Wissenschaftler lösen ja nicht nur Rätsel, manchmal formulieren sie auch erst welche. Und manche dieser Rätsel geben zu denken. So wie eines, das jetzt Ergebnis eines Forschungsprojekts des in Leipzig tätigen Neurobiologen Paul Stevenson ist: Kann es sein, dass auch bei Menschen ein simpler Botenstoff wie Stickoxid darüber entscheidet, ob sie einen Kampf aufgeben oder nicht? - Immerhin hat Stevensons Team mit Grillen experimentiert.

Die Verhaltensbiologie der letzten Jahre hat ja sehr umfassend gezeigt, dass Zweikämpfe unter Artgenossen normal sind – bei Insekten genauso wie bei Säugetieren. Irgendwie denkt man da ja stets an Charles Darwin und seinen “struggle of life”. Aber nun deuten die Forschungen an der Uni Leipzig darauf hin, dass es vielleicht gar nicht so heldenhaft zugeht in der Natur. Auch nicht in der menschlichen. Und schon gar nicht, wenn es um Futter oder Partner geht.

Denn nicht alle Kämpfenden kämpfen dann auch wie die Berserker, wie es so schön heißt. Oder gar bis zum bitteren Ende, wie das in einigen Extremformen menschlicher Gesellschaft scheinbar üblich war.

Denn augenscheinlich wirken auch noch andere Mechanismen, bei denen es gar nicht um den Sieg des Überlegenen geht (der oft genug nur der Rücksichtslosere ist), sondern um das Überleben des Individuums selbst.

Aus Sicht der Forscher an der Uni Leipzig kurz so umschrieben: Aber eine ernste Verletzung wollen sie partout vermeiden. Kosten und Nutzen einer Kampfhandlung sind abzuschätzen. Denn ein Sieg, der die eigene Überlebensfähigkeit in Frage stellt, ist ja eigentlich kein Sieg. Manchmal ist eine geglückte Flucht dafür viel besser geeignet.

Aber wie soll das funktionieren, fragten sich die Forscher um Paul Stevenson.

Denn zum rationalen Denken und Abwägen ist doch eigentlich nur der Mensch befähigt. Das Resümee, dass Paul Stevenson und seine Kollegen jetzt in der  Online-Fachzeitschrift “Science Advances” ziehen können, lautet – zumindest, was die besonders kampfeslustigen Grillen betrifft: Es gibt einen Mechanismus. Dabei werden wichtige Informationen sozusagen addiert. Ist das Maß voll, entscheiden sich die Grillen zur Flucht.

Kurios finden die Leipziger Forscher trotzdem den Umstand: Selbst der theoretisch starke Gewinner ist anschließend vor allem stark anfällig für negative Erfahrungen. Die Forscher um den Neurobiologen Paul Stevenson von der Universität Leipzig erklären diese Phänomene mit der Freisetzung des natürlichen Botenstoffs Stickoxid im Gehirn.

“Entscheidend für den Ausgang eines Kampfes ist nicht unbedingt, ob eine Grille wirklich stärker ist als ihr Kontrahent – sondern wie viel der bereit ist einzustecken”, erläutert Stevenson. “Selbst eine Grille, die blind ist oder ihre kräftigen Mandibeln, ihre Mundwerkzeuge, nicht benutzen kann, tritt zum Kampf an. Und ihr scheinbar klar überlegener Gegner gibt oft auf, ohne ersichtlichen Grund.”

Der Engländer glaubt, den Grund nun zu kennen: “Auch die eigentlich unterlegene Grille teilt aus, mit Drohgebärden, Geräuschen, Schlägen. Ihr Gegner addiert diese Informationen – bis zu einem gewissen Punkt. Ist der erreicht, beendet er den Kampf, gegebenenfalls als Verlierer.”

Im Grillenkörper werde bei jedem Negativerlebnis ein Enzym aktiviert, das wiederum ein Gas freisetze. Dieses Gas ist Stickoxid, das zum Botenstoff wird. “Dieser Botenstoff macht Tiere weniger aggressiv, auch bei Säugetieren ist das so. Die Gleichung ist einfach: Je mehr davon zusammenkommt, desto höher die Wahrscheinlichkeit der Flucht”, fasst Paul Stevenson die Wirkung kurz zusammen.

Aber wie kann man im Experiment beweisen, dass es wirklich das freigesetzte Stickoxid ist, das Tiere zum Einstellen der Kampfhandlungen bringt?

Die Wissenschaftler haben in ihren Versuchen das Freisetzen des Stickoxids bei je einer Grille blockiert. Und das Ergebnis ist recht beeindruckend: Mit der Blockade im Körper bleibt eine blinde Grille lange aggressiv genug, um als Sieger aus dem Kampf hervorgehen zu können – und selbst eine Grille mit gelähmten Mandibeln kann gewinnen. Die Treffer, die sie einsteckt, können zahlreich sein. Aber beim Kontrahenten, bei dem der Botenstoff nicht blockiert ist, ist schneller der Punkt erreicht, an dem er aufgibt.

Was macht der Gegner? Wie viel Stickoxid wird freigesetzt? Darum gehe es, so der Leipziger Forscher.

Doch in dem Fachartikel, den Stevenson und sein Co-Autor Dr. Jan Rillich von der Freien Universität Berlin verfasst haben, gibt es noch ein zweites Thema: die Phase direkt nach dem Grillenkampf.

“Normalerweise ist der Sieger besonders aggressiv und geht sozusagen gestärkt aus dem Kampf hervor”, sagt Stevenson. “Aber nicht bei einem direkten Folgekampf gegen einen neuen Konkurrenten, dann gibt er schnell auf.” Die Gleichung aus Kampf Nummer eins gelte noch immer, zumindest für eine kurze Zeit. “Die neuen Gegentreffer werden zu den bisherigen addiert.” Die Aggression, die nötig sei, um sich dem Kampf zu stellen, werde unterdrückt – es sei denn, eine Stickoxid-Blockade wirkt.

“Grillen haben also eine Strategie, der aber keine höhere kognitive Leistung zugrunde liegt, sondern eine Addition gegnerischer Reize”, fasst Paul Stevenson die neuen Erkenntnisse zusammen. “Dieser Mechanismus hat mit Stickoxid zu tun.”

Und die Leipziger Forscher stellen sich natürlich eine nicht ganz unwichtige Frage: Wie verhält es sich nun bei anderen Tieren – oder auch bei Menschen? Ist eine Denkleistung entscheidend oder sind es vielleicht auch solch simpel anmutende Prozesse?

Und wie kann die Erkenntnis nutzbar gemacht werden im guten Sinn? Denn Stevenson hält es zumindest für möglich, dass Ergebnisse wie die jetzt präsentierten irgendwann zum Beispiel bei der Behandlung posttraumatischer Belastungen eine Rolle spielen könnten, jenen bislang rein psychologisch erklärten Leiden, wie sie etwa Soldaten nach Kriegserlebnissen erfahren können.

Der volle Titel der Veröffentlichung: “Adding up the odds – Nitric oxide signaling underlies the decision to flee and post-conflict depression of aggression”.

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