihe „Studien zur Resilienzforschung“ begründen.
Rüdiger Wink (Hrsg.): “Multidisziplinäre Perspektiven der Resilienzforschung”, Wiesbaden: Springer Verlag 2015. ISBN 978-3-658-09622-9.
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