Eigentlich ist es kein richtiger Streitfall mehr, wenn Forscher über den Weg des modernen Menschen von Afrika nach Europa nachdenken. Die logischste Route war schon immer die Levante, jener Landstreifen im Nahen Osten, in dem bis heute die historischen Konflikte brodeln. Dort hielten sich unsere Vorfahren auf, bevor sie vor ungefähr 40.000 Jahren dem Neandertaler in Europa das Leben schwer machten.

Obwohl: Letzteres weiß man ja noch nicht so genau. Die Verdrängung des Neandertalers hat über 10.000 Jahre in Anspruch genommen. Teilweise haben sich beide Spezies vermischt. Das war also durchaus etwas komplizierter, als es manche Sensationsmeldung gern erzählt. Und dass die Geschichte mehr Facetten bekommt, dazu tragen die Forscher des Leipziger Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie so einiges bei. Oft tun sie sich dabei mit anderen Forschungsinstituten zusammen, um die eigenen Kompetenzen und technischen Möglichkeiten in nicht immer ganz einfache Forschungsprojekte einzubringen.

Das war auch diesmal der Fall, als ein Forscherteam unter der Leitung des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig mit Partnern der Universitäten Leiden, Groningen (Niederlande), Mainz, York und Cambridge (Großbritannien) ein paar Muschelschalen aus Ksâr ‘Akil im Libanon untersuchte. Der Libanon liegt – genauso wie Israel, Palästina, Jordanien – auf der wahrscheinlichen Route des Homo Sapiens von Afrika am Rand des Mittelmeers entlang Richtung Südosteuropa.

Das Besondere an der Fundstelle: Ksâr ‘Akil ist eine der wenigen archäologischen Fundstätten im Nahen Osten, wo Fossilien moderner Menschen in den gleichen Fundschichten wie Werkzeuge aus dem frühen Jungpaläolithikum (JP) ausgegraben wurden. Und Muscheln fand man, die damals augenscheinlich regelmäßig auf dem Speiseplan der Menschen standen, die in der Höhle lebten. Und zwar über Jahrtausende hinweg, was an den Schichtenfolgen sichtbar wird, die man dort ausgraben konnte.

Mithilfe der Radiokohlenstoff-Datierung bestimmten die Forscher das Alter von Muschelschalen der Art Phorcus turbinatus, deren Fleisch einst von unseren menschlichen Vorfahren verspeist worden war. Mit der Datierung können sie  jetzt zeigen, dass moderne Menschen sich vor mindestens 45.900 Jahren in der Levante aufgehalten haben. Was dann  die Anwesenheit anatomisch moderner Menschen mit Werkzeugen aus dem frühen Jungpaläolithikum vor ihrer Ankunft in Europa bestätigt und belegt, dass die Levante modernen Menschen als Korridor für die Besiedlung Europas diente.

Aber um die genaue Datierung geht es schon. Deswegen haben sich die Forscher auch was einfallen lassen müssen.

Denn über die genaue Zeit, wann genau moderne Menschen sich von Afrika ausgehend nach Eurasien ausbreiteten, streiten sich Archäologen, Paläontologen und Genetiker. Was verbunden ist mit der Frage: Diente die Levante als Korridor, der die Ausbreitung moderner Menschen aus der Epoche des Jungpaläolithikums erleichterte?

Jungpaläolithikum – das ist die Jungsteinzeit, in der Menschen schon sehr aufwändige Werkzeuge aus Stein herstellten. An ihren Werkzeugen erkennt man sie also. Aber wie kann man die Fundstücke auch möglichst genau datieren?

„Das Problem ist, dass sowohl in der Levante als auch in Europa nur sehr wenige menschliche Überreste gefunden wurden, die dem Jungpaläolithikum, also dem jüngsten Abschnitt der Altsteinzeit, zugeordnet werden können“, erklärt dazu Jean-Jacques Hublin, Professor am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie.

„Ksâr ‘Akil ist eine so wichtige Fundstätte, weil dort die fossilen Überreste zweier moderner Menschen zusammen mit ihren Werkzeugen gefunden wurden, die der Epoche des Jungpaläolithikums zugehörig sind. Ihre Entdecker haben die beiden Individuen Ethelruda und Egbert genannt“, erklärt Marjolein Bosch vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie und Erstautorin der Studie.

