Mit bereits acht Monaten können Babys in Gesichtern lesen und zwischen einer ärgerlichen und einer schmerzlichen Mimik unterscheiden. Dabei sieht die neuronale Verarbeitung dieser Gesichtsausdrücke bei Babys anders aus als bei Erwachsenen. Diese Prozesse der frühkindlichen Gehirnentwicklung konnten erstmals in einer Studie des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften belegt werden.
Genau und schnell zwischen einzelnen Gefühlsregungen des Gegenübers unterscheiden zu können, ist aus evolutionärer Sicht wichtig für den Menschen. Es ermöglicht uns in vielfältigen sozialen Situationen adäquat reagieren zu können. So neigen wir zum Beispiel dazu, anderen Menschen, die einen schmerzvollen Gesichtsausdruck zeigen, zu helfen.
Das schnelle Erkennen von Anzeichen des Ärgers im Gesicht des Gegenübers wird dagegen mit dem inneren menschlichen “Alarm-System” in Verbindung gebracht. So nehmen wir den Ausdruck von Ärger bei unseren Mitmenschen tendenziell als persönliche Bedrohung war. Dieses Erkennen entsprechender Signale erhöht die individuelle Aufmerksamkeit. Anzeichen von Ärger schnell von anderen Gefühlsausdrücken, beispielsweise von denen des Schmerzes, zu unterscheiden, ist also von großer Bedeutung.
Vorangegangene Studien hatten gezeigt, dass Babys bereits im Alter von sieben Monaten grundlegende Emotionen wie Freude oder Angst über den Gesichtsausdruck anderer wahrnehmen. Weitgehend ungeklärt war jedoch bisher, ob Babys auch zwischen negativen emotionalen Ausdrücken, wie Ärger und Schmerz unterscheiden können.
In der aktuellen Studie konnten die Wissenschaftler erstmals belegen, dass Babys im Alter von acht Monaten bereits gut zwischen beiden Gesichtsausdrücken unterscheiden, obwohl die beiden menschlichen Gesichtsausdrücke für Ärger und Schmerz sich in einigen Bereichen sehr ähneln (z.B. in der Augenregion).
“Möglicherweise fällt diese Reifung im Gehirn der Kinder nicht zufällig mit der Lebensphase zusammen, in der die Kleinen mobil werden, erste Grenzen testen und nun öfter auch mal mit einem ärgerlichen Gesicht konfrontiert sind”, meint Manuela Missana, die die Studie am MPI durchgeführt hat.Für die Studie hatten die Wissenschaftler Erwachsene und Babys eingeladen, um ihnen Videos mit ärgerlichen und schmerzvollen Gesichtern zu zeigen. Um Aussagen über die zeitliche Verarbeitung der Gesichter im Gehirn treffen zu können, wurden dabei mittels des Elektroenzephalogramm (EEG) die Hirnströme der Teilnehmer aufgezeichnet. Zusätzlich füllten die Eltern der Babys einen Temperamentsfragebogen aus. Sie gaben Einschätzungen zum Verhalten ihres Babys in unterschiedlichen alltäglichen Situationen, z.B. beim Einschlafen, ab. Die erwachsenen Versuchsteilnehmer füllten einen Persönlichkeitsfragebogen aus, mit dem ihre Empathiefähigkeit erfasst wurde. Außerdem gaben sie eine Selbsteinschätzung zur Wirkung der Gesichter auf sie ab.
“Unsere Vergleiche der EEG-Messergebnisse von Erwachsenen und Babys zeigen erstmals klar, dass kleine Kinder diese Gesichtsausdrücke noch anders verarbeiten als Erwachsene”, erklärt Manuela Missana. “In den EEG-Kurven der erwachsenen Probanden fanden wir die typischen Amplitudenausschläge in der frühen Verarbeitungsphase, der sogenannten early posterior negativity (EPN)”, sagt Missana. Eindeutig ist auch zu erkennen, dass sich die Verarbeitung von ärgerlichen Gesichtsausdrücken etwas schneller vollzieht als die von schmerzlicher Mimik.
Bei den Babys dagegen fehlt diese frühe Verarbeitung noch. Bei ihnen ist die Verarbeitung erst in einer späteren Phase zu sehen. Auch der Vergleich der späteren Verarbeitungsphase zeigt Unterschiede zwischen den Altersgruppen. Die EEG-Kurven der Erwachsenen veranschaulichen hier, dass der Ausdruck von Schmerz intensiver verarbeitet wird als der von Ärger. Dies ist sichtbar an den Amplitudenausschlägen des late positive potentials (LPP). “Vermutlich liegt das daran, dass in dieser Verarbeitungsphase des Schmerzausdrucks mehr Evaluierungsprozesse ablaufen. Das geschieht zum einen, um die Situation und den Kontext zu deuten, zum anderen scheint der Ausdruck von Schmerz mit einer stärkeren Erregung einher zu gehen, sodass eine intensivere Verarbeitung im Gehirn sichtbar ist”, erläutert Wissenschaftlerin Missana die Befunde.Die Selbsteinschätzungen der Teilnehmer zeigen zudem, dass schmerzverzerrte Gesichter als stärker erregend empfunden wurden, als der Ausdruck von Ärger.
Anders bei den Babys: hier zeigen die Messkurven eine intensivere Verarbeitung ärgerlicher Gesichtsausdrücke an. Der Ausdruck von Schmerz wird also von Ärger unterschieden und differenziert verarbeitet. Die Aufmerksamkeitsprozesse der Babys lagen dabei verstärkt auf der Verarbeitung der Anzeichen für Ärger in der Mimik des Gegenübers.
Die aufgezeichneten Hirnantworten belegen, dass Babys wie auch Erwachsene eindeutig zwischen Schmerz und Ärger im Gesicht unterscheiden können. Dieser Befund stützt die These, dass Babys früh lernen, auch zwischen verschiedenen negativen Gesichtsausdrücken zu unterscheiden.
Es gibt jedoch nicht nur Verarbeitungsunterschiede zwischen Erwachsenen und Babys, sondern auch innerhalb der Altersgruppen. Mit Hilfe der Fragebögen konnten die Wissenschaftler zeigen, dass Persönlichkeitsmerkmale einen Einfluss darauf haben, wie ärgerliche Gesichter verarbeitet werden. Insbesondere die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme, dass heißt die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, scheint hier ausschlaggebend zu sein. Bei den Babys korrelierten die durch den Fragebogen ermittelten Fähigkeiten zur Selbstregulierung mit der Sensitivität für ärgerliche Gesichter: Je besser die Babys also ihre eigenen Emotionen regulieren konnten (z.B. sich selbst beruhigen), desto höher war ihre Sensitivität für mimische Anzeichen von Ärger.
Die Hirnprozesse, die durch die Wahrnehmung von Schmerz und Ärger in Gang gesetzt werden, scheinen sich demnach stark zwischen Erwachsenen und Babys zu unterscheiden. Dies deutet, dass deren Auswirkungen auf bestimmte Prozesse, die unter anderem mit Empathie in Verbindung gebracht werden, noch nicht ausgreift sind, obwohl die grundlegende Fähigkeit, zwischen den Ausdrücken zu unterscheiden, bereits bei Babys vorhanden ist.
Quelle: Manuela Missana, Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften
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