Da brauchte gar nicht erst die Bertelsmann Stiftung zu kommen und mit Zahlen belegen, dass bei der Betreuung der Kinder in Kinderkrippen und Kindergärten in der Bundesrepublik und in Sachsen Einiges im Argen liegt. Auch Forscher schlagen nur noch die Hände über dem Kopf zusammen und begreifen nicht, wie man das kostbare Gut frühkindliche Bildung derart politischen Eiertänzen opfern kann. Die Wissenschaftsakademien haben jetzt so eine Art Stellungnahme verfasst.
Wenn man das so nennen kann. 120 Seiten sind keine Stellungnahme, sondern schon eine kleine wissenschaftliche Arbeit. Schon der Untertitel zeigt, dass es nicht nur um Basteln, Liedersingen und Schachspielen geht: “Biologische, psychologische, linguistische, soziologische und ökonomische Perspektiven”.
Kindheit ist ein komplexer, vielschichtiger und anspruchsvoller Prozess. Und das Seltsame ist: Je mehr man den Kindern zutraut, umso mehr lernen sie. Sie sind richtig wild darauf. Nur: Spaß muss es machen.
Oder wie es die Leopoldina, die älteste deutsche Akademie der Wissenschaften mit Sitz in Halle, erklärt: “Frühkindliche Erfahrungen beeinflussen den weiteren Entwicklungsweg eines Menschen nachhaltig. Hochwertige Bildungsangebote in der frühen Kindheit sind deshalb individuell und gesamtgesellschaftlich besonders sinnvoll.”
In der Stellungnahme “Frühkindliche Sozialisation” fordern die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina, die Deutsche Akademie der Technikwissenschaften und die Union der deutschen Akademien der Wissenschaften deshalb langfristige Investitionen in frühkindliche Bildungs- und Betreuungsangebote von hoher Qualität. Das Papier wurde am 7. Juli in Berlin vorgestellt.
“Aktuelle Forschungsergebnisse zeigen: In der frühen Kindheit gibt es Zeitfenster, in denen zwingend bestimmte Lern- und Umwelterfahrungen gemacht werden müssen. Fehlen diese, so bleibt die Entwicklung unvollständig. Manche Verhaltensweisen können dann später gar nicht mehr oder nur noch eingeschränkt erworben werden”, sagt Prof. Dr. Frank Rösler, Neuropsychologe an der Universität Hamburg und einer der beiden Sprecher der Arbeitsgruppe “Frühkindliche Sozialisation”. Dies gelte vor allem für das Lernen einer Sprache, die nicht die Muttersprache ist, aber ebenso für den Erwerb sozialer Kompetenz oder geistiger Voraussetzungen für den späteren schulischen Wissenserwerb.
In der Stellungnahme weisen die Akademien darauf hin, dass insbesondere auch die Förderung von Kindern, die in weniger förderlichem Familienumfeld aufwachsen, erheblich verbessert werden kann. Hier gelte es, rechtzeitig einen Förderbedarf zu erkennen, damit Betreuungsangebote nicht erst nach Abschluss wichtiger Entwicklungsphasen gemacht werden – und damit nicht mehr oder weniger gut greifen.
Oder ganz deutlich formuliert: Was in Kinderkrippe und Kindergarten versäumt wurde, kann in der Förderschule nicht mehr “repariert” werden. Da ist das Kind schon “in den Brunnen gefallen”. Und die Strafe heißt tatsächlich: lebenslänglich. Lebenslänglich benachteiligt.
Die Wissenschaftler empfehlen weiterhin, die enge Wechselwirkung zwischen Erbanlagen und Umwelt bei der Entwicklung eines Kindes stärker in bildungspolitische Überlegungen einzubeziehen.
Sie weisen darauf hin, dass das Intelligenzniveau eines Menschen nicht von Geburt an unveränderlich festgeschrieben ist. Vielmehr haben negative und positive Umwelteinflüsse einen bedeutsamen Einfluss auf die Entfaltung der genetischen Veranlagung eines Menschen. Gleichzeitig setzten diese Veranlagungen auch Grenzen. Das heißt, auch bei günstigen Trainings- und Bildungsmaßnahmen erreichen nicht alle Menschen die gleiche geistige Leistungsfähigkeit. Dies gelte es zu berücksichtigen, sowohl in der Frühpädagogik, als auch in der Schul- und Berufsbildung. Jedes Individuum müsse die Förderungen und die Anforderungen erfahren, die zur bestmöglichen Entfaltung seines Potenzials beitragen.
Oder aus der Zusammenfassung zitiert: “Aus der Lebensverlaufsperspektive ist es daher besonders sinnvoll, Bildungsinvestitionen für die frühe Kindheit bereitzustellen. Dies gilt für die Entwicklung aller Kinder, in besonderem Maße aber für Kinder, die mit sensorischen Einschränkungen geboren werden oder die in wenig förderlichen Umwelten aufwachsen (prekäre Familienverhältnisse, mangelhafte Betreuungsverhältnisse, Bildungsferne der Eltern u.a.). Solche grundsätzlich ungünstigen Entwicklungsbedingungen müssen frühzeitig erkannt werden, denn nur so sind kompensierende Angebote früh und damit vor Abschluss sensibler Phasen möglich.”
An der Stellungnahme waren Forscher aus den Fächern Psychologie und Neurobiologie, ebenso wie Linguistik, Pädagogik, Soziologie und Ökonomie beteiligt. Die Arbeitsgruppe hat Ergebnisse aus diesen sehr unterschiedlichen Disziplinen zusammengetragen und in ihrer Aussagekraft bewertet. Die Stellungnahme dokumentiert die Forschungsergebnisse zur frühkindlichen Entwicklung und deren Bedeutung für die Gesellschaft, die aus Sicht aller beteiligten Fächer als gesichert gelten können. Dennoch gebe es weiterhin großen Forschungsbedarf, so die Autoren. Sie empfehlen langfristig angelegte interdisziplinäre Studien. Diese sollen den Zusammenhang zwischen geistigen, emotionalen und sozialen Erfahrungen im frühen Kindesalter und der Gehirnentwicklung im Verlauf des Lebens untersuchen, sowie die Auswirkung dieser individuellen Entwicklung auf die Gesellschaft.
Mit Material der Leopoldina.
Die Stellungnahme ist frei zugänglich unter:
www.leopoldina.org/de/publikationen/empfehlungen-stellungnahmen
Der Direktlink zur PDF:
www.leopoldina.org/uploads/tx_leopublication/2014_Stellungnahme_Sozialisation_web.pdf
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