In der Fachzeitschrift “Proceedings of the National Academy of Sciences of the USA” berichten die Autoren nun über ihre neuen Ergebnisse zum Alter dieser beiden Fossilien. Geholfen haben dabei die Schalen der Muscheln, die sie verzehrt haben.

„Unsere Untersuchungen zeigen, dass Egbert vor etwa 43.000 Jahren und Ethelruda vor mindestens 45.900 Jahren lebte, möglicherweise sogar noch früher. Ethelruda ist also älter als alle bisher in Europa gefundenen modernen Menschen“, sagt Johannes van der Plicht vom Zentrum für Isotopenforschung der Universität Groningen in den Niederlanden. Wären die Funde jünger gewesen, hätte das für die These der Einwanderung über die Levante leider nicht weitergeholfen. Aber sie waren älter als die ältesten Funde des modernen Menschen, die auf europäischen Festland gefunden wurden.

„Werkzeuge, die denen ähneln, die Ethelruda und Egbert zugeordnet werden, finden sich auch in anderen Fundstätten in der Levante und in Europa. Diese ähnlichen Werkzeuge sowie die frühere zeitliche Einordnung der Funde aus dem Nahen Osten lassen auf eine Ausbreitung moderner Menschen vom Nahen Osten ausgehend nach Europa zwischen 55.000 und 40.000 Jahren schließen“, kommentiert Marjolein Bosch das Ergebnis, bei dem die Forscher sich schon ein bisschen anstrengen mussten. Denn so einfach entlockt man Muscheln ihr Alter nicht.

Die Autoren untersuchten insgesamt 3.500 Muscheln, die 49 Arten zugeordnet werden konnten. Die am besten erhaltenen waren solche, deren Fleisch Menschen einst als Nahrungsmittel verspeisten.

„Wir wissen beispielsweise, dass Weichtiere der Art Phorcus turbinatus von Menschen des Jungpaläolithikums gegessen wurden. Um das Fleisch besser entnehmen zu können, hatten sie den oberen Teil dieser Muscheln häufig abgeschnitten“, erklärt Marcello Mannino vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie.

Doch die Muschelschalen aus der Levante mithilfe der Radiokohlenstoffmethode zu datieren, erwies sich als eine große Herausforderung für die Forscher.

„Die 14C-Datierung von Muschelschalen ist eine Technologie, die sich noch in der Entwicklungsphase befindet. Bis jetzt gab es keine narrensichere Methode, um das Alter von Muschelschalen-Proben zu bestimmen, die durch die lange Lagerung im Boden chemisch verändert wurden“, erläutert  Prof. Dr. Johannes van der Plicht vom Zentrum für Isotopenforschung der Universität Groningen

“Wir haben daher einen neuen Ansatz entwickelt, bei dem wir Radiokohlenstoffdaten und biochemische Daten miteinander kombinieren“, ergänzt Mannino.

„Eine solche Technologie, die ‘intra-kristalline Proteindiagenese’, bestimmt inwiefern Aminosäuren in der intra-kristallinen Struktur von Muschelschalenkarbonaten erhalten geblieben sind“, erklärt Beatrice Demarchi von der Universität York. Eine Kombination dieser neuen Analysemethoden ermöglichte es den Autoren jetzt, eine aussagekräftige neue Datierung der Funde aus Ksâr ‘Akil vorzulegen.

Ein richtiges Puzzlespiel, bei dem man für die so beliebten Muscheln zwei recht genaue Zeitangaben erhielt und damit die Bestätigung: Moderne Menschen, die jungpaläolithische Werkzeuge verwendeten, lebten bereits in der Levante, bevor sie in Europa erstmals auftauchten, denn alle bisherigen Fossilfunde moderner Menschen in Europa sind jünger als diese.

„Das wiederum lässt darauf schließen, dass die Levante als Korridor für die Verbreitung moderner Menschen von Afrika ausgehend nach Eurasien gedient hat“, stellt Jean-Jacques Hublin noch fest. Womit sich der Speiseabfall einmal wieder als ideale Fundgrube erwies, den Bewegungen unserer Vorfahren auf die Spur zu kommen.

